Literaturland


Paul Grunder

Cumuluswolke

1996

Vorrede zum selbstverlegten Buch Das blaue Band.

Es war an einem herrlich schönen Julitag, als ich beschloss, eine der watteweissen Cumuluswolken zu besteigen.

Sie kennen sie, diese hoch aufgetürmten schneeweissen Wolken, die weit hinauf in den Himmel ragen wie Berge, Tausende von Metern hoch? Schaut man ihnen zu, wachsen sie langsam, türmen sich als quellendes Leben höher und höher, formen sich wie von Geisterhand zu Wesen und fahren wie riesige Schiffe von Horizont zu Horizont.

Das Schwierigste der Besteigung ist, überhaupt an den Fuss der ausgewählten Wolke zu gelangen, wo die Kletterei beginnen kann. Nichts leichter als das, werden Sie sagen, man bucht einen Flug mit dem Heissluftballon und im Nu ist man oben. Na, na, meine Damen und Herren, wenn Sie den Mount Everest besteigen wollen, fliegen Sie auch nicht mit dem Helikopter auf den Gipfel, sondern Sie besteigen die Felsen und erklimmen die Spitze sicher im Schweisse Ihres Angesichts und an der Flasche reinen Sauerstoffs, oder etwa nicht?

Und genauso ist es bei der Besteigung einer Cumuluswolke. Man muss sie erleben, erleiden und bezwingen. Aber, und das sage ich Ihnen nun aus Erfahrung: Erleben ja, aber erleiden keineswegs und bezwingen schon gar nicht. Die Besteigung einer Cumuluswolke ist einfach, sehr einfach und leicht, sehr leicht, wenn man weiss wie. Und da liegt der Haken.

Ich sehe Ihre ungläubigen Blicke und höre Ihre Gedanken, die sagen, ich wolle Ihnen einen Bären aufbinden. Ich verspreche Ihnen, das liegt mir fern. Jeder kann eine Cumuluswolke besteigen, jeder. Wie gesagt, es ist leicht und Sie wollen nun von mir noch wissen ob Sie Verpflegung mitnehmen müssen, Atemgeräte, Seile und Haken, Kletterschuhe und dicke Wollsachen.

Nichts von alledem, meine Damen und Herren. Das einzige, was wir müssen, ist die Schwere abwerfen und uns leicht, ganz leicht machen. Wir müssen uns sozusagen in Leichtigkeit verwandeln. Das, meine Lieben, fällt uns sehr schwer und Sie wissen selber warum. Viel Schweres tragen wir mit uns herum, und es stapelt sich auf uns wie ein Berg Wolldecken, der uns beinahe erstickt. Anstatt sie abzuwerfen, lassen wir uns andauernd noch mehr beladen, und Sie wären nicht die ersten, die unter der erdrückenden Last zusammenbrechen. Also kann es doch nur befreiend sein, die Kunst der Leichtigkeit zu erlernen, und wunderschön, Ihre Cumuluswolke zu besteigen. Die Kunst der Verwandlung in Leichtigkeit ist einfach, sehr einfach, wie ich Ihnen schon gesagt habe.

Sie kennen die Geschichte des Kalif Storch von Wilhelm Hauff? Dann wissen Sie, dass man sich drei Mal gegen Mekka verneigt, sich vorstellt, in was man verwandelt werden will, und laut und vernehmbar spricht «mutabor». Ich rate Ihnen jedoch ab, diese Methode anzuwenden, denn die Rückverwandlung ist äusserst schwierig, und ausserdem wird mit dem Zauberwort «mutabor», wie bekannt, auch das Erinnerungsvermögen ausgeschaltet, was fatale Folgen haben kann. Zweitens eignet sich «mutabor» nur zur Verwandlung in ein Tier. Es nützt daher auch nichts, wenn Sie sich einen Zettel in die Hosentaschen oder den Ausschnitt stecken, auf dem geschrieben steht «Ich bin ein Mensch», denn erstens hat ein Tier keine Hosentaschen, geschweige denn einen Ausschnitt, und letztlich können Sie als Tier gar nicht lesen.

Es bedarf also einer Methode, die uns die völlige Umwandlung in einen leichten Menschen ermöglicht. Unter einem leichten Menschen verstehe ich nun aber nicht das, was Sie sich vorstellen. Sie müssen auch nicht Ihre schweren Ohrgehänge ablegen oder die Hosentaschen leeren, meine Damen und Herren. Nein, meine Methode ist sehr viel einfacher und nachhaltiger, als Sie denken. Ich will Sie nicht mehr länger auf die Folter spannen, aber eine gewisse Einleitung ist schon notwendig und will ernsthaft bedacht werden, wenn wir anschliessend die Umwandlung so vollziehen, dass Sie sich nicht mehr in den Menschen zurückverwandeln wollen, der Sie heute zu sein scheinen.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 352–353.

Erstpublikation: Paul Grunder: Das blaue Band. Erzählungen und Gedichte. Teufen: Ayema Verlag, 1996. S. 5–7.