Literaturland


Albert Grubenmann

Richel, der Läufer. Eine Sage

1968

Es soll in jener Zeit gewesen sein, da zwischen Bregenz und Rätien vor den räuberischen Montfortern kein Warentransport, ja nicht einmal des Kaisers reitende Boten mehr ihres Lebens sicher gingen. Da soll vom Herzog von Schwaben an den fürstäbtischen Landesherrn der Vogtei St. Gallen die Aufforderung ergangen sein, für die kaiserlichen Boten einen sicheren Weg durch das Bergland der Rhoden zu finden. Von Konstanz herauf und von der Gossauer March bis nach Appenzell war dies keine besondere Aufgabe; schwieriger wurde es erst von hier nach dem oberen Rheintal. Also beauftragte er seinen Verwalter daselbst, und dieser liess die Rhodmeister von Schwende und Rüti zu sich kommen, damit sie ihm einen zuverlässigen und gebirgskundigen Mann nannten, der die Boten heil und sicher in die obere rheinische Niedere hinunter führen würde. Für die beiden Rhodmeister war die richtige Wahl hierfür rasch getroffen, denn es gab unter den Bergsennen, Säumern und Jägern keinen, der jeden Weg und Durchpass im Gebirge so sicher und gut kannte wie der Jäger Richel in Brülisau.

Kurze Zeit darnach erhielt dieser vom Rhodmeister Bescheid, dass er sich in den nächsten Tagen beim äbtischen Verwalter im Flecken draussen einzufinden habe; alles weitere werde er von diesem selbst erfahren.

Mit der ihm gewohnten Würde und Gelassenheit erklärte dieser Richel Sinn und Zweck der Aufgabe, die ihm nun übertragen werde. «Bedenke immer, dass es des Kaisers Boten sind, die du zu führen hast. Nicht welche Botschaft ihnen aufgetragen ist, sondern dass sie heil und sicher ihr Ziel erreichen, soll deine Sorge sein. Für deine Mühewalt aber soll dir der doppelte Lohn eines Säumers verabfolgt werden.»

Richel war des Angebotes gar wohl zufrieden und versprach dem Amtsmann in die Hand, das ihm aufgetragene Mandat gewissenhaft und zuverlässig auszuführen. Ja, den Weg nach der Saxerlücke und von dort zum Flecken Sax hinab, den kannte er wie seine Wamstasche. Er war wohl rauh und zu gewissen Zeiten sogar lebensgefährlich. Überdies spukte es zuweilen nachts an einigen Wegstellen und hinten am See. Doch was scherte ihn solches Nachtgelichter. Er hatte sich ja nicht um sie, sondern nur um seine Aufgabe zu kümmern.

Wochen kamen und gingen, und der kurze Bergfrühling neigte sich schon der Zeit der Sommersonnwende zu. Richel hatte sich mittlerweile gar gut in seine Aufgabe eingelebt. Mitunter hatte er die versiegelten und lederumhüllten Botschaften, die ein berittener Bote ihm überbrachte, selbst dem nächsten Boten in Sax gebracht. Oft aber hatte er besonderen Eilboten lediglich als Führer zu dienen und sie auf dem kürzesten Weg heil und sicher wieder in die Rheinebene hinunterzubringen.

Einmal aber, in einer mondhellen Sommernacht, hatte er ein sonderbares Erlebnis; er begegnete dem Totenzug. Gleich einer unendlichen Kette kamen sie die Widderalp herunter und gingen jetzt lautlos als graue Schatten an ihm vorüber. Ein leichtes Frösteln strich ihm längs des Rückens, denn verschiedene Gestalten glaubte er zu erkennen. Eigentlich erst nachdem der letzte der unheimlichen Schemen vorüber und gegen den See hinunter wieder verschwunden war, überkam ihn ein sonderbares Grauen. Es war nicht Furcht; es war mehr ein dunkles Gefühl der Befangenheit und Unkenntnis gegenüber diesen Schattenwesen, dieser Erscheinung aus der Geisterwelt.

Beim Sennen Chuered in Sämbtis klopfte er an die Hüttentür und bat um Einlass. Eine bleierne Schwere sass ihm in den Gliedern.

«Lass mich für den Rest der Nacht bei dir ausruhen; ich bin unsagbar müde.» Auf der Heubühne droben war Richel darauf sogleich in tiefsten Schlaf gefallen. Am anderen Morgen aber erzählte er Chuered beim Herdfeuer seine sonderbare Begegnung.

«Das sind die armen noch unerlösten Seelen der Abgestorbenen, die auf ihrer endlosen Wanderung deinen Heimweg gekreuzt haben. Doch nicht jeder, nur wenige Sterbliche können sie sehen. Mein Handbub ist ihnen unlängst auch in den Weg gelaufen und darob schier gestorben vor Schreck.»

Richel sah versonnen und wortkarg in die schwelende Glut.

«Ich möchte nur wissen, ob mein Zusammentreffen mit den Unerlösten ein Zufall ist oder für mich eine besondere Bedeutung hat. Jahre schon jage ich im Gebirge, und nie zuvor bin ich ihnen begegnet.»

«Vielleicht», brummte Chuered in den Bart. «Trug der letzte der Schatten nicht gar deinen Hut, oder hatte er den Gang deiner Mutter?» Doch Richel konnte hierüber nichts Bestimmtes aussagen, weil er zu wenig genau hingesehen hatte.

«Sollten dir die Verstorbenen je wieder begegnen, dann sieh nur auf den Letzten im Zug; trägt er dein Gewand, dann wisse, dass deine Stunden gezählt sind.»

Der Sommer ging vorüber, und es begann sich der Laseyerwald herbstlich zu verfärben. Verantwortungsbewusst war Richel seit jener denkwürdigen Nacht weiterhin seiner Aufgabe nachgekommen, und nie war beim äbtischen Verwalter über ihn eine Klage ergangen. Nur der Rhodmeister fand, dass er inzwischen verschlossen und noch stiller geworden war. Es konnte nicht sein, dass er Sorgen hätte, denn mit dem Beutel voll Taler, den er ihm demnächst als Abschluss überbringen würde, konnte Richel sich doch bestimmt durch den ganzen Winter verhalten.

Es war ein kühler, trüber Herbsttag, da Richel mit einem Eilboten den weiten Weg nach Sax unter die Füsse nahm. Ab Sämbtis wählte er den Weg über die Alp Furgglen. Doch immer dichter umhüllte sie der Nebel. Angestrengten Blickes stapfte er unmittelbar vor seinem Begleiter den ihm sonst so gewohnten Bergpfad hinan, bis er jegliche Richtung verloren hatte. Noch unschlüssig, nach welcher Seite er sich nun wenden sollte, blieb er stehen. Und dann kamen sie wieder heran, – aus der dichten Nebelwand heraus, die unseligen Schatten der Abgestorbenen, und gingen in langer Kette, kaum in Schrittweite, an ihnen vorüber. Wieder spürte Richel ein Schaudern über dem Rücken und wollte den Blick zur Seite richten. Doch da fiel ihm die Aussage des Sennen Chuered ein: « – – – dann sieh auf den Letzten im Zuge; trägt er dein Gewand, oder hat er den Gang deiner Mutter, dann wisse, dass deine Stunden gezählt sind.»

Und dann kam dieser Letzte. Seine Gesichtszüge konnte Richel in dem Nebel nicht erkennen; wohl aber den Hut und Lodenkittel. Versonnen setzte sich Richel ins nebelfeuchte Gras, denn wieder verspürte er eine bleierne Müdigkeit in den Gliedern. Doch da begann sich der Nebel leicht zu heben. Wortlos deutete er dem Weggefährten auf den wieder sichtbaren Pfad, und ebenso wortlos führte er ihn vollends hinunter nach Sax.

Da dort keine Botschaft, noch ein rückkehrender Läufer auf ihn wartete, sputete er sich anderentags schon in der Morgenfrühe, um möglichst schnell wieder daheim zu sein. Als Jäger kannte er die Tücken des Spätherbstwetters im Gebirge sattsam genug, und überdies würde er dem Amtsmann ankündigen, dass der Weg nun wirklich nicht mehr ratsam sei.

Wie der Rhodmeister schon drei Tage umsonst auf Richel gewartet hatte, schickte er einige wegkundige Burschen aus, die Strecke bis zur Lücke abzusuchen. Sie hatten nicht weit zu gehen. Im Aufstieg des Brüeltobels fanden sie ihn im Weggeröll liegen; er war tot.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 406–408.

Erstpublikation: Albert Grubenmann: Sagen und Erzählungen aus dem Alpstein. Trogen: Fritz Meili, 1968. S. 45–51.