Literaturland
Otto Ascher
Wo die Lichter sind, ist die Schweiz!
Unter dem Titel Fast ein Appenzeller erinnert sich Otto Ascher 1999 an seine Jahre als Flüchtling in der Schweiz 1938–1945. Nachstehend die Schilderung, wie die Familie an Weihnachten die Grenze überquert, dem Flüchtlingshelfer Hauptmann Paul Grüninger begegnet und in Schönengrund interniert wird.
Am 12. November packt Mutter das Notwendigste in eine ‹Aktentasche›, und Vater fährt mit dem Zug Richtung Westen, Richtung Schweiz. Irgendwie will er versuchen, über die Grenze zu kommen. Es gibt unzählige Gerüchte und ebenso viele Tips. Die Gefahr für alle jüdischen Männer wird immer grösser. Die Nacht zum 10. November hat gezeigt, wohin es geht …
Nur eine Aktentasche und möglichst unauffällig und möglichst schnell weg von den noch rauchenden Trümmern der Synagogen.
Mehr als eine Woche später kommt der erste Brief von Vater. Es ist ihm auf der von Freunden beschriebenen Route gelungen, illegal in die Schweiz zu kommen. Vorläufig ist er in Sicherheit in einem Schweizer Auffanglager.
Bereits im nächsten Brief schreibt er, dass er bleiben kann und beschreibt uns mit vielen Einzelheiten, wie wir an die Schweizer Grenze fahren und so wie er über die Grenze gehen sollen.
Mutter, die immer rasch entschlossen war, packt das Wenige, das man tragen kann, in zwei Rucksäcke für uns Buben und in eine Tasche für sich. Wenig Gepäck, nicht auffallen …
Wir lassen alles liegen und stehen, die Wohnung mit dem Gangklo, die Einrichtung, die Möbel, Kleidung, Wäsche, Schuhe und was man in vielen Jahren so erworben hat. Dann noch das Modistengeschäft in der Favoritenstrasse mit allem, was drinnen ist. Mutters Stolz, in dem die Ersparnisse von vielen Jahren Arbeit stecken. Mit allem Geld, das sie hat, und mit allem Schmuck, den sie hat, ziehen wir los.
Von der Schule haben wir uns abgemeldet und sogar so etwas wie eine Abgangsbestätigung bekommen, einen besseren ‹Kaszettel mit dem Stempel drauf›. Die Schulleitungen sind seit langem darauf vorbereitet, solche Bestätigungen auszustellen.
So wie es uns Vater beschrieben hat, fahren wir in Richtung Schweiz. Nicht über Innsbruck, sondern über München, weil dort die Überwachung des Bahnhofs durch eine um ein Jota weniger fanatische und idiotische SS-Truppe geschieht als in Innsbruck.
Gegen Abend, es ist schon dunkel, kommen wir in Hohenems an. Es ist der 23. Dezember. Wir gehen gleich in Richtung des Gasthofs, den Vater beschrieben hat. Vielleicht 20 Männer, Frauen und Kinder peilen den Gasthof an. Der Wirt ist dafür bekannt, dass er, ohne viel zu fragen, seine Zimmer vergibt. Der Gasthof ist nicht sehr gross. Der Wirt teilt seine wenigen Zimmer auf, wir teilen uns mit fünf oder sechs Leuten ein Zweibett-Zimmer. Die Betten werden den Kindern überlassen, die Erwachsenen schlafen auf Sesseln, auf dem Boden, irgendwie halt …
[…]
Der Wirt vermittelt uns auf Mutters Wunsch zwei Burschen, die uns helfen würden.
Wenig später kommen die beiden Burschen. Da Feiertag ist, dürften sie frei haben. Sie setzen sich an unseren Tisch. Sie sprechen gefärbt Vorarlbergerisch, aber auf unseren Wunsch nach der Schreibe und verständlich. Eine allein reisende Frau Grünwald möchte sich uns anschliessen. Das ist eine heikle Sache, weil die gute Frau nicht die Jüngste ist und auch nicht sehr flott aussieht.
Die Burschen erklären uns den Weg und machen auch eine Skizze. Sie bekommen die Hälfte der ausgemachten ‹Entschädigung› und versprechen, auf halbem Weg auf uns zu warten. Dann würden sie uns den letzten Teil des Weges zeigen und auch den ‹Rest› bekommen. Während der Erklärung der beiden passe ich auf wie der bekannte Haftelmacher.
Es ist der 25. Dezember, zum Glück bedeckt und ziemlich düster. Als es dunkel wird, brechen wir auf und nehmen Frau Grünwald mit.
Nach vielleicht einer dreiviertel Stunde durch den Wald, genau nach der Skizze unserer Lotsen, tauchen die beiden Burschen unvermittelt hinter einem Strauch auf und zeigen uns, wie wir weitergehen müssen. Sie bekommen, wie ausgemacht, den Rest ihrer Belohnung und tauchen so unvermittelt unter, wie sie aufgetaucht waren.
Dort, wo die Lichter sind, haben sie gesagt, ist die Schweiz, und gerade auf die Lichter müssen wir zugehen, um nach Diepoldsau zu kommen. Diepoldsau liegt zwischen dem Rhein und dem ‹Alten Rhein› als schweizerische Enklave.
Die erleuchteten Gebäude kann man gut sehen und auch das grösste, auf das wir zusteuern müssen.
Dass zwischen uns und unserem Ziel der alte Rhein liegt, haben unsere Lotsen nebenbei erwähnt, aber so richtig haben wir das gar nicht erfasst. Das Gelände ist sehr hügelig und verschneit. Unsere Frau Grünwald rutscht in fast jede Mulde hinein und wir helfen ihr gemeinsam wieder herauf. Für Augenblicke überlegen wir, ob wir nicht allein weitergehen sollten. Es könnte doch jemand auf uns aufmerksam werden, ein Grenzer vielleicht, der nicht so gutmütig agiert wie der vom letzten Abend …
Frau Grünwald hat unsere Gedanken erraten und verspricht, besser aufzupassen. So ziehen und krabbeln wir weiter und kommen zum Ufer des alten Rheins. Es ist ein fast toter Arm mit ganz wenig Strömung. Am anderen Ufer liegt Diepoldsau, aber das Wasser ist ziemlich kalt.
Während wir alle noch überlegen, ob wir da durch sollen, klaube ich einen längeren Ast auf, um die Tiefe des Wassers festzustellen. Es dürfte nicht sehr tief sein, vielleicht einen Meter, und den Stecken voran gehe ich ins Wasser, Richtung anderes Ufer. Mutter traut sich nicht, mich zurückzurufen und kommt nach. Joschi hat sie auf dem Arm, und wir tragen und ziehen unseren Kleinen durchs Wasser. Frau Grünwald marschiert brav hinterher. In der Mitte des alten Rheins geht mir das Wasser bis zur Brust.
Nach endlosen Minuten kommen wir ans andere Ufer und auf allen Vieren die Böschung hinauf. Wir helfen einander, bis alle oben sind. Die Kälte und Nässe merkt man gar nicht, die Aufregung wärmt in dieser Lage. Wir sind alle waschelnass, logischerweise. Zum Glück ist es nicht mehr weit zu dem hellerleuchteten Gebäude. Wir sind nach 10 Minuten vor der Türe.
Wir sind kaum im Gebäude drinnen, und schon werden wir von den Lagerinsassen in Empfang genommen. Sie sind nicht erstaunt und nehmen uns eigentlich mit Routine in Empfang. Man zieht uns die nassen Sachen aus, und jetzt erst beginnen wir zu frieren. Die Leute hüllen uns in Decken, reiben uns ab, und wir bekommen Schlafplätze auf Strohsäcken. Jemand drückt mir ein Stück Brot in die Hand und einen ungewohnt schmeckenden Käse. Noch während ich kaue, bin ich schon eingeschlafen.
Am nächsten Tag bekommen wir Frühstück und trockene Sachen zum Anziehen. Unsere eigenen Sachen sind noch nicht ganz trocken. Die Lagerinsassen sind daran gewöhnt, dass durchnässte Leute ankommen. Möglicherweise ist das Lager mit Bedacht an dieser Stelle errichtet worden. Hauptmann Grüninger, der die Anweisung zur Errichtung an dieser Stelle gegeben hat, mag sich schon etwas dabei gedacht haben.
Irgendwer hat inzwischen Vater verständigt und ihm gesagt, dass wir gut gelandet sind. Man sagt uns, am übernächsten Tag werde der ‹Hauptmann› kommen, und er werde entscheiden, ob wir bleiben können … Es sind gleichzeitig mit uns auch noch andere Flüchtlinge im Lager angekommen, die auch auf Hauptmann Grüninger warten müssen.
Der ‹Hauptmann› ist der Chef der Kantonspolizei St. Gallen und ein bescheidener und nüchterner Mann. Er hat das Elend der Flüchtlinge gesehen und sich entschlossen zu helfen mit allen Konsequenzen, die er dann später auch erleiden hat müssen.
Einem verängstigten kleinen Flüchtlingsmädchen hat er einmal gesagt: «Du musst jetzt nicht mehr weinen, jetzt bist du in der freien Schweiz.» Daran hat er geglaubt, und der freien Schweiz hat er sich verbunden gefühlt, trotz aller Bedenken …
Wir sprechen uns ab, wer was sagen soll, sobald der Hauptmann die -Leute befragen wird. Mutter meint, es wäre besser, wenn ich als ‹Kind› für uns spreche, und wir legen uns unsere Sprüche zurecht.
Dem Hauptmann erkläre ich dann, dass wir nur auf der Durchreise sind, weil wir in Kürze eine Einreisebewilligung in die USA erwarten. Sobald diese eingelangt wäre, würden wir nach Amerika abfahren.
Hauptmann Grüninger hört sich meine Sprüche geduldig an, ohne zu unterbrechen. Er hat diese und ähnliche Sprüche bestimmt schon einige Dutzend Mal gehört und weiss genau, dass die Aussagen und Behauptungen Versuche sind, ihn günstig zu stimmen. Er weiss bestimmt, wie es wirklich um unsere Affidavit steht, beziehungsweise nicht steht …
Wie alle anderen, die etwa gleichzeitig mit uns nach Diepoldsau gekommen sind, erfahren wir noch am selben Tag, dass wir bleiben können.
Einige Tage später fahren wir nach Wald-Schönengrund, wo Vater schon seit November lebt.
Soviel ich weiss, waren wir die vorletzte Gruppe, die von Hauptmann Grüninger gewissermassen aufgenommen worden ist. Mitte Jänner sind seine Befugnisse eingeschränkt worden, und alle Leute, die später illegal über die Grenze gekommen sind, sind zurückgeschickt worden. Wenig später ist dann Hauptmann Grüninger abgesetzt und aus dem Polizeidienst entlassen worden.
Vom Lager Diepoldsau werden wir nach Wald-Schönengrund gebracht und sind wieder mit Vater vereint. In einem ehemaligen Klöppelsaal bekommen wir Quartier. In dem grossen Raum stehen vier Betten, im Vorraum ist eine Waschgelegenheit.
Das Haus gehört Herrn Schwyzer. Er bewohnt es mit seiner Haushälterin, einer Verwandten, und mit seinen zwei Töchtern.
Die Leutchen sind nicht übermässig herzlich, eher verschlossen, am Anfang …
Der Hausherr ist ein geschäftstüchtiger älterer Herr. Wie alt, ist schwer zu schätzen. Er ist ein kleiner, drahtiger Typ, eher dünn und offenbar sehr zäh. Im Fränklimachen dürfte er Meister sein. Er ist Versicherungsagent, Vermieter, Helfer bei den umliegenden Bauern in der Erntezeit und auch als Schneeschaufler bei der Gemeinde tätig. Er ist ständig in Bewegung und unterwegs.
Seine Sparsamkeit ist beeindruckend und geht über das übliche Mass schon hinaus.
Etwas oberhalb ist ein Bauernhaus, in dem auch einige Emigranten einquartiert sind. In diesem Haus geht es nicht ganz so sparsam zu, auch wenn der Bauer seine Pfeife aus der Jauche holt und fein säuberlich abwäscht, wenn sie einmal hineingefallen ist.
Unsere ‹Klöppelwerkstatt› hat mit ihren kahlen Wänden nicht viel Charme, ist aber bei den Mäusen einigermassen beliebt. Sie krabbeln die halbe Nacht herum, auf der Suche nach Fressbarem. Das gibt es im Hause Schwyzer nicht im Übermass.
Der Hausherr ist eher knausrig, schneidet seine ‹Landjäger› hauchdünn und das Brot dick.
Wir werden im Gasthof ‹Adler› verpflegt, der unten im Ort an der Strasse liegt. Weit mehr Emigranten gibt es im Gasthof ‹Krone›, eigentlich die meisten. Der ‹Adler› ist gewissermassen die Dependance.
Der Ort Wald-Schönengrund liegt praktisch in zwei Kantonen. Der Ortsteil Wald gehört verwaltungsmässig zur Gemeinde ‹St. Peterzell›, eine schwache Gehstunde weit weg, und liegt im Kanton St. Gallen. Der Kanton St. Gallen nimmt Flüchtlinge auf. Der Ortsteil Schönengrund liegt auf der anderen Seite eines Baches, über den eine Brücke führt. Auf der anderen Seite ist schon der Kanton Appenzell. Der Kanton Appenzell nimmt keine Flüchtlinge auf …
Der kleine Kanton hat seine Eigenheiten, und die Appenzeller auch. Der Kanton liegt inmitten des Kantons St. Gallen, er ist praktisch eingeschlossen. Trotz der geringen Ausdehnung, 420 Quadratkilometer, besteht er seit 1597 aus zwei Halbkantonen. Appenzell Innerrhoden hat eine überwiegend katholische Bevölkerung, Ausserrhoden eine überwiegend protestantische. So hart sind die Sitten, und so kann man eben nur ‹fast Appenzeller› werden.
Die Milchwirtschaft ist der wichtigste Wirtschaftszweig und die Kühe und jede Menge ‹Geissen› das wertvollste Gut der vielen Kleinbauern.
An die Appenzeller muss man sich gewöhnen, wie an den Appenzeller-Käs … dann schmeckt er.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 81–85.
Erstpublikation: Otto Ascher: Fast ein Appenzeller. Flüchtling in der Schweiz 1938–1945. Ein Bericht. Krems: Österreichisches Literaturforum, 1999. S. 29–36.