Literaturland
Peter Faessler
Auf der Suche nach einer verlorenen Landschaft?
Der Schönheitssinn des Menschen wird bewusst oder unbewusst auch durch die Entdeckung des Naturschönen seiner Heimat herangebildet, zumal wenn sie augenfällig an Werke der Landschaftsmalerei erinnert. Appenzell ist eine solche Landschaft! Denn in den humanen Proportionen des Landes am Alpstein vereinen sich – als schierer erdgeschichtlicher Glücksfall – die Naturgegenstände wie von selbst harmonisch zur Einheit eines wohlgestalten Landschaftsbildes. Und wer sich später besonnen mit Landschaftlichem in Literatur und Malerei auseinandersetzt, wird zu seiner Überraschung immer wieder ein ‹déjà-vu› erleben und so auf die jugendlichen Anfänge seines Sehens zurückverwiesen.
Welche Ansichten der landschaftlichen Natur Appenzells vermöchten nun prägend zu wirken? Eingedenk eigener Parteilichkeit liessen sich doch wohl drei manchem Innerrhoder vertraute Ensembles nennen. Eingangs der entdeckerischen Chronik stehe eine Natur und Menschenwerk verbündende Vedute: die wuchtig gewölbte Steinbrücke über eine sich wild oder geruhsam gebärdende Sitter und daneben der steilragende spätgotische Chor der Pfarrkirche, vor dem früher eine Linde stand; und als südlicher Hintergrund die filigrane Kette aus Kamor, Kasten und Alpsiegel, ein getreuer Spiegel atmosphärischer Nuancen und jahreszeitlicher Stimmungen. Von der Nähe zur Ferne schreitend gäbe es dann das Tal des Fleckens Appenzell einzugrenzen, eine bergende Mulde im kühlgrünen, wasserreichen Lande, dessen sanft gerundete Hügelwelt vom Alpstein gleich einer Felsenwand geschützt wird. Und zu verweilen wäre im Genusse des Fernblicks von den unzähligen Kuppen, Hügeln und Bergen, die Appenzell auch das Panorama der Alpen Österreichs, den Lauf des Rhein und den weiten, lichten Spiegel des Bodensee zugesellen und damit die Heimat gleichsam zu einem Belvedere des südlichen Bodenseeraumes erheben.
Die Ganzheit der so welthaltigen Landschaft, in der das Naturschöne keine politischen Grenzen kennt, liesse sich auf einen Nenner bringen: Landschaft der Idyllik. ‹Idylle› meint hier freilich nicht gemütvolles Genre-Bildchen aus der guten alten Zeit, sondern die von der Natur selbst festgebaute Landschaftsgestalt, die ‹en miniature› an literarische und künstlerische Entwürfe von Ideallandschaften gemahnt. In den letzten Jahren durfte ich in belletristischen Studien, die das zweitausendjährige Schrifttum des Bodenseeraums betreffen, literarische Spuren im Geiste der Idyllen-Dichtung und des Alpenmythos sichern: Es geschah dies auch im Zeichen früher heimatlicher Eindrücke!
Aber gibt es dieses Appenzell noch? Die Gefahren optischen Verriegelns fabulöser Ausblicke von Plätzen und Gassen des Dorfes auf den grünen Hügelring, sich abzeichnende Verhunzung der Harmonie aus Flecken und ihn einbettender Landschaft durch Zersiedlung; Schnittwunden neuer Wege im ganzen Talkessel und mehr touristischer Schnickschnack als förderlich – kurzum: ohne Not zu verderben drohendes Dorf- und Landschaftsbild rufen zur Besinnung auf. Gewiss: der unverwechselbare Kolorit eigener Jugend-Landschaft geht jedem Menschen verloren, begegnet man doch im Leben einer Gegend nie gleich, weil man sich stetig ändert und bliebe man am Orte selbst. Weisser und violetter Flieder sind für immer verblüht, der süsse Duft der Linde am Chor der Pfarrkirche verweht, die Sommermorgenfrühe beim ersten Ferienbeginn mit seiner Aura des Uranfänglichen unwiederholbar … Solches Suchen muss einmünden in die Fernsicht auf die erinnerte Landschaft. Doch zuvörderst gibt es freilich noch die von der Natur selbst verliehene Landschaftsgestalt an sich, die es zu wahren gilt. Die Suche nach ihr darf nicht zu einer Suche nach einer verlorenen Landschaft werden!
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 66–67.
Erstpublikation: Peter Faessler: Auf der Suche nach einer verlorenen Landschaft? In: Bruno und Vreni Dörig-Hug (Hrsg.): Appenzeller Lebensart. Frauen und Männer aus Innerrhoden äussern sich zu ihrer Herkunft. Oberegg: Noah Verlag, 1990. S. 16–17.