Die Ostschweiz erlesen

Gibt es das: literaturwandern? Kann es als Wort gelten fürs Unterwegssein zu Fuss, mit hellwachem Blick auf unseren Lebensraum und mit extensiven Kenntnissen des literarischen Schaffens in ebendieser Grossregion, in hiesig-unserigen Landschaftskammern? Hier geh, Wanderer, hier kehr ein, Wandererin, hier sieh dich um und lies, hier ruh dich aus …

Solcherart gestimmte Anleitung zum Literaturwandern gibt es. Länger schon für landesweit berühmte Gegenden, Städte, Stätten. Seit 2014 – Zopfi & Zopfi sei Dank – gibt es die Inspiration, zwischen oberem Zürichsee und hinterstem Glarnerland literaturzuwandern. Und seit diesem Frühjahr – Zopfi & Zopfi sei Dank – gibt es die Verführung, im Sankt Gallischen, in beiden Appenzell, am Alpstein unterwegs zu sein, um innezuwerden, da sei geschrieben / dort erzählt / hier erfunden / anderswo gedichtet worden. Hierorts habe eine Autorin Kindheit verbracht / ein Schriftsteller Berufsjahre verlebt / habe einer Romanglück erfahren / habe eine Verlust erlitten. An Hans Boesch ist zu denken, an Ulrich Bräker, Heinrich Federer, Elisabeth Gerter, Hans Rudolf Hilty; an Frieda Hartmann, Arthur Honegger, Niklaus Meienberg, Peter Morger, Carl Seelig, Regina Ullmann – und an viele andere; an deren Lebensumstände oder schriftgestelltes Schaffen; an echte, an nachgebildete oder eben (wie oben angedeutet) fingierte Ostschweizer Schauplätze.

Zopfis Itinerar leitet von Amden aus ins Toggenburg, erreicht über die Schwägalp das Appenzeller Hinterland, führt durchs Fürstenland nach Wil, kehrt übers Neckertal einerseits in die Dörfer Herisau / Trogen / Heiden / Gais, schweift ab auf den Gäbris und ins Wildkirchli, visitiert andererseits St. Gallen, Stadt und Umgebung, wendet sich schliesslich ins Rheintal – bis an die Schwelle zum Werdenbergischen. Stichworte für Ganzkapitel oder Wanderabschnitte «liefern» Hügel und Wälder, Bäche und Brücken, Flusslauf (Thur, Sitter, Glatt) und Blauer Schnee, Kirche oder Rebberg, eine Einsiedelei, aber auch Märkte, Stickerei und Rotes Kreuz, Kaisermanöver (1902) und Mordgeschichten (erzählt von J. Chr. Heer oder von Walter Züst).

Im Fortgang des Buches (gut 350 Seiten) begegnen (wörtlich:) auf Schritt und Tritt Reisende, Berichterstatter, Touristen, Kurzaufenthalter – dementsprechend Gastgeber, Wirtinnen, Geschäftsleute wie Metzgermeister und Bäckersfrau. Kartenausschnitte, Routenempfehlungen, Tipps für Essen / Stationen / Unterkunft komplettieren jeden Wandervorschlag; Farbphotographien zeigen eindrücklich Weitsichten, schneiden Details aus (Wirtshausschilder, Bürgerhausfassaden), machen auf besondere Landstriche aufmerksam. Bald auf Idyllisches, bald auf Majestätisches. Im Übrigen erinnern historische Bilder an Lebensumstände vergangener Zeiten, schwarz-weisse Porträts an Figuren.

Fehlt etwas, fehlt jemand? Mangelt’s an Inachtnahme des lyrischen Genres, des dramatischen Faches?  – Noch in der umsichtigsten Anthologie vermisst man dies und das, bleibt literaturgeschichtlich der oder jene unerwähnt. Wer Zopfi & Zopfis Wanderanleitung, die ja nicht zuletzt Anleitung zum Beobachten ist (auch dazu, sich kundig zu machen) – wer das Handbuch wohlwollend taxiert, behilft sich, wo ein literarisches Denkmal oder ein Name fehle, anhand von Titeln, die kleingedruckt – Echo aufs ausgiebig Zitierte – unter den Rubriken «Weitere Quellen» oder «Weitere Literatur» vermerkt sind: nochmals Horizont-Erweiterung zu einem jeden der 15 Kapitel, noch ein Mal Lese-Einladung – noch und abermals der Aufruf, im belletristischen Bestand einer Region zu stöbern. Wie anders begriffe man Heimat, gewänne man Bezüge zu ihrer Geschichte!

Christa und Emil Zopfi: Sonnenlüfte atmen, Rotpunktverlag Zürich 2017, 42 Franken

Lesung: Donnerstag, 18. Mai, 20 Uhr, Stadtbibliothek Wil