Literaturland


Hans Jürg Etter

Herbstgesänge

1985

6
Der Himmel ist wortbrüchig.
Der Riss geht tief,
geht durch das Bachbett vergangener Tage,
geht durch die aufkeimende Blume,
geht durch das Buch,
geht durch das Feld,
geht durch das Holz und das Haus,
geht durch das Geschlecht
und geht durch mich
und geht durch dich.
Und was abgewiesen erscheint
und in der Trennung verkommt,
kann nicht zum Guten gedeihn.
Der Riss geht durch Mann und durch Frau

19
Der Astbruch zeigt sich im See
in spiegelnder Welle.
Und in der Brechung verschwimmt der
Mond mit dem See und dem Baum.
Der hat die Blätter verloren,
und die treiben jetzt,
Ulme, Buche, Birke, Eiche,
auf dich zu,
gelb und verfärbt
von weissnichtwas,
vom Herbst,
vom Flügelschlag der Zeit.
Der Wels ging auf Grund
und schaut Welträtsel,
die Rückenflosse gekrümmt
und abgeschlagen.

21
Du trägst den Tod im Auge
wie das Blatt die Landschaft.
So kommt er tatsächlich,
gut gekleidet,
die Haare nach hinten gekämmt,
gescheitelt,
mit grobgelbmustriger Krawatte aufgeputzt,
rührt er dich an in deinem Auge
und bleibt
und bleibt im Dunkel des Walds
und bleibt in der Tiefe des Bergsees.
Das verraten die Falten deiner Augenhöhlen
und deine Pupillen,
in denen er wohnt und eingeht
von innen und aussen.


Hans Jürg Etter: Herbstgesänge. Texte. 1985. Unveröffentlicht, nach Typoskript.

Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 472–473.