Literaturland


Werner Bucher

Hundwiler Höhi

1989

Wie eine Frau
liegst du da,
ganz offen, ganz nackt, ein
Versprechen fast,
zur Linken die Felsen des Säntis,
rechts die sanftere Waldstatt,
zwei Geliebte, die deinen
struppigen Schoss nie erreichen, so
sehr du von beiden träumst. Aber
ich bin jetzt da, erzähl dir von Tschernobyl,
von Raketenabwehr-Systemen &
von jener Frau, die ganz anders ist. Was,
du wirst eifersüchtig, schüttelst
das Weiss des Schnees von deinen mütterlichen Brüsten
& sorgst dafür, dass
die Wirtschaft auf deiner rechten Brustwarze
heute geschlossen bleibt? Ich
nehms dir nicht übel, trotzdem
sinds Bienen & Hummeln, die
summen & selbst die Kampfflugzeuge
(der Schweizer Armee) übertönen, denen der
Säntis (nicht bloss zu meinem Leidwesen)
gelegentlich gehört. O,
wie ich dich bewundere & weiss
auch heute ist Glück durchaus
möglich, in all den Höfen
auf deinen herrlichen Flanken, hin
& wieder bedrängt vom getöteten Schnee.
Wie eine Frau liegst du da,
ganz nackt & ganz offen, ein
Versprechen in den Sommer hinein
– &, auf einmal ist deine Eifersucht
weggewischt & von allein
öffnete die fröhliche Wirtin ihre Tür.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 55.

Erstpublikation: Werner Bucher: Einst und jetzt und morgen. Gedichte. Zürich: Pendo-Verlag, 1989. S. 33.