Literaturland


Werner Bucher

Von einem Dorf

2005

Es ist der heilige Michael, der
euch alle für ein Schnäppchen
& mit seiner einmaligen Ausstrahlung
& zur Freude Gottes
Schwung ins arm-
selige Leben gebracht
& wenigstens in euren Köpfen
für einen Moment
aus so grosser Not
erlöst hat. In
eurem Dorf wollte er fortsetzen, was der heilige
Franz in seinem Assisi begonnen
& nie (wem würd’s erlaubt!)
vollends beenden durfte. Auch
hätte dieser Heilige bei euch
mit Lerchen, Braunkehlchen, Feldhasen,
Neuntötern, Fröschen, Schmetterlingen
& Helikoptern geredet, über-
strömt von seiner unendlichen Liebe & Güte
zu jeglicher Kreatur
& nebst seinen Hecken, seinen Biotopen
& seinem umwerfenden Charme
hätte er als Garant für eine
gewaltige Zunahme des Tourismus’
ordentlich viel Geld
in sämtliche Kassen gebracht, wär’s
nicht von Teufeln umgetriebenen Menschen
– wie schlimm, wie beklagenswert! –
gelungen, den grossen Mann
aus eurem
von ihm
auserwählten Dorf
zu vertreiben, bevor
er das geplante Schloss
samt Schlosskapelle & harten
Betschemeln bezog. Geregnet

hätte es GELD, GELD, GELD:
für den demütigen Bauern, der nobel
& grosszügig aufs gesetzlich ver-
ankerte Vorkaufsrecht für viel Boden
(trotz äusserst günstigsten Konditionen)
verzichten wollte, damit längst aus-
gestorbene Tiere zurückfinden
auf den Hügel hoch über dem Dorf
& nicht fünfmal pro Jahr nach einem
Grasschnitt[1] Gülle[2] ausgeschüttet
wird, die Vögeln, Feldhasen & Alpen-
krokodilen gar nicht bekommt, auch
für den Gemeinderat in corpore
& den Höchsten weit & breit
hätte es heiliges GELD geregnet, aller-
hand Spielchen gaben sie durch, damit
der von Gott geliebte Mensch bei euch
endlich, endlich eine Bleibe fände, sämt-
lichen Bewohnern & allen Bürgern
wäre nichts als Wohlstand ins Haus ge-
purzelt, falls sie die einzige Bedingung des
Heiligen befolgt hätten (& ums Leben gern
wollten sie’s tun), diese simple nämlich:
mit der (vom uralten, zur Schildkröte
mutierten Papst gesegneten) rotschwarzen
Fahne nicht allein am Ankunftstag des
Heiligen, sondern jede Woche dreimal,
Choräle singend, mit Weihrauchkübeln durchs
Dorf zu ziehn, entzückt & fiebrig, weil der
heilige Michael samt seinem Erzengel in
ihrem Dorf weilt, begleitet vom begeisterten Pfarrer
mit seinem im Sog des heiligen Helikopters
flatternden Rossschwänzchen.
Zwei, drei böse Buben wollten das nicht, sie
boten Widerstand, setzten sich
für altmodische Gesetze ein, die nichts
als überflüssig & reine Schikane sind
& Steuersenkungen verunmöglichen. Gut,
den von Neid erfüllten Buben
zuerst kein Brot mehr zu liefern
& sie hernach aus dem Dorf zu verjagen
wie sie zuvor den Heiligen
aus dem Dorf
verjagt haben.
Mögen sie doch anderswo
zu einem See runterblicken, zu
eben erblühten Wiesen hinauf, ihre
Poetik bringt niemals
Aufschwung, niemals
Wachstum, nicht
mal ein paar Paparazzi. Schlechte
Steuerzahler sind sie ohnehin gewesen, &
falls […] die bösen Kerle
irgendwann
& frech wie sie sind
zurückkehren, um ausgerechnet
auf dieser Wiese
ihre Freude in Worte
zu verwandeln
& den Heiligen, sollte er
von neuem auftauchen,
resolut daran zu hindern, mit
Vögeln, Fischen & Hasen
& anderm Getier
zu reden
& gemeinsam mit ihnen
Gott zu preisen,
dann fährt hoffentlich
der vierschrötige Bauer (der auf so
viel Boden verzichtet hätte) mit
seinem Traktor vor, steigt
von seinem Ungetüm herunter
& knöpft die Buben am Waldrand
an Bäumen auf, solange
es noch Bäume gibt. […]
Unvergessen
bleibt’s in den
vom sanften Michael
entzückten Herzen, dass
der drittgrösste Fan des Heiligen
SEINE rotschwarze Fahne
salutierend
auf Halbmast
herunterzog, weil
der Heilige
bei Nacht & Nebel
& fürchterlich beschimpft
von den elenden Buben
in ein freundlicheres Dorf
floh, & während
der Fan beim Herabziehen der
Fahne riesige Tränen zerdrückte, ver-
fluchte er zugleich sämtliche
grüngefederten Menschenvögel, um
Stunden später
vor Erregung
notfallmässig
ins Spital eingeliefert zu werden. Nie
wird der arme Kerl
verständlicherweise
Grünen in seiner
überdimensionierten Küche
ein Menü zubereiten. VISIONEN müs-
sen vielmehr in seiner Gaststube
& in sämtlichen Häusern des Dorfes
geboren & umgesetzt werden, damit neue
HEILIGE
auf alle noch nicht
zubetonierten Hügel sich niederlassen
& als ERLEUCHTETE
fürs Dorf beten, zudem
einen Sportplatz sponsern
& der Welt zurufen: Kommt zu uns, bei
uns wohnen die neuen, von
allen Kontinenten & Ländern
ersehnten Menschen, sie
lehren uns beten & Geld verdienen
& unser grosses Glück zu geniessen. Wer aber
nicht spurt, schadet
dem Fortschritt, dem
gesunden Menschenverstand
& der Vermehrung des Geldes
& wird in unserm Dorf nie eine Bleibe erhalten.

Darüber spotten ein paar, verstehen
vor lauter Dummheit nicht, warum
gesunder Menschenverstand
nicht vor Gesetzen
& vor vermeintlichem Recht kommt, Ge-
setze sind rollend, dies weiss die
Nussgipfelerfinderin, &
die grünen Spinner
bremsen ohnehin pausenlos, was
wachsen soll. Mich
stimmt dies
heiter & froh, gern
blick ich zum ausgetrockneten Weiher
oder auf die von der Sonne
braungebrannten & durstigen Matten, mit
jedem Strahl wächst
meine Zuneigung zu euch, sämtliche Reden
von Gemeinderäten
gehören endlich
in einen professionell aufgemachten
Sammelband
& dieser hierauf in jede
Haushaltsapotheke.
Heilige
spazieren halt
trotz anderslautender Gerüchte
nur einmal innerhalb
hundert Jahren
durch ein Dorf.
Einmal, & hernach nie wieder …

[1] Vor dreissig, vierzig Jahren wurde in der Schweiz nur zweimal im Jahr Gras gemäht, beim Heuen und Emden. Heute bringt der Boden zum Glück mehr, was dringend nötig war. Heutige Turbokühe brauchen im Vergleich zu ihren längst in Schlachthöfen gelandeten Vorgängerinnen geradezu Unmengen von Heu oder Silofutter und produzieren dafür Milch im Überfluss.
[2] Schweizerdeutsch für Jauche


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 504–508.

Erstpublikation: Werner Bucher: Den Fröschen zuhören, den toten Vätern. Gedichte und Buchersche Elegien vom Schloss Heidegg. Zürich: Rauhreif Verlag, 2005. S. 95–100.