Literaturland


Heinrich Federer

Auf dem Gäbris

1923

Heinrich Federer wurde 1893 in St. Gallen zum Priester geweiht, verlor das Amt jedoch wegen seiner Homosexualität. Als Journalist und Autor avancierte er danach zu einem der wichtigsten Vertreter der Schweizer Heimatliteratur. Sein erzählerischer Blick richtet sich inbesondere auf das Leben und die Schicksale einfacher Leute.

Da ging ich nun mühsam, denn fünfzehn Jahre Zugewicht klebten mir an den Schuhen, den steilen Weg von Gais zum Gäbris hinauf. Es war ein Wochentag des Spätherbstes, wo niemand um solche Nachmittagszeit diesen Prügelweg nimmt. Wie gut kannte ich ihn, jede Schleife, jede Unebenheit, besonders im Winter auf dem Schlitten! Unten durch die Wiesen fuhr das Gaiserbähnli gegen Appenzell still und langsam wie der Friede Gottes. Hinten in goldgrauer Farbe starrte der Säntis, aber noch viel hoheitlicher der Altmann ins Oktoberblau empor. Eine Kette hinter der anderen, die hinterste, mit der Roslenfirst wie eine Urweltsmauer, geht gegen das plumpe Ehepaar Hoher Kasten und Kamor und ihre elegante, aber langweilige Kammerfrau Fähnern bis nahe in den südöstlichen Vordergrund. Ah, in diesem Gebirge liegen die unsterblichen Geheimnisse des Seealpsees, des Wildkirchli, des unterirdischen Höhlenganges, der Ebenalp, in die Wirrnis der Felsen gebettet.

Endlich durchmess’ ich das letzte Wäldchen, durch das einst mein Schlitten beim Mondschein auf glashartem Eis in die Tiefe schoss, bald in schwarzen Tannenschatten, bald in einem himmlischen Silberfunken, dem mutigen Kameraden folgend, der mir voraus durch dieses Nachtmärchen schlitterte. Und nun bin ich oben auf dem kleinen Rücken des Bergleins und jubele, weil alles noch ziemlich im Alten blieb, das Gasthäuslein kein Hotel, das Holz kein Granit oder Marmor, und die Wirtsjungfer kein Schwalbenschwanzfrack von einem Oberkellner geworden ist. Und noch stehen da die gleichen derben Tische an den kleinen Fensterreihen und bekomme ich, weiss Gott, die gleiche brave grosse Kaffeekanne und den hablichen Milchkrug, der mir vor einem halben Menschenalter kredenzt worden ist. Die zwei kleinen Stüblein, den grossen Saal, wie gut kenne ich sie noch. Sogar eine gleichfarbige Katze, gewiss eine Enkelin der damaligen, buckelt sich träge hinter dem Ofen hervor. Und noch gibt es scharfe Pantli hier, mit Holztellern und kurzen Messern und jenem schneeweissen Brot, durch das Appenzell und St. Gallen vor aller Schweiz in edelster Unschuld leuchten.

Es sitzt nur noch ein alter Mann mit einer kurzen Tabakpfeife im Stüblein und leert seine Flasche Bier. An Werktagen ist es hier oben einsamschön. Wer dann kommt, der kommt, weil er gern allein ist, weil er über seine Zeit gebietet, weil er Ruhe und Beschaulichkeit liebt und weil ihn die Natur, nur die Natur da hinauflockt. Am Sonntag ist das anders. Da klimmen sie von Trogen, Bühler und Gais auf dreierlei Wegen hinauf, breite Jasser, bequeme Ehepaare, lustige Mädchen und Buben, Sportsleute, Sticker, die verluften, Fabrikanten, die verschnaufen wollen. Da hockt ein Reallehrer neben einem Ferienstudenten, der heimlich Gedichte sündigt. Zur Linken sitzt ein würdiger Magistrat, der nach hinten und vorn oberflächlich mitplaudert, aber in den Tiefen seines nationalrätlichen Herzens viel tiefere, eidgenössische Sorgen erwägt. Wie oft habe ich diese bunten Gruppen studiert, die im dichten Tabakrauch immer undeutlicher verschwammen wie die Alpsteingipfel im Gewölke, bis endlich auch der Reallehrer-Känzeli und der Nationalrat-Säntis völlig untergingen! In keinem Gasthaus der Welt wird noch so schweizerisch gesprochen. Aber wahrlich, diese Appenzeller Charakterköpfe gehören auch zur reellsten Rasse Helvetias. Mag das Ausland uns verwässern und verdünnen soviel es kann, in den Most dieses Völkleins, das einen so feingeschnittenen Mund hat und einen so eigensinnigen Wirbel zeigt, das nicht um einen Zoll grössere Schritte nimmt, wenn man berichten müsste: die Bolschewiki seien in St. Gallen eingezogen, und um keinen Zoll kleinere Schritte, wenn es hiesse: sie müssten sich in Herisau zur Kontrolle vor Trotzki stellen, ich sage, in Most und Blut eines solchen Völkleins wird noch lange kein Fremder, unschweizerischer Tropfen gemischt.

Jetzt lärmt es vor den feuchten Scheiben, und frische, junge Köpfe gucken herein, die Trogener Kantonsschüler.

Sie haben den Nachmittag frei und bevorzugen noch immer wie vor zehn und zwanzig Jahren den Gäbris für ihre Ausflüge. Das ist nun schon ein vornehmeres Wesen. Viele Herrensöhne der Schweiz, mancher Ausländer mit merkwürdigem Akzent ist dabei. Trotzdem, so fremd ihr Teint, so erlesen ihr Kleid, so seltsam der Schnitt und die Schwärze ihrer Augen ist, sie haben sich ihren appenzellischen Mitschülern merkwürdig angepasst, versuchen ihren Dialekt, essen ohne Gruseln den schärfsten Appenzeller Käse und können sogar unterwegs richtige Trogener Geissen melken.

Ich sehe diese Jugend gerne hier oben. Es haftet ihnen etwas griechische und römische Kultur an, es keimt aus ihnen schon etwas zukünftig Bedeutendes; sie reden von Hannibal, von Logarithmen, von Bast und Kambium, von diophantischen Gleichungen und Barockstil. Und daneben trinken sie Milch wie ein Bauernjunge und säbeln am Landjäger wie ein Stickerknechtlein und deuten auf die Rote Wand und die Zimbalspitze im Österreichischen wie ein Schweizer Alpenklübler. Es sind einfach Prachtsburschen. Sie kennen bereits Hebbel und Grillparzer und haben in St. Gallen Moissi als Hamlet gesehen. Es ist entzückend, mit ihnen zu plaudern, auf deren weichen Gesichtern noch so viele Hoffnungen als Flaumhärchen sprossen. Lasset einen tapferen Schnurrbart, aber auch eine tapfere Lebenshoffnung auswachsen, ihr Menschen der Zukunft! Dann hat es keine Not ums neue Jahrhundert.

Jetzt dunkelt es, und in den wunderbarsten Übergängen von Rot in Purpur und Violett und Samtbraun wird der Tag zur Nacht. Wir treten hinaus. Im Süden und Osten verdämmern die Gebirge, ein weisslicher Nebel steigt aus dem Rheintal, zwischen den Hügeln im Westen und Norden glitzern aus abenddunklen Dörfern die ersten Lichter auf. Grau und weit dehnt sich dahinter die Hochebene gegen Zürich und Schaffhausen. Nur der Bodensee leuchtet noch in einem sonderbaren Himmelsglanz auf. Über ihm geht es in die fernen deutschen Gebiete hinaus. Eine ungeheure Welt und doch noch viel ungeheurer der Himmel darüber. Gelbe Sterne schwimmen auf. Die Erde wird beinahe schwarz und, über den Hag gen Norden gelehnt, sagt der alte Tubäkler zu mir, es ist das erste Wort, das er spricht: «Dünkt euch nicht auch, wir stehen auf dem Giebel der Welt, zu alleroberst? Und alles ist unter uns, schier wie unter Herrgotts Sohlen? Und sollt man nicht glauben, dass schon die ganze Welt zu Bett gegangen sei und schlafe, so still ist’s?»

Mit klugen, sinnenden Philosophenäuglein, wie man sie öfter an alten Bauern wahrnimmt, funkelte das dürre, aber behende Männlein nach allen Seiten.

Ja, wahrhaft, eine Stille schwebte aus allen Tiefen herauf, jetzt, abends um acht Uhr, als schlummerte die Menschheit schon. Es flüsterte nur etwas Leises von ferne her. Waren es die heimspringenden Studentlein, war es der Wind oder war es wirklich wie aus einem unendlichen Schlafsaal das friedliche Atmen der Völker, der Völker, die nur gescheit und gut und selig heutzutage sind, wenn sie schlafen?


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 49–51.

Erstpublikation: Heinrich Federer: Zwischen grünen Hügeln und Träumen. Gesammelte Werke, Bd. 2. Berlin: G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, 1931. S. 4–8.