Von Menschen und Orten

Muss man in die Ferne ziehen, in eine möglichst fremde, grosse Stadt, um aus der Distanz die Kindheits-Landschaft, das Herkommen, die ehemalige Dorfgemeinschaft ins Gedicht zu stellen? Für mancherlei Bodensee-Lyrik (zum Beispiel) gilt das. Für Gedichte über Bündner Täler. Für Texte über Innerschweizer Täler oder Passlandschaften. Und jetzt eben, kürzlich, für Kurztexte übers Appenzeller Mittelland – das ausserrhodische Hangland und die dörfliche Gesellschaft …

Aus dem Kindheitsareal Schönenbühl in Speicher ist Heidi Hörler über die Bildungsstationen St. Gallen, Hamburg, Mailand nach Berlin gezogen, Heirat, Pfarrersgattin Hachmann-Hörler, Kinder, Enkel, Gesangsunterricht und Kirchenkonzerte. Ihr zweites Buch (orte-Verlag, Schwellbrunn) reiht Gedichte, welche hiesige Leserinnen mühelos in Speicher und Umgebung verorten, allerdings um vierzig und mehr Jahre zurückdatieren müssen.

Dorfbilder, Kindheitsbilder, Herbstbilder

Bereits das Verzeichnis der Abteilungen und die Text-Überschriften werfen einen zurück in die Jahrzehnte und die Lebensumstände eigenen Aufwachsens. Die Berufsbilder tun es (Dorfschmied, Bahnstreckenwärter), die Familienkonstellation. sowieso die Erziehung und Schulbildung auf dem Lande, die Obliegenheiten eines Kindes in den 1960er-/1970er-Jahren, der begrenzte Rayon des Erfahrungs- und Lebensraumes. Unteres Bendlehn, die Goldach, Sonnenbad, Wasserlust, Heimweg. Der Grossvater und das halbwüchsige Ich.

Wir machen uns auf den Heimweg.
Bei der Papeterie Streiff
hängt ein Glaskasten
mit bunten Kugeln darin.
Grossvater steckt ein Geldstück
in den Schlitz,
dreht an der Kurbel
und in seine Hand fallen
fünf Kugeln und ein Ringlein.
Er gibt mir die rote Kugel
und das Ringlein.
Ich darf keinen Kaugummi essen,
kein Ringlein tragen.

Auszug aus dem vier Seiten langen «Grossvater»-Porträt (S. 58-61).

Unvergessen, solchen Erinnerungen gegenüber, die Bildnisse von Bürgerheim-Bewohnern, welche Johannes Schläpfer per 2008 innerhalb der Reihe «Lebensgeschichten im Hof Speicher» herausgegeben hat. Heidi Hachfeld-Hörler, Tochter des Heimleiter-Ehepaars im Schönenbühl, hat in einer Broschur (damals:) Insassen / (heute:) Pensionäre auferstehen lassen – ergreifende Lebensschicksale benachteiligter Menschen. Beiläufig erfahren wir: vom Platz, wo die Autorin aufgewachsen ist, «kann man fünf Dörfer sehen, den Alpstein und die Bregenzerberge». Das Altersheim ist 2008 aufgelassen worden, die Sichtweite ist geblieben.

Im neuen Bändchen begegnen wir wieder Plätzen und Menschen, dem Schaugenbädli, dem Klösterli Notkersegg, der Herisauer Heil- und Pflegeanstalt; begegnen Sonderlingen, dem Tierarzt, den Dorfschullehrern, einer «Alten Jungfer». Daneben Singsang-Strophen aus nichts als Flur- oder Familiennamen. Wenn sonstwo Aussagen unvollständig sind, abgebrochen, verstümmelt, so ist damalige Denkart imitiert, aber unsereinem, uns Lesern, ist damit auch nahegelegt, die Leer- oder Bruchstück-Stellen zu komplettieren. Eigenleistung! Typisch für ergiebiges Gedichtelesen – und indirekt nochmals eine Empfehlung für Hachfeld-Hörlers Lyrik.

Rainer Stöckli

Heidi Hachfeld-Hörler: Und überhaupt. Gedichte. Schwellbrunn: orte-Verlag, 2016. 96 Seiten, 28 Franken.

Die Autorin wird ihr Buch im September in Speicher vorstellen.

 

Dorfbild

manche Häuser
stehen in sonnigem Reigen
andere am Nordhang
allein

manche reden miteinander
andere schweigen
manch eines ist stolz
ein anderes gebeugt

nicht alle sehen
den Kirchturm
aber alle hören
die Glocken

selbst die unten
am Bach