Literaturland


Enrico Danieli

Januar

1998

Nach mehreren Bänden mit Erzählprosa veröffentlichte der Arzt und Schriftsteller eine Sammlung von Kalendergeschichten, nach Monatsnamen gereiht.

Füchse

Sooft wir in seiner Nähe vorbeigingen, schien es uns, seine Blicke würden uns verfolgen, nicht dass wir ihn gesehen hätten oder er uns entgegengetreten wäre, nein, es war mehr ein Gefühl des Beobachtetwerdens, das uns beschlich, wenn wir uns seinem abseitig gelegenen Haus näherten. Und, da wir fast täglich bei ihm vorbeikamen, unser Weg sein Anwesen kreuzte, kam es vor, dass selbst schon Spuren, die von seiner Anwesenheit zeugten, Tritte im Schnee, ein offenes Fenster, ein Becken unter dem Brunnenwasser, Äpfel auf dem Fenstersims, uns zusammenfahren liessen, wir uns nur noch im Flüsterton unterhielten und so taten, als wollten wir seine Ruhe nicht stören. Dies hatte auch damit zu tun, dass wir uns nur ungern an den vergangenen Sommer erinnerten. Damals, wir gingen eben diesen Weg an seinem Haus entlang, hatte er erklärt, auf zweihundert Meter Entfernung könne er selbst das Herz aus einer Jasskarte herausschiessen. Wir hatten ihn ungläubig angeschaut, vielleicht auch gelächelt. Er war im Haus verschwunden, wir hatten gehört, wie er drinnen fluchte, dann hatten wir den Lauf eines Gewehrs zum oberen Fenster herausschauen sehen, und eh wir unsere Augen und Ohren hatten verschliessen können, war ein fingerdünner Ast am Waldrand lautlos im zerreissenden Knall des Schusses auf die Erde gefallen.

Nein, mehr wollten wir nicht sehen und nicht hören, immer waren wir froh, wenn wir unbemerkt seinen Boden verlassen konnten. Auch wurde viel über ihn erzählt, über seine Vorliebe zu Füchsen, die, nachdem am Waldrand Köder ausgelegt worden waren, direkt vom Schlafzimmer, ja vom Bett aus, so stellten wir uns vor, erschossen würden. Füchse, so hörten wir in den umliegenden Höfen, Häusern und Wirtschaften, zu Hunderten erschossen, würden, von den Innereien befreit und gesäubert, draussen an der Wäscheleine aufgehängt und getrocknet, um dann ausgestopft zu werden. Alles, so hiess es, was er erlege, Dachse, Wiesel, Rehe, würde aufbewahrt, eigentlich, wusste man zu berichten, gehe es ihm nicht ums Töten, sondern, so ungewöhnlich uns das vorkommen muss, mehr ums Bewahren. Und, wie zur Bestätigung des Gehörten, als wir kürzlich bei ihm vorbeikamen, hingen sie wirklich an den Wäscheleinen. Und während des heftig wehenden Windes schaukelten die leeren Körper der Füchse hin und her, und auch der buschige Schwanz wurde mitbewegt. Wären die Füchse nicht mit Drähten festgemacht gewesen, man hätte meinen können, sie lebten. So leicht hingen sie im Wind.

Waren wir ausser Sichtweite, verlangsamten wir unsere Schritte. Es kam vor, dass wir uns dann umarmten und befreit lachten. Wir wussten um unsere Angst und wurden nicht gerne für Füchse gehalten. Denn eben in diesen Tagen trug es sich zu, dass ein Bub eines benachbarten Hofes verschwunden war. Eine Geschichte, die die ganze Gegend in Unruhe versetzte. Da erst noch Jagdzeit war, machten Spekulationen über mögliche Todesarten die Runde. Alle beteiligten sich an der Suche, alle beschuldigten sich gegenseitig, verdächtigt wurden viele. Und wie wir uns bei unserem täglichen Spaziergang, getrieben von einer seltsamen Unruhe und Angst vor dem Jäger, wie wir uns also in der frühen Dämmerung seinem Haus näherten, das Blut im hartgefrorenen Schnee neben dem Scheunentor gleichzeitig wahrnahmen, wir auch wussten um die Blondheit des vermissten Buben, und blonde Haare neben dem Blut im Schnee liegen sahen, da fassten wir uns fest an den Händen und hatten wohl beide den gleichen Gedanken. Ohne diesen zu äussern, begannen wir schneller zu gehen. Fort, nichts wie fort. Vom Fenster des Hauses aus betrachtet, dieses stand weit offen, mussten wir hilflos ausgesehen haben, wir zwei, die wir uns aneinander klammerten, kaum vom Fleck kamen und doch die Bewegungen grosser Eile nachahmten. Denn wir wurden beobachtet, der Lauf des Gewehrs allerdings war nicht auf uns gerichtet. Endlich war die Gefahrenzone hinter uns. Doch bevor wir uns beruhigen konnten, sahen wir in der zerreissenden Explosion eines Schusses aufstiebenden Schnee und ein sich überschlagendes Tier, das in die Luft sprang und gefällt zu Boden fiel. Der zerschmetternde Knall fand seine Fortsetzung im Schreien und Stöhnen des zu Tode getroffenen Tiers.

Etwas entfernt vom Geschehen, versuchten wir Klarheit zu bekommen über unsere Bilder und Eindrücke von Blut, von blonden Haaren, von Schüssen und vom Tod. Es konnte uns nur recht sein, dass noch gleichentags zu erfahren war, man hätte den Buben lebend auf einem weit entfernten Hof aufgefunden. Beruhigt durch diese Nachricht gelang es uns, etwas von unserer Angst vor dem Jäger zu verlieren. So behielten wir unseren Rhythmus des täglichen Gehens bei. Trotzdem blieb eine Unruhe zurück, schon beim Betrachten seines Anwesens von weitem. Abends und auch spätabends und sogar mitten in der Nacht stellten wir uns ans Fenster und betrachteten mit Fernrohren sein Haus. Es fiel uns auf, dass in der Dämmerung und in tiefer Nacht die Fenster der Kellerfront hell erleuchtet waren. Und diese Beobachtung liess sich über Monate bestätigen. Nun ist es ein kleiner Schritt, um hinter das Geheimnis zu kommen, dachten wir.

Also näherten wir uns nun seinem Haus mit der Absicht, einen Blick durch diese Kellerfenster zu werfen. Und dann, wir hatten uns eben etwas vom Fusspfad entfernt und waren dabei, mit den Händen den Schmutz von den Scheiben zu entfernen und zu versuchen, ins dunkle Innere zu blicken. Mit der Taschenlaterne, die wir vorsorglich mitgenommen hatten, leuchtete ich durch das Glas, dann hörten wir eine Türe knarren, und die Türe des Hauses öffnete sich, und er stand vor uns. Das Gewehr mit dem langen Lauf in der Hand fragte er mit drohender Stimme, was wir hier zu suchen hätten. Sein Gesicht war schwitzig, seine schwarzen Haare zerzaust, die Lederjacke war eng zugeknöpft und seine breiten Schultern füllten die Türöffnung vollständig aus. Doch sein Blick ging über uns hinweg, und, bevor wir antworten konnten, erschien seine kleine japanische Frau hinter ihm in der Türe. Und wie um ihn zu besänftigen, legte sie ihre Hand auf seine Schulter, was ihn sichtlich beruhigte und uns einen Abgang ermöglichte, ohne in Streit oder Gefahr zu geraten.

Bis zu diesem Tag hatten wir die Japanerin nie bei ihm getroffen. Wir wussten, dass es sie gab, dass sie seit längerer Zeit bei ihm wohnte und von Heimarbeiten die beiden ernährte. Auch ausserhalb des Hauses wurde sie selten gesehen, das hätte der Mann nicht zugelassen.

Natürlich war unsere Neugier nicht befriedigt, denn solange Schüsse fielen, solange Blutspuren und Haare und das Licht in der Nacht gesehen wurden, wollten wir in Erfahrung bringen, was den Jäger nächtelang im Keller arbeiten liess. Doch je mehr wir uns mit der Geschichte befassten, desto ängstlicher wurden wir, und es kam eine Zeit, wo wir diesen Weg mieden. Wir wollten nichts mehr sehen, nichts mehr hören.

Es war im vergangenen Sommer, als wir die Japanerin zufällig im Dorf trafen. Jung, schüchtern und feingliedrig kam sie uns vor, ja, sie fiel auf, und die Blicke folgten ihr. Und ihr Gehen, stellten wir fest, hatte etwas Fliehendes, Leichtfüssiges. Sprung- oder fluchtbereit, sagten wir. Zurecht fragte man sich, warum sie dort beim Jäger lebte. Auch zirkulierten verschiedene, teils durch Eifersucht oder Missgunst geprägte Vermutungen. Doch soviel war sicher, sie gehörte zu ihm, sie schien ihn zu mögen, sie gehörten halt zusammen. Und durch das friedfertige Wesen der Japanerin angelockt, begannen wir, unsere täglichen Wanderungen zum Haus des Jägers wieder aufzunehmen. […]

Wir waren auf dem Fusspfad seitlich seines Hauses, es war später Nachmittag, als er unvermittelt vor uns auftauchte, er hatte sich hinter einem Gebüsch versteckt. Die Augen schwarze Löcher, die Haare klebend am Kopf, nassgeschwitzt, das Gewand verschmutzt, so stand er vor uns, liess uns nicht passieren. Er verbiete uns das Betreten seines Bodens. Und zur Unterstützung seiner Drohung nahm er eine Pistole aus der Jackentasche und richtete diese abwechslungsweise gegen unsere Stirnen. Entsetzt, ängstlich kehrten wir um, ohne etwas erwidern zu können. Wir eilten davon und meinten, dem Tod entgangen zu sein.

Doch wie wir an seinem auffälligen Tun herumrätselten, ergriff immer mehr die Idee von uns Besitz, nur die Nacht könne das Geheimnis lösen, und, uns gegenseitig Mut zusprechend, wählten wir eine mondlose Nacht Ende Januar, um zum Haus des Jägers zu gelangen. Es war ein langer und mühsamer Weg. Der Schnee lag hoch. Und mit jedem Schritt wuchs unsere Angst. Wir tasteten uns bis zu den Tannen vor, beobachteten die hellen Fenster im Keller. Nichts regte sich. Wir gingen bis zur Kellerfront, wenige Schritte trennten uns vor dem Einblick. Wie weiter? Konnten wir es wagen, hier, vor der Haustüre, uns aufzuhalten? Sollte jemand Wache stehen? Wie gross war die Gefahr? Wurden wir schon längst beobachtet? Oder wurde nur gewartet, bis wir im richtigen Licht standen, um uns klar im Visier zu haben? Wir gingen ganz heran. Ohne Rücksicht auf uns, auf Deckung. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt. Wir bückten uns tief hinab. Hohe Schneewälle erschwerten die Annäherung an die Fenster. Aber dank des Lichts konnten wir nach einiger Zeit der Angewöhnung Einzelheiten im Innern des Kellers wahrnehmen. Und wie sie da lagen und sassen, auf abgeschnittenen Ästen, auf moosgrünen Steinen, all die toten Füchse, Dachse, Wiesel, meinten wir, und sind uns heute noch sicher, zwischen den toten Tieren, die zu Hunderten, so kam es uns vor, herumstanden, die Japanerin zu sehen. Den Kopf in die Hände gestützt sass sie nackt auf einem Baumstrunk. Die schwarzen Haare bedeckten fast die Hälfte des schmächtigen Körpers, und nur die abgewinkelten Beine und die Brüste schimmerten uns merkwürdig gelb entgegen. Und wie wir sie für den kürzesten Moment gesehen zu haben glaubten, drehten wir uns schon um und liefen, liefen schreiend davon. Sinnlos bemüht um Schnelligkeit im tiefen Schnee. Doch selbst die Schüsse konnten uns in unserer Flucht nicht mehr hindern. Die Japanerin aber wurde nie mehr gesehen.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 365–368.

Erstpublikation: Enrico Danieli: Kalendergeschichten. Herisau: Appenzeller Verlag, 1998. S. 11–19.