Literaturland


Chrigel Fisch

Flieg doch mit den Nazis!

1999

Heutzutage, und schon gar nicht in der Nacht, kann man sich auf nichts mehr verlassen. Und nichts, was gerade noch wichtig in der Küchenschrankvitrine protzte, wird ewig so edel bleiben. Sobald der Wecker rhabarbert, kann schon alles anders sein, ganz anders, überanderstens. Zum Beispiel die Börsenkurse. Die Zugsabfahrtszeiten. Die Anzahl Blätter meiner Topfpflanze. Atomkriege über Nacht? Kein Problem. Afrikanische Stammesgenozide vorm Vier-Uhr-Tee? Durchaus. Saure Milch im Morgenkaffee? Passiertpassiert. Ich kenne sogar jemanden, den hat die Steuerverwaltung schlicht und mehrfach vergessen. Der hat nie dicke Formulare gekriegt zum Ausfüllen, der hat nie was bezahlt. Doch er lebt, fröhlich unfreiwillig steuerbefreit. Manchmal frage ich mich, ob er wirklich lebt. Oder ob ich ihn steueramthassend taggeträumt habe. Oder ob er einem meiner geographisch-reisekulturell-währungsspezifischen Nachtträume entsprungen ist.

Ich lüge nicht. Ich träume i m m e r von Reisen, Währungen und Fluggesellschaften. Manchmal von der Arbeit. Ich könnte nun diese Träume aufschreiben, einem Psychotherapeuten damit günstige Lektüre verschaffen und ihm erst noch krankenkassentechnisch seine Andreas Vollenweider- und Dodo Hug-CD finanzieren. Mag ich aber nicht, nichts da, schnackelfackel. Am Morgen wird zuerst laut gefurzt.

Kürzlich hatte ich einen Traum – und ich schwöre, dass ich weder allzu schlafbetrunken noch traumbesoffen war –, da musste ich von Amerika zurück nach Europa fliegen, was auch gut geklappt hat. Mindestens bis Bayern, das allerdings nördlich von Frankreich lag. Die Flughafenkerle wollten dichtmachen, nur ich allein stand blöd beim Aschenbecher rum und fragte jemanden nach einer Verbindung nach Basel. Der sagte, lässig aus der Zigaretten-ansteck-Feuerzeug-in-Hosensack-zurück-Drehung heraus: «Flieg doch mit den Nazis! Die haben immer Materialtransport um diese Zeit.»

Mit den Nazis also. Tatsächlich duckte sich auf der Piste ein dunkelbrauner, wulstiger, gedrungener Riesenbomber, wie man sie aus verwackelten sowjetischen Afghanistan-Reportagen kennt. Ich dachte mir: «Na denn, politisch korrekt ist das ja nicht, aber wenn ich so heimkomm…». Da rhabarberte der Wecker und die Nazis flogen ohne mich nach Basel. Als ich so niedergereist auf der geliebten Matratze lag und Nationaltrainer Regen ans Scheibchen trommelte, wollte ich nicht recht in die kaffeeduftlose Realität zurückkehren. Ich dachte eine Weile träumend an den Traum zurück – einmal mit den Nazis fliegen, und das 1997! –, schüttelte dann eine Socke vom Lager und kam zu folgender, schiessschartenscharfer Erkenntnis: Raubgold, Judengold, Nazigold, das sind gar unkorrekte Bezeichnungen!

Tatsächlich haben die Nazis den Juden das Judengold geraubt, also ginge Raubgold oder Nazigold locker durch die Zeitungssuppe. Aber, da furglert der frühmorgendliche Besserwisserkurt, wenn das Gold dann in der Schweiz landete – als Sicherheit für Waffenlieferungen an die Nazis –, warum heisst das Gold nicht Ostfrontpanzerhaubitzengold oder Russlandfeldzugpatronenbeschaffungsgold oder gar …, na. Niemand ist bisher auf die Idee gekommen, das Raub-,  Juden- und Nazigold ganz schlicht ‹Schweizergold› zu nennen. Und wer noch einen Mikrobenarschbackenspalt klüger ist, wird sich fragen, woher die Juden denn das Gold hatten. Na? Von den Sibiriern, von den Südafrikanern, von den Mayas gar? Wo, bei Rommels Trommel, kommt das Judennaziraubschweizergold eigentlich her? Und wohin ging es, wenn nicht in die Zahnfüllungen zentralafrikanischer Dik­tatorensöhne, wenn nicht in die Schuhbändelösen philippinischer Diktatoren­gattinnen? Wohin, woher, die alten Fragen. Doch wem kann man schon vertrauen. Mir auf jeden Fall nicht. Ich glaube nicht an die Menschheit, warum sollte ich also an die Müllabfuhr, an Zahnärzte, die Nationalbank oder an bewaffnete, israelische Siedler glauben, die ihre Hardcore-Auslegung religiöser Geographiekunde dazu benutzten, armes goldloses palästinensisches Gesindel samt staubiger ­Wackelbaracken in die Wüste zu pimpern?

Ja, die Vergangenheit, sie hat sich freigebuddelt und ihren Weg durch die Kanalisationsrohre der helvetischen Geschichtstoilettendeckelzuhalter gefunden. […]

Kürzlich war ich traumhalber in Albanien. Zum zweiten Mal übrigens. Beim ersten Mal jedoch waren noch die Kommunisten am rumtiranen und alles war gar kärglich rostend eingerichtet. Sturzdeprimierend. Kürzlich aber, eben im Traum, hatten die Albaner recht schön aufgeräumt im Land. Meine Aufgabe war es, eine Schweinehälfte die unfair steile und lange Leiter des Hafenquais hinaufzubuckeln. Meinen primitiven albanischen Freunden konnte ich natürlich schlecht von meinem Rückenschaden erzählen, denn diese industrienationenbürospezifische Krankheit interessiert diese plumpen Affen nicht. Ihre braungebrannten Oberkörper bedeuteten mir familienehrenhalber verdammtnochmal die Schweinehälfte hinaufzutragen. Nun, wie Träume so sind, sie bringen nach Jahren der Abwesenheit in einem geträumten Land doch immer wieder die gleichen Figuren ins Spiel zurück. Bei mir war es ein irrer junger Mann, der im kommunistischen Albanientraum noch ein Junge war. Er wartete am Ende der Quaimauerleiter und fuchtelte mit einem Messer rum. Ich dachte mir, mühsam das Gleichgewicht auf der steilen Leiter haltend: «Bitte nein, nicht d e r schon wieder!» Denn im kommunistischen Traum hatte er mich aufschreddern wollen, und nur seine pädagogisch geschulten Eltern hielten ihn davon ab. Aber, die Geschichte arbeitet und aus jugendlichen Irren werden erwachsene Irre. Er hatte begriffen, dass er keine schweinehälftenschleppenden Traumtouristen aufschreddern darf. Also fuchtelte er nur blöd rum, so in der Art «also wenn ich schon wieder mal in deinem Traum auftauche, kann ich ja nicht so tun, als wäre in Albanien nun a l l e s gesund und vernünftig, oder?». Recht hat er. Ich brachte meine Schweinehälfte auf den wohlbestückten, florierenden Markt (tatsächlich waren exotische Blumen der Renner) und meine albanischen Freunde reichten mir ein Bier. Es schmeckte ganz unalbanisch gut.

Natürlich war ich noch nie in Albanien und ein Rassist bin ich keiner. Doch wem kann man schon vertrauen. Der PTT allerdings mehrheitlich schon. Wenn jemand blöd im Beobachter rummeckert, dass sein A-Brief von S-chanf/GR nach Chancy voir Genève/GE schon wieder zwei Tage gebraucht habe, dann soll er mal die Juden fragen, wie lange sie schon auf die beschlagnahmten Zahngoldfüllungen warten. Eben. Darum gibt’s ja die Geschichte. Damit sich alle schön lang und blöd beschwerend darüber aufregen können, dass es anders gekommen ist, als sie es sich sowieso nie überlegt haben.

Allen anderen geschichtsneurotischen Unschuldshornochsen und -kühen empfehle ich die Beobachtung momentaner Greueltaten, Ungerechtigkeiten, Horrorbilder und was der steinzeitliche Herrgott sonst noch auf dem Planeten installiert hat. Wenn denn die Gottesfürchtigen auch ihre Institution mal genauer durchleuchtet haben werden, wird es vielleicht einen ‹Ombudsmann für Gott› geben, der schön gerecht die Aktenhefter füllt. Bis dahin schlage ich vor, kollektiv endlich die Schnauze zu halten. Sonst könnte es passieren, dass die Nation vor lauter «Unschuldig! Unschuldig!»-Geschrei über dem Bratwurstgrill tot zusammenbricht und sich die Flügel für’n Himmelsflug irreparabel zerzäuselt.

Also, «Geschichte der Erde, Kapitel Menschheit, Teil 101, Unschuldsszene Schweiz, Klappe die zweitausendeinhundertvierte: Ruhe!» Und fünfzig Jahre Pause.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 126–128.

Erstpublikation: Chrigel Fisch: Gott spielen, während andere arbeiten müssen. Basel: T.H.O.T.4.R, 1999. S. 100–105. Erstpublikation: Nebelspalter 123 (1997), 12.