Literaturland


Fritz René Allemann

Appenzell – Hochburg des Eigenwillens

1965

In seinem Buch 25mal die Schweiz berichtet der Verfasser über die besonderen und oft sonderlichen Züge der eidgenössischen Stände. Der nachfolgende Auszug behandelt die «bedingungslose Praktizierfreiheit» der Naturheilärzte in Appenzell Ausserrhoden.

Nichts kann die Mentalität dieser Bevölkerung typischer bezeichnen als die Tatsache, dass Ausserrhoden als einziger Schweizer Kanton den Naturheilärzten die bedingungslose Praktizierfreiheit eingeräumt hat und auf diese Weise zum Paradies der Quacksalber und Kurpfuscher geworden ist. Dabei verhält es sich nicht etwa so, dass die Ausserrhoder diesen eigentümlichen und oft recht geschäftstüchtigen Heilkünstlern sonderliches Vertrauen entgegenbrächten; sie halten sich, wenn sie von Gebresten geplagt werden, noch immer meist an ihre studierten eingesessenen Doktoren, und die Wundermänner und Kräuterweiblein mit ihren Gebräuen und Tinkturen leben viel mehr als von der einheimischen von der auswärtigen Kundschaft, die in hellen Scharen aus der ganzen Schweiz und grossen Teilen des Auslands zur Konsultation herbeipilgert, um sich nach Herzenslust diagnostizieren, trätieren und purgieren zu lassen. Wenn man dem medizinischen Naturtalent und in Gottes Namen auch dem gerissenen Scharlatan freie Bahn gewährt, so steckt dahinter keineswegs allein der pfiffige Eigennutz, der in der blühenden Praxis dieser Leute ein interessantes Steuerobjekt sieht, und nicht einmal nur die tief eingewurzelte Sympathie für den Autodidakten, der seine wirklichen oder vermeintlichen Fähigkeiten nach appenzellischer Ansicht auch ohne staatliche Approbation und Reglementiererei solle entfalten können, sondern vor allem das urtümliche Freiheitsbewusstsein, das sich dagegen sperrt, dass man dem Menschen das Recht verwehren will, sich auf seine eigene und unorthodoxe Weise um seine Gesundheit und – wenn er sich dazu berufen fühlt – um die seiner Mitmenschen zu kümmern, sei es nun durch Handauflegen und mesmeristische Praktiken oder durch kräftige Abführmittel und bitteren Kräutertee. (1)

(1) Dieser Absatz müsste eigentlich heute ins Imperfekt gesetzt werden: Während der Drucklegung dieses Buches hat die ausserrhodische Landsgemeinde von 1965 die bisherige Freiheit der ärztlichen Praxis radikal eingeschränkt.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 270.

Erstpublikation: Fritz René Allemann: 25mal die Schweiz. Panorama einer Konföderation. Zürich: Buchclub Ex Libris, 1965. S. 302.