Literaturland


Johann Georg Birnstiel

Unterwegs mit dem Landsgemeindedegen

1919

Im Alter hielt der Pfarrer und Schriftsteller Birnstiel Rückschau auf sein Leben. In besonderes Licht stellen wollte er seine «sieben guten Appenzeller Jahre», den Dienstantritt in Schönengrund. 1882 hatte Birnstiel seine «Pflicht und Schuldigkeit» versäumt, an der Landsgemeinde teilzunehmen; im folgenden Jahr aber sei er, obzwar «nur ein Halbwollener», von einem «Häuflein Eingeborener» mitgenommen worden.

Wohlgemut schritten wir über grünes Land gegen Waldstatt zu, an zartknospenden Blütenbäumen vorbei. Der Frühling lief mit. Er war unter den sich mehrenden Wanderscharen der rechte Stimmungmacher. Ich kann mir nicht vorstellen, dass im Herbst, wenn die Wiesen sich entfärben und tausend Todesmale sich auf Wald und Felder legen, der Landsgemeindegeist mit so weit ausholenden Schritten gezogen käme. Wenn man ein Neues will für Volk und
Vaterland, so muss es Frühling sein. Es war denn auch viel Lenzhaftes bei denen, die, aus allen Gegenden des Hinterlandes zusammenströmend, nun zum Hundwilertobel eifrig plaudernd und gestikulierend niederstiegen. Ihre alt- und neumodischen Kirchenhüte und -röcke erzählten vom Winterdunkel im muffigen Kleidertrog und liessen als Opferrauch ihre Kampfer- und Moschusdüfte der allbefreienden Frühlingssonne entgegensteigen. Da und dort marschierte ein altes Appenzellermandli, sein tabakduftendes Lindauerli noch sorglich in den Falten des Rockes bergend, mit dem Rosmarinstengel oder dem Blütenzweig zwischen den Zähnen dahin. Und wie sie zu viel Hunderten mit schwerem Männerschritt über den Boden der uralten Tobelbrücke trampten, da mag der Holzbau, der den gähnenden Abgrund überspannt, von weitem den Eindruck eines an Felsen hängenden Immennestes gemacht haben, darinnen ein mächtiges Summen verkündet, dass ein Völklein seine brüchige Burg verlassen und, in blaue Lüfte stossend, Neuland suchen will.

Es war eine Freude, im Flussbett des aufmarschierenden Bürgerheeres als Steinchen mitgeschoben zu werden, ungesehen und doch selber immer Neues sehend. Da kamen an Waffen und Gewändern Jahrzehnte und Jahrhunderte zu Wort. Da klangen alle Nuancen des Dialektes durcheinander. Hier fesselte eine interessante, scharfgeschnittene Appenzeller-Physiognomie mit Hakennase und stark vorspringendem, glattrasiertem Kinn, und andernorts dominierte im Haufen das zünftige Ratsherrengesicht oder der Sticker-, Krämer-, Fabrikanten- und Kleinbauerntyp. Da waren nicht bloss Graubärte und Blassköpfe. Das ganze junge Geschlecht war mit auf dem Weg. Gezwungen oder freiwillig? Das habe ich nicht ergründet. Hundertmal aber habe ich mir seither gesagt und fühle es heute mehr als je: Wo das Jungvolk eines Landes in politischen Dingen nicht freudig und willig mittut, da hat irgendwo die Demokratie ihre kranke Stelle. Eine Jugend ohne Ideale, ohne tatbereiten Freiheitsdrang, ohne politisches Interesse, ist keine Jugend. Ohne sie ist aber auch die Schweiz nicht im Vollsinn Schweiz.

Noch ein anderes fiel mir ins Auge und erweckte Freude. Was da in der Morgenfrühe in gemessenem Schritt die Strassen gezogen kam, das war, ob jung oder alt, so recht eigentlich ein Arbeitsvolk. Schwere, schwielige Hände, verwerchete Leiber, bleiche Wangen, aber auch wetterbraune, harte Gesichter, faltige Stirnen redeten laut davon und erzählten jedem, der es wissen wollte, dass da ein Volk seinen Sonntag habe, das sich seine Werktage und den Kampf ums Brot recht sauer werden lasse. Gemeingut aber schafft Gemeingeist. Kommt erst einmal eine Zeit, wo Geister und Hände, Muskeln und Gedankenkräfte nicht so einseitig wie heute dem Götzen Mammon und dem Egoismus dienen, sondern in treuer Arbeitsgemeinschaft das Wohl des Ganzen suchen, wo keiner den andern ausbeutet, jeder aber dem andern dienen will, dann muss es nicht nur im Ländlein unter dem Säntis, sondern im ganzen Schweizerlande tagen.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 517–518.

Erstpublikation: Johann Georg Birnstiel: Aus sieben guten Jahren. Appenzeller Erinnerungen. Basel: Helbling & Lichtenhahn, 1919. S. 107–110.