Literaturland


Walter Robert Corti

Bauen wir eine Welt, in welcher die Kinder leben können

1944

Der Aufruf (hier gekürzt), den Walter Robert Corti 1944 in der Zeitschrift Du veröffentlichte, führte zwei Jahre später zur Gründung des Kinderdorfs Pestalozzi in Trogen.

Aber die Stunde der Schweiz steht erst noch bevor. Wenn einmal die Kanonen schweigen und die Menschen wieder zu den Flugzeugen aufschauen können, werden Millionen von Kindern weiter unsere Hilfe nötig haben. Wir können nicht allen helfen, aber wir können vielen helfen. Tausende mögen wieder in den Heimen und in hilfsbereiten Familien untergebracht werden. Dort werden sie genährt und gekleidet. Man hat wohl auch beobachtet, dass sie im allzu brüsken Wechsel des Milieus verbogen und verzogen wurden. Es gibt eine ungesunde, eine sentimentale Hilfe, wo sich der Helfende wichtiger wird als der Hilfsbedürftige. Daraus gilt es entschlossen zu lernen.

Was wir hier vorschlagen, möge als freundliche Anregung dienen. Zerstreut im ganzen Lande stehen Militärbaracken, die oft recht wohnlich eingerichtet sind. Ein grosser Teil von ihnen wird mit dem Kriegsende zu neuer Verfügung freiwerden. Würde man sie auf einem klimagesunden und übersonnten Areal zusammenstellen, ergäben sie insgesamt wohl ein stattliches Dorf. Ein weltoffener, eminent praktischer Architekt meinte, dieser Dorfbau liesse sich technisch ohne weiteres bewältigen. Auch für die Ortswahl wären wir um Vorschläge nicht verlegen. So könnten vielleicht mehr als 8000 Kinder Aufnahme finden, Waisenkinder, Krüppelkinder, Kinder, die der völligen Verwahrlosung und dem Tode entgegengehen. Die Dorfleitung möchten wir am liebsten in ärztliche Hände legen. Die Kinder würden dort mit vielen Erwachsenen zusammenwohnen, Menschen, die Kinder lieb haben, zugleich aber für die Gesamtprobleme dieser Welt offen sind. Ähnlich wie in den Landerziehungsheimen bilden etwa zwanzig Kinder mit ihrem Familienvater eine Grossfamilie. Dass die Siedlung vieler mütterlicher Helferinnen bedarf, ist selbstverständlich, dass sich diese finden werden, zweifeln wir nach einem ersten Ausblick keinen Augenblick mehr. Mit Sicherheit wird man amerikanische Mittel für die Bestreitung der Ausgaben erwarten dürfen. Je weitherziger, je grosszügiger, je durchdachter sich der Plan darstellt, desto eher darf er weitherziger und grosszügiger Hilfe gewiss sein.

Dass die Kinder kommen werden, ist auch gewiss. Es wird ihnen geholfen, sie werden genährt und gekleidet, sie schlafen in sauberen Betten, haben ihr Zimmer mit ihren eigenen Sachen. Sie gehen in die Schule, sie spielen zusammen, leibseelische Einheit übt sich in den schönen Methoden fröhlich-gesunder Rhythmik. Dass sie überhaupt wieder froh werden! Vielleicht müssten ja alle Menschen etwas mehr schlafen und mehr lachen. Die Kinder sind unter sich; nicht erschütternde, mitleidserregende Ausnahmen unter Geborgenen, nicht in märchenhafte Verhältnisse hineingeschneite Notträger. So verwachsen sie auch nicht in ungesund-schmerzhafter Weise mit den Pflegeeltern, wo sie doch wieder später in harte und ganz und gar andere Verhältnisse zurück müssen. In dem Dorfe wohnen Forscher, Pädagogen, Soziologen, Kinderpsychologen, welche die Ideologien der kommenden Zeit untersuchen, welche mit ähnlichen Gründungen anderer Länder in genauem Kontakte stehen. Was Karl Lauterer mit dem Völkerbund der Kinder vorschwebt, kann hier eine erste, grundsätzliche Verwirklichung finden. […]

Ein kranker Schnitt liegt zwischen der Welt der Erwachsenen und der Welt des Kindes. Wenn das Himmelreich in uns liegt, dann werden wir es nur finden, wenn wir aus Lehrern des Kindes seine Schüler werden. Nicht dass die Kinder die Welt regieren, nicht dass sie die Autorität zu Hause übernehmen sollen. Aber dass wir ihre grosse Lebendigkeit in uns selber bewahren und aus dieser unsere Welt wirken. Den Kindern ist das ganze Dasein tief fragwürdig, tiefer Frage würdig. In den rasenden Entschiedenheiten der Erwachsenen wird am Eigenen nicht mehr gerüttelt, das Andere aber bis zur Vernichtung bekämpft. Dass uns doch endlich auch das Eigene fragwürdig wird und wir selber zu neuem Fragen frei werden! Die Welt ist noch jung, sagt Kant, und der Mensch wird seine Bestimmung noch erreichen. Es gibt so viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben, heisst es in einem tröstlichen indischen Spruch. Wir müssen zu den Dingen hin, um ihre Ordnungen kennenzulernen, müssen die Ordnungen des Geistes und des Herzens erhellen. Bauen wir eine Welt, in welcher die Kinder leben können. Wir sind mit ihnen wieder Lernende, das ganze Dasein ist ja eine unaufhörliche Schule. Eines hilft uns immer aus allem lähmenden Streit und lässt uns weder verzagen noch ermatten: die liebende Ehrfurcht vor dem Leben.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 86–87.

Erstpublikation: Walter Robert Corti: Ein Dorf für die leidenden Kinder. In: Du 4 (1944), 8 (August). S. 52. Redaktor der genannten Schweizerischen Monatsschrift ist von 1941 bis 1957 Arnold Kübler.