Literaturland


Carol Forster

Verschluckte Leute

2009

Immer wieder hat es mich in den Alpstein gezogen diesen Sommer. Kleine, feine Wanderungen, längere Märsche und auch ein paar Mordstouren mit Mordsmuskelkater danach. Gerade jetzt, Anfang Herbst, ist das Licht unvergleichlich. Das Grün ist so satt und hebt sich deutlich, aber sanft vom Grau und Braun der Berge ab. Die Luft ist klar, und wenn der Himmel auch noch blau ist, dann ist es da oben wirklich zum Jauchzen. Ich habe nur ein einziges Problem in den Bergen. Ich bin nicht schwindelfrei. In höheren Gefilden sind dann immer diese Stahlseile gespannt, an denen man sich festhalten kann. Ohne diese Hilfen wäre ich verloren. […] Als Kind musste ich jedes Wochenende in den Alpstein und bin damals, ohne mit der Wimper zu zucken, über den Lisengrat spaziert. Das muss das Alter sein, dass es mich so runterzieht jetzt – und ich an gewissen Stellen ziemlich verkrampft den Wänden entlang schleiche.

Der Alpstein ist bekanntlich nicht zu unterschätzen. Mehrere Personen, die irgendwann nicht von ihren Wanderungen zurückkehrten, werden noch immer vermisst. Als ich letztes Mal über den Chreialpfirst Richtung Zwinglipass unterwegs war, hätte der Berg auch mich beinahe verschluckt. Glücklicherweise war ich schon fast vorbei, als ich es wahrnahm: ein Loch! Wiese, Steine, Schrattenkalk überall, und direkt neben mir, mitten in der Wiese, ein Karstloch von fast zwei Metern Durchmesser. Vereinfacht gesagt sind diese Löcher Entwässerungskanäle, die das Wasser der Karstoberfläche durch das Innere des Gebirges zur Quelle führen. Mir wurde dann gesagt, dass es hier viele solche Löcher gebe und dass die Wegmacher in jedes Loch runterschauen, ob da nicht irgendwo verschluckte Leute hockten. Richtig mulmig und unheimlich fand ich das. Aber ich konnte es dann doch nicht lassen, einen Blick in den Berg zu riskieren, runterzuschauen. Es ging einfach nur runter, immer weiter und dunkler, unergründlich. Mit Herzklopfen wanderte ich weiter.

Ich musste die ganze Zeit an diese Löcher denken, bis ich im Tal unten war. Dass es den Bergen vielleicht manchmal einfach zu viel ist, wenn diese Horden von Wanderern auf ihnen herumtrampeln und die Spitzen ihrer Wanderstöcke in die Erde bohren und in den Fels hacken, dass es vielleicht sogar wehtut und dass sich dann diese Löcher auftun, um hin und wieder einen solch unbequemen Wandergesellen zu fressen. Und plötzlich war mir sonnenklar, weshalb wir früher immer die roten Socken zu den Knickerbockern tragen mussten.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 343.

Erstpublikation: Carol Forster: Verschluckte Leute. In: Saiten 183, 16 (2009), 10 (Oktober). S. 22–23.