Literaturland


Elisabeth Binder

Ein kleiner und kleiner werdender Reiter

2015

Nach Romanen, die an kulturgeschichtlich bedeutsamen Orten spielen – in Rom, Venedig, im Bergell – siedelt Binder ihr jüngstes Buch in einem vordergründig unspektakulären Ort an: «Gewöhnlicher als dieses Dorf, wo ich ohne Unterbruch aufgewachsen bin, langweiliger als meine Herkunft aus diesem Dorf konnte überhaupt nichts sein.»

Zwar war die Ausbeute, die ich von meinen Fahrten nach Hause brachte, jeweils klein. Eine weitere freigelegte Stelle in einem Riesenwimmelbild, ein Augenblick aus tausend Tagen. Auch ermattete ich, einmal an Ort und Stelle, immer schnell.
Und doch wurde ich jedesmal von neuem aufgeregt, wenn ich mich dem Dorf näherte. Als kehrte ich zu einer noch längst nicht erschöpften Ausgrabung zurück, und mit dem entsprechenden Finderfieber.
Als sage eine Stimme: «Warm, warm.»
Wie damals, wenn wir bei häuslichen Versteckspielen dem Suchenden kleine Hilfestellungen gaben: «warm», wenn er in die Nahe des versteckten Gegenstandes kam, «kalt», wenn er sich wieder davon entfernte.

Freudige Gefühle schon, wenn ich, von Nordwesten kommend, über einen Ausläufer des Seerückens ins Thurtal hinabfahrend, im Süden wieder den Säntis sah. Der dann näher und näher kam. Bis er hinter dem Dorf stehen blieb als Wappenzeichen.

Den Säntis, unverrückbar wie er dastand, empfand ich zunehmend wie einen Verbündeten.
Anders als in meiner Kindheit, wo er mich wenig kümmerte. Nur ab und zu bei Föhn, wenn er so nah heranrückte – «zum Greifen nah», wie die Mutter immer sagte –, dass man auf dem Gipfel das Haus und den Sendemast erkennen konnte.

Dabei erschien er mir seltsamerweise noch höher geworden. Irgendwie auch herrlicher.

Ein Göttersitz, ein Olymp!, sagte ich zu meinem Freund, als wir wieder einmal auf diese höchste Instanz der Landschaft zufuhren und ich den Eindruck nicht loswurde, es träfen uns von dort, sobald wir in die Reichweite der Felswelt kamen, erwartungsvolle Blicke.
Sicher, es gab auch Tage, wo er verborgen war in Dunst, in Wolken, oder halb verborgen, oder wo er zwar zu sehen war, aber ganz stumpf erschien. Freudlos mit sich selbst beschäftigt.

Während er an einem anderen schön gestimmten Tag so bezogen schien auf die Landschaft, die er überragte, und auf das Leben in ihr, dass ich auf einmal überwältigt wurde von der fast übermenschlichen Vision, es sammle sich in der Landschaft bis zur himmelhohen Bergkulisse das ganze Leben: unser ganzes Leben, Hügel auf Hügel – verborgen die Täler, die Trauerzeiten – und in etwas Herrlichem gipfelnd.

Dagegen erschien mir der Seerücken, der im Norden das Thurtal und unseren Blick in diese Himmelsrichtung begrenzte, noch immer gleich verschlafen.
Gleich wohl nicht: Denn damals wussten wir zu jeder Zeit und lebten auch von diesem Wissen, dass wir nur über den Seerücken zu fahren brauchten mit dem Auto, um in zwanzig Minuten am Wasser zu sein. Dass wir, nachdem wir seine stille ländliche Welt durchquert hatten, auf einmal – unwillkürlich lächelnd vor Freude – den blauen Spiegel des Sees vor uns sahen: den endlos weiten, manchmal fast ans Meer erinnernden Bodensee oder den kleinteiligeren, mit Buchten, Halbinseln, Seearmen landschaftlich verspielten Untersee.

Und dahinter Deutschland. Deutschland, das sich staute am anderen Ufer, mit seinen sanften Hügeln, endlos hintereinander gestaffelt, zwischen denen es so viel Platz zu geben schien.
Keine schönere Hoffnung wie Italien. Aber eine Horizonterweiterung an schönen Sommerabenden. Eine Landschaft, über der es wie auf unserer Seite Abend wurde, und doch ein bisschen anders, grossräumiger, romantischer zwischen den weitgeschwungenen Hügeln, die in einem so tiefen Frieden lagen –

Dass es ihm wie ein Spuk vorkomme, dass da einmal Krieg gewesen sei, vor noch gar nicht langer Zeit, dass man aus dieser Landschaft einen Angriff befürchtet habe: «Der Angriff wird im Morgengrauen erwartet.» (Der Vater.)
Die Landschaft sei ja immer diese weite friedliche gewesen, es habe ja nie an der Landschaft gelegen. (Die Mutter, beinah ungehalten, nicht wegen dem Vater, aber, offenbar noch immer, wegen diesem «schrecklichen Krieg», an den sie nicht erinnert sein wollte.)
«Da hast du recht, an der Landschaft hat es nicht gelegen …»

Bruchstücke eines Gesprächs, das ich gerade wieder zu hören glaubte.
Was hätten wir getan ohne den Bodensee, den Untersee, den Seerhein bei Gottlieben.
Ohne die Sommerabende am See: das Baden, Schwimmen. Ohne das Rudern auf dem See. Ohne das abendliche Picknick am See, das Sitzen am See und Auf-den-See-Schauen, Nach-Deutschland-Hinüberschauen.
Ohne den rötlichen Widerschein auf dem abendlichen Wasser. Die Enten und Schwäne. Die Möwen im Abendhimmel.
Ohne den verträumten, Landschaft, Wolken, Segelschiffe widerspiegelnden See.
Ohne den von einer frischen Brise gekräuselten See.
Ohne den windbewegten, mit seinen Wellen ans Ufer schlagenden See.
Ohne den von einem nahenden Gewitter aufgepeitschten See, den auf einmal erregt gehenden Sturmwarnungen rund um den See.
Ohne den, ein einziges Mal allerdings nur, in jenem berühmten kalten Winter, zugefrorenen See, auf dem man Schlittschuh laufen konnte oder zu Fuss gehen, trockenen Fusses hinüber zum deutschen Ufer.
Ohne Konstanz, wo es das Fotogeschäft HEPP gab, Kultort geradezu für unseren Vater.
Ohne Meersburg, mit der Fähre von Konstanz in zwanzig Minuten zu erreichen. Meersburg, so südlich hell am nördlichen Ufer liegend. Mit seinem Schloss, dem neuen und dem alten. Wo die Dichterin Droste bei ihrem Schwager, dem Freiherrn von Lassberg, zu wohnen pflegte.
Meersburg. Wo es vor allem die Mutter hinzog. Und von wo wir dann auch nur den Säntis sahen, aber durch die Weite des Sees getrennt – wie Entflohene für einen Nachmittag.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 327–329.

Erstpublikation: Elisabeth Binder: Ein kleiner und kleiner werdender Reiter. Spuren einer Kindheit. Unterstammheim: Amato Verlag, 2015. S. 93–97.