Literaturland


Zsuzsanna Gahse

Zu Füssen des Hochhamms

2014

An der Kulturlandsgemeinde 2014 in Schönengrund sprach Zsuzsanna Gahse als Sonntagsrednerin über den Rand und die Mitte, über Schönengrund und über die Wörter. Hier der Schluss der Rede.

Als ich vor einigen Wochen mit Hans hergereist kam, standen wir gegen Mittag vor dem Kirchportal. Wir schauten zu der geschlossenen Häuserreihe hinüber, zu den Holzfassaden, und Hans sagte, dass es sich bei diesen Häusern wahrscheinlich um die bekannten Appenzeller Strick-Bauten handle. Um Holzstrickware sozusagen, die zum alten guten Wissen gehört und ja nicht in Vergessenheit geraten sollte.

Städtische Häuser, dachte ich. Eine ehemals werdende Stadt, die dann nicht weiter geworden war.

Jedenfalls standen wir vor dem Kirchportal, als unten auf der Strasse ein Kleinbus hielt. Sieben Personen stiegen aus, sieben Mal silbrige Haare. Die Leute, Frauen und Männer, streckten sich und Tränen flossen, beinahe zumindest. Sie kamen über die Stufen zu uns herauf und erzählten, dass sie alle aus Toronto gekommen seien. Eben erst angekommen, am Zürcher Flughafen. Sie hätten sich den Wagen gemietet, um sich hier in der Gegend umzuschauen. Denn zwei von ihnen stammten aus Schönengrund, die anderen aus Heiden und Trogen, und sie alle waren seit Jahrzehnten nicht mehr in der alten Heimat. Der Mann aus Schönengrund räusperte sich und zeigte zu einem Fenster hinauf. Da wurde ich geboren, sagte er. Später zeigte seine Frau ihr Elternhaus, vor allem aber schaute sie ständig in die Höhe, schüttelte den Kopf und meinte schliesslich, dass man ihr nicht zu glauben brauche, aber es sei vor allem das Licht, das hiesige Licht, das sie auf Anhieb wiedererkenne. Als gäbe es dieses bestimmte Licht auf der gesamten Welt nicht noch einmal.

Toronto und Schönengrund. Das sind zwei entgegengesetzte Lebensmöglichkeiten.

Die sieben Silberhaarigen schwiegen zwischendurch, sie schluckten, legten die Arme einander um die Schultern, und sie blieben bei uns stehen. Sie wollten noch weiter erzählen, und die Schönengrunderin wiederholte, wie erstaunt sie über das Licht sei, über ihr grundeigenes Licht.

Mehr oder minder zufällig sassen wir nachher gemeinsam beim Mittagessen. Die sieben erzählten ein wenig von ihrer Jugend, nicht viel, sie waren noch ganz benommen von der wieder gewonnenen Umgebung. Sie waren ja erst einige Stunden vorher gelandet, man könnte sagen, meinte einer von ihnen, dass sie noch nicht wirklich gelandet seien, und schon seien sie hier, auf dem Land.

Tja, was ist eine Stadt? Fünfzig Häuser können bereits eine Stadt sein. Ich sagte, Herisau beispielsweise sei wirklich eine Stadt, obwohl ich mir vorstellen könnte, dass sich dort die meisten Leute kennen und einander sogar begrüssen.

Die Sieben aus Toronto nickten und lächelten. Ich erzählte ihnen, dass ich in Herisau einmal einen Mann in der Nähe der Bibliothek gesehen habe, einen Rothaarigen, von einigen Jugendlichen umringt. Während ich ihm zuschaute, erklärte mir eine Passantin, dass man den Mann täglich sehen könne, den kenne jeder. Die Schüler oder die Schülerinnen erwarten ihn geradezu, und sie stellen ihm die vertracktesten Rechenaufgaben, fragen ihn nach der Wurzel aus vierhundertzwanzigtausend oder lassen ihn komplizierte Zahlen potenzieren.

Dann geht der Rothaarige ein wenig auf und ab, schnippt mit dem rechten Daumennagel am Mittelfinger, er schnippt unentwegt, am Mittelfinger fehlt schon die Haut, vorgebeugt geht er mit seinen Rechnungen los, liefert immer die richtigen Lösungen, und man sieht ihm an, dass er ausser seinen Zahlen nichts braucht. Sein Kopf funktioniert, das mag er, und er mag seine jungen Begleiter.

In Schönengrund würde der Rothaarige vereinsamen, vielleicht sogar verrückt werden. Kaum einer würde ihn brauchen. In Toronto hingegen würde man ihn übersehen, wer weiss!

Die Grösse einer Stadt sei eine Frage für sich, sagte der Mann aus Trogen. «So das ist eine Frage, you know», sagte er.

«Herisau einerseits, Toronto andererseits, daneben Schönengrund und daneben das alte Athen, das ist spannend», rief Hans und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, als wollte er zu einer Rede ausholen, aber er sagte nur: «Das kleine Athen, die erste Grossstadt, die erste wirkliche Stadt.»

Und dann flogen die Stadtnamen hin und her. Toronto, Istanbul, New York, das ewige London, Rio! Petersburg ist grösser als Rom, Bukarest hat mehr Einwohner als Wien, die Fläche von London ist doppelt so gross wie Toronto und Toronto beinahe dreimal so gross wie Appenzell Ausserrhoden.

Sagen wir nun, sagten wir, Schönengrund wäre ein hübscher kleiner Stadtbezirk der neuen Megametropole Appenzell. Hier, in einer schönen Zone der Riesenstadt, ginge man durch baumbesetzte Alleen und zwischen Hochhäusern mit zehn oder zwanzig Stockwerken, man stiege zum Hochhamm hinauf, wo natürlich weitere Hochhäuser stünden, und in einem dieser Bauten wäre das berühmte Terrassenkaffee Hochhamm, von wo aus man nicht nur bis nach Alt-Herisau und Alt-St. Gallen sehen könnte – natürlich nur bei entsprechend klarer Sicht –, sondern bis nach Alt-Bregenz, also zum Stadtbezirk Bregenz. Weit und breit nichts als schöne und weniger schöne hohe Häuser, ein endloses Häusermeer, dazwischen erstaunliche Brücken, erstaunlich hohe Wolkenkratzer, architektonisch bewundernswerte, schwindelerregend hohe Türme – und mitten im Häusermeer der hohe Kopf des Säntis, wie ein Zuckerhut. Irgendwo allerdings, am Rand der Riesenmetropole, gäbe es auch sogenannt marginale Viertel und bei etwas Missgeschick sogar die unvermeidlichen Favelas.

Auf diese Vorstellung, die wir gleich wieder verscheuchten, tranken wir einen Schluck Wein mit den silbernen Sieben, und der Mann aus Trogen fragte bedächtig, er frage sich selbst, ob er in einer derartigen Stadtgegend glücklich wäre.

Dann dachten alle nach. Es entstand eine lange Pause. Und da ich solche Pausen manchmal erschreckend finde, als hätte ich eine Kluft vor mir, sagte ich:

«Glückliche Leute haben den Vorzug: Sie sind gesünder. Weil sie gesünder sind, sind sie glücklicher, und deshalb sind sie wiederum gesünder und damit glücklicher. Glückliche Leute haben ein besseres Gedächtnis und wie von selbst angenehme Umgangsformen, womit sie dann gefallen, und dadurch sind sie glücklicher. Sie fühlen sich mitten in der Welt, inmitten der Welt, und das steigert ihre Lebensfreude. Vereinfacht aber sollte ich sagen: Glückliche Leute sind glücklicher.»

Wie auch immer. Es ist schön in dieser Gegend, und der Ortsname hier ist, wie gesagt, treffend.

Aber es geht halt um Land kontra Stadt. Gegenwärtig entwickelt sich alles in Richtung Stadt, in Richtung Megastadt, wo alles zur Verfügung steht und wo man einander nicht zu grüssen braucht, man kommt sowohl freundlich als auch unfreundlich aneinander vorbei. Und es heisst, dass in den grossen Städten meist mehr Kultur anzutreffen sei als auf dem Lande, wo eher nur Bäume oder Obst kultiviert werden. Aber es ist gut zu wissen, dass hier Raum genug für eine Metropole wäre, und es ist gut, dass sie nicht vorhanden ist, derzeit. Es könnte einmal durchaus eine Trendwende geben. Dann würden alle die Stadtflucht ergreifen, Tausende kämen aus den Städten herangefahren, hierher, in der Meinung, im Grunde nur hier glücklich zu sein, in Schönengrund, weil hier niemand am Rande sein kann. Unten im Grund wird niemand am Rand sein. Das leuchtet ein. Nur würde bei dem Massenandrang nichts mehr leuchten, so dass die Leute wieder abziehen müssten, und was ihnen bliebe, wäre die Sehnsucht hierher zurück.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 525–527.

Erstpublikation: Zsuzsanna Gahse: Mit dem Zirkel gezogen. Zu Füssen des Hochhamms. In: Obacht Kultur 19 (2014/2). Insert zur Sonderausgabe Mitten am Rand.