Literaturland
Marcel Beyer
Im Wörterbuch
Dieses Langgedicht hat sehr besondere Hauptdarsteller: nebst einem Dichter, seiner Sprache, einer wohlbekannten Landschaft – einen Vierbeiner. Einen Bläss-Mischling. Die Herausgeber haben den Text drum jeweils unter dem Etikett ‹Sprachhund› besprochen und behandelt.
I
Der Hund, mit dem ich spielte, war
ein Sprachhund, der sich im
Wörterbuch verlaufen hatte
Anfang Januar. Der Hund, mit dem
ich sprach, sah mir beim Reden zu,
sein blaues Samojedenauge starr
auf meinen Mund gerichtet,
sein anderes, sein Bernsteinauge
aber folgte meiner rechten Hand,
während der Schnee stob
und das Licht unten im Tal
vom Nebel aufgesogen wurde.
Ich hielt ihn hin. Er fror. Kein Wort
war mehr an seinem Platz.
Brennholz zerkaut. Neuschnee
vernichtet. Wie kommt der
Hofhund an sein Idiom? Wohl übern
Bodensee geweht vor Zeiten?
Dritter Versuch, Fragesatz: Heisst
es nun Hören oder Fassen?
So ging es zu in seinem Hundekopf,
in seinen Vorderpfoten.
Nächsten Tag Biesenlage,
Rachenfieber, trockene Zunge, duuch.
II
Man muss dem Hund, dem Sprachhund
hier, als vorsichtiger Dealer
gegenübertreten. Die kleinste Prise
Hochdeutsch wirkt
auf ihn wie eine Droge, und ist er
erst einmal auf den Geschmack
gekommen, hängt alles nur
von der geschickten Kommasetzung
ab. Ein Hund lernt spielend Schal und
Halstuch unterscheiden, lernt
Boots und Winterstiefel
auseinanderhalten, während er
Schnee in kalte Luft zurückverwandelt.
Hundestolz. Wer von uns beiden
Ist jetzt Logopäde, wer ist
Graphologe? Ein Mischlingshund
lernt sogar Feinheiten wie: Biechte
oder: Raureif, je nach dem, wer
mit ihm spricht. Das angeschossene
Rebhuhn hier, der Stock,
dieser erlegte Erpel – gar keine Frage,
ein Hund lernt spielend: Holz,
ein Lidschlag, und er hat gewählt
zwischen: belebt und: unbelebt.
III
Dies ist genau die Zeit, die es ihn
kostet, um ein neues Wort
zu lernen. Ein Hund von dieser
Grösse etwa. Ein bis zwei Silben.
Jetzt schiesst das Blut in seine Ohren.
Jetzt leuchten seine Augen.
Jetzt liegen die Fangzähne frei.
Die Lefzen scheuern am Gebiss,
das regt den Appetit an, setzt die
Schnauze unter Spannung,
weckt den Appetit auf unbekannte
Sprachen. Jetzt. Den angenagten
Zweig legt er vor meinen Füssen ab,
als wollte er mich fragen,
ob er den restlichen Landstrich
totschütteln darf. Unser Jagdgrund
zeigt sich zerschnitten. Unsere
Welt – man müsste Rudel sein.
Dies ist die Zeit. Dies sind
die Milben. Dies ist der Geifer. Dies
der Hang. Und dies der unsichtbare
Zaun, den so ein Hund
nicht überspringen kann. Quer
durch den Kopf verläuft der Draht.
[…]
VI
Er hielt den Kopf gesenkt nach Art
der Samojeden, nach Art
der Appenzeller wühlte er im
Schnee, die wilden Vorderpfoten
wie ein Tier beim Reden. Man muss ihm,
klar, als Dealer gegenübertreten,
als Gesten- oder Klangdosierer vor
ihm stehn, muss dunkler Tierkopf
sein und Herr der Alphabete. Aber
was heisst schon Milbenwort,
was Silbengeifer, wir hangeln
uns an solchen Hilfslinien
entlang, einmal zu oft sind Hund und
ich im Übereifer – Sprechen
ist Hecheln – in des andern Welt
geglitten. Er fand die Spur ins
Wörterbuch nicht mehr, er sang. Ich
sah ihn an, er warf den Stock,
ich zog den Schlitten. Sein
blaues Auge starr auf meinen
Mund gerichtet, betäubt und
sprungbereit. Und wie sein
Atem geht. Ein Hund in dieser
Körperhaltung, sagt man, dichtet.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 458–461.
Erstpublikation: Marcel Beyer: Im Wörterbuch. Erstdruck in: Mäddel Fuchs: Hag um Hag. Ein Requiem. Zürich: Bilgerverlag, 2010. Unpag.