Willkommen im

Literaturland

 

Ein Ort für bestehende und entstehende Appenzeller Literatur, für literarische Überraschungen, den Austausch, das Lesen und Schreiben. Die Appenzeller Anthologie versammelt Texte von bekannten und unbekannten Autorinnen und Autoren, der Schreibwettbewerb sorgt für Nachwuchs – auf dass das Literaturland im Schweizer Osten weiter wachse und gedeihe.

Literaturland sucht Schreibtalente

Das Amt für Kultur von Appenzell Ausserrhoden lädt zur Teilnahme am zweiten Schreibwettbewerb ein. Gesucht werden versponnene, spannende, experimentelle Texte aller Gattungen zum Thema „Ich wäre überall und nirgends“. Der Einsendeschluss ist der 12. August 2018.

12. Aug2018

Die Appenzeller Anthologie
am Sommerfest des
Kinderdorfs Pestalozzi Trogen

13. Aug2017

 10:30 h

Der Preisträger des ersten Schreibwettbewerbs 2016 ist…

30. Mai2016

LITERATURLAND LOCKT

Fussweg im Appenzellerland. Foto: Barbey Herisau

Auf dass Sie als Besucherin und Leser dieser Appenzeller Literaturlandseite möglichst gut durch das Jahr 2020 kommen! Auf dass Ihnen die Riesen, die Zwerge, die Geister, die seit jeher die Gegend am Alpsteingebirge bevölkern, gnädig gesinnt sein mögen! Lassen Sie sich von der Schriftstellerin Cécile Lauber (1887- 1981) Seltsames und Schauerliches erzählen, von dem sogar Jokeb, der Senn, nur zu flüstern wagt: das Wüetihö…!

Seit August 2017 lockte Literaturland in die Appenzeller Anthologie.
Dieser Literaturtipp ist der letzte.

 

SCHREIBWETTBEWERB 2018

Preisverleihung mit den Siegerinnen des  Lea Sager (links), Ruth Weber-Zeller (rechts).
Im Hintergrund auf der Leinwand: Jessica Jurassica, Foto: Daniel Ammann.

 

BLOG

17. Nov2018

Schreibwettbewerb 2018:
Drei Frauen sind die Siegerinnen

Der zweite Literaturland Schreibwettbewerb des Amtes für Kultur Appenzell Ausserrhoden ist entschieden: Der Jurypreis in der Kategorie Erwachsene geht an die Künstlerin hinter der Kunstfigur Jessica Jurassica für den Text «#influenza». In der Kategorie Jugendliche wird die 17-jährige Lea Sager für ihren Text «Selbstverständlich!» mit dem Jurypreis ausgezeichnet. Der Publikumspreis geht an Ruth Weber-Zeller für den Text «Wurzeln».

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Schreibwettbewerb 2018:
Drei Frauen sind die Siegerinnen

Der zweite Literaturland Schreibwettbewerb des Amtes für Kultur Appenzell Ausserrhoden ist entschieden: Der Jurypreis in der Kategorie Erwachsene geht an die Künstlerin hinter der Kunstfigur Jessica Jurassica für den Text «#influenza». In der Kategorie Jugendliche wird die 17-jährige Lea Sager für ihren Text «Selbstverständlich!» mit dem Jurypreis ausgezeichnet. Der Publikumspreis geht an Ruth Weber-Zeller für den Text «Wurzeln».

Die feierliche Preisverleihung fand am Sonntag, 18. November im Beisein von Regierungsrat Alfred Stricker in der Stuhlfabrik in Herisau statt. Insgesamt wurden Preise im Wert von 10’500 Franken überreicht. Die thematische Vielfalt, die stilistische Bandbreite und die Experimentierfreude der Autoren und Autorinnen, die Texte einreichten, wiederspiegelt sich in den preisgekrönten Texten.

Weitere Informationen: Schreibwettbewerb 2018

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Appenzeller Anthologie

Autorinnen / Autoren

Allemann, Fritz René

Appenzell – Hochburg des Eigenwillens

Nichts kann die Mentalität dieser Bevölkerung typischer bezeichnen als die Tatsache, dass Ausserrhoden als einziger Schweizer Kanton den Naturheilärzten die bedingungslose Praktizierfreiheit eingeräumt hat und auf diese Weise zum Paradies der Quacksalber und Kurpfuscher geworden ist. Dabei verhält es sich nicht etwa so, dass die Ausserrhoder diesen eigentümlichen und oft recht geschäftstüchtigen Heilkünstlern sonderliches Vertrauen entgegenbrächten; sie halten sich, wenn sie von Gebresten geplagt werden, noch immer meist an ihre studierten eingesessenen Doktoren, und die Wundermänner und Kräuterweiblein mit ihren Gebräuen und Tinkturen leben viel mehr als von der einheimischen von der auswärtigen Kundschaft, die in hellen Scharen aus der ganzen Schweiz und grossen Teilen des Auslands zur Konsultation herbeipilgert, um sich nach Herzenslust diagnostizieren, trätieren und purgieren zu lassen. Wenn man dem medizinischen Naturtalent und in Gottes Namen auch dem gerissenen Scharlatan freie Bahn gewährt, so steckt dahinter keineswegs allein der pfiffige Eigennutz, der in der blühenden Praxis dieser Leute ein interessantes Steuerobjekt sieht, und nicht einmal nur die tief eingewurzelte Sympathie für den Autodidakten, der seine wirklichen oder vermeintlichen Fähigkeiten nach appenzellischer Ansicht auch ohne staatliche Approbation und Reglementiererei solle entfalten können, sondern vor allem das urtümliche Freiheitsbewusstsein, das sich dagegen sperrt, dass man dem Menschen das Recht verwehren will, sich auf seine eigene und unorthodoxe Weise um seine Gesundheit und – wenn er sich dazu berufen fühlt – um die seiner Mitmenschen zu kümmern, sei es nun durch Handauflegen und mesmeristische Praktiken oder durch kräftige Abführmittel und bitteren Kräutertee. (1)

(1) Dieser Absatz müsste eigentlich heute ins Imperfekt gesetzt werden: Während der Drucklegung dieses Buches hat die ausserrhodische Landsgemeinde von 1965 die bisherige Freiheit der ärztlichen Praxis radikal eingeschränkt.

Allmen, Ursula von

Worte sind ohnmächtig

‹Schmerz› ist ein unpräziser Begriff, sagt nichts aus über seine Heftigkeit oder Dauer. Dazu bräuchte es zusätzlich Ziffern, eine Schmerzskala mit einer Steigerung von eins bis zehn: Mutter benutzte seit vielen Jahren einfach das Wort. Sie meinte damit ihren kaputten Rücken, die ausgedienten Beine, die Nervenkrämpfe. Nur aus Stärke und Anzahl der geschluckten Schmerztabletten liess sich das Ausmass der Beschwerden erraten.

Anfangs, bei der Akkordarbeit an der Nähmaschine, da reichten zwei Saridon. Eines um halb elf, das zweite um vier Uhr. Der Patron gab sie gratis ab an das Personal, wenn es müde wurde oder unkonzentriert. Mutter hatte verständnislos auf die Kolleginnen geblickt, die beim Chef auch Tabletten für den Privatgebrauch holten, sich zu günstigen Sonderkonditionen die Beträge vom Wochenlohn abziehen liessen. Sie hatte über die Galli gelächelt, die gewerkschaftlich organisiert war, die immer wieder bezahlte Arbeitspausen statt Saridon verlangte, die bei der Volksgesundheit mitmachte, das Kneippen predigte und Kräuter kannte, sammelte, trocknete und sie in weissen Stoffsäckchen in ihrer Wohnung an einem Wäscheseil quer durch den Korridor aufhängte. Ja, die Galli, die war allein stehend, hatte Zeit für solchen Krimskrams, lebte in einer Lotterbude und war schon mehr als fünfundsechzig. Hatte wohl keinen roten Rappen auf der Seite. Musste darum immer noch zur Arbeit. Die sagte oft, wer denn wohl von so einer kleinen Altersrente leben könne. War aber doch froh um diesen Zustupf. Es gab die Rente ja erst seit ein paar Jahren. Vorher gabs gar nichts, auch keine Leistungen für Invalide. Deshalb musste sie jahrelang ihren halbblöden Bruder mit durchfüttern. Er starb dann Gott sei Dank, als sie schon über fünfzig war. Seither kann sie in die Fabrik. Das ist besser bezahlt als Heimarbeit.

Mutter kann auch in die Fabrik. Seit Vater tot ist. Vorher hat sie Heimarbeit gemacht. Als Vater immer krank war. Und arbeitslos. Oder betrunken. Oder im Sanatorium. Und für Leute vom Dorf genäht hat Mutter. Zum Glück hatte sie als junges Mädchen Damenschneiderin lernen können, sagt sie immer wieder zu Marie.

Du wirst auch einen richtigen Beruf lernen. Nein, nicht Nähen, da verdient man zu schlecht und macht sich den Rücken kaputt. Und du bist ja auch nicht gut in Handarbeit. Aber im Kopf bist du gut.

Ein gutes Zeugnis heimzubringen, das ist das Mindeste, was Marie tun kann. Das freut Mutter. Hilft ihr am Morgen den Alltag wieder anzugehen, beweist, dass sich die Mühe lohnt.

Um sieben beginnt die Arbeit. Da müssen die Näherinnen an den Maschinen sitzen, vor sich Bettwäsche in weissen Bergen, manchmal rotweissen Kölsch, Barchent mit pastellfarbenen Borten. Gerade Nähte, langweilig zum Herunterrattern. Können auch Ungelernte schnell.

Schöner zu nähen sind Damen-Nachthemden, sagt Mutter, Litzen oder Spitzchen einsetzen ist schwieriger. Auch etwas besser bezahlt. An der Herrenwäsche sind es Passepoils, die exakt eingenäht werden müssen. Der Chef und sein Bruder kontrollieren selber. Fehlerhaftes müssen die Näherinnen auftrennen, neu nähen. Die Bezahlung geht nach Stückzahl.

Das sind die Jahre, in denen Mutter ein paar Brocken Italienisch lernt. Viele Arbeiterinnen sind aus dem Süden. Sie sind froh um Arbeit. Das weiss der Chef. Es drückt den Ansatz. Die Fremden zahlen keine Gewerkschaftsbeiträge. Sie brauchen alles Geld für ihre Familien.

Mutter zahlt auch keine Beiträge. Sie sagt, dass sie nicht auch noch für irgendeinen Schönschwätzer arbeiten kann. Die Galli sagt, das sei kurzsichtig.

Mutter steht um halb sechs auf. Sie kocht vor, giesst und jätet sommers den Garten, heizt winters den Ofen ein, wäscht sich und hetzt nach dem Kaffee und einer Brotschnitte auf den Weg. Eine kleine Stofftasche mit Holzbügeln hängt an ihrem Arm. Im Gehen reibt sie sich Vaselincreme ein. Die feinen Nachthemdstoffe haken sich an rissiger Haut fest. Darum immer Hände eincremen, verlangt der Chef. Wenn es regnet, hüpft dabei der Schirm über Mutters Kopf auf und ab. Marie sieht es aus dem Schlafzimmerfenster. Seit Vater tot ist, schläft sie in seinem Bett, neben Mutter.

Altherr, Heinrich

Alteisen

Nach einer Weile suchte [der Lehrer] Ferdis Augen und sprach mit fester Stimme: «Ferdi, das wird deinem Vater nicht leichtfallen. Ist auch gar kein Spass. Hör Ferdi, du bist ein Achtklässler, ziemlich gross und kräftig und auch – ein guter Bub. Das weiss ich genau. Du wirst von nun ab tüchtig mithelfen müssen zu Hause. Anders geht es nicht. Du bist alt genug, um das mit der Stickmaschine zu verstehen.» […]

Auf dem Heimweg spürte Ferdi nichts von der scharfen Kälte des Morgens. Eine warme, tiefe Freude stieg in ihm hoch, wenn er an den Lehrer und seine Worte dachte. «Andereggli!», hatte er gesagt. «Lebwohl, Andereggli.» So nannte ihn der Lehrer immer dann, wenn er ihn besonders gut leiden mochte, wenn er ihn lobte. Das hatte Ferdi schon längst herausgefunden. Tröstend folgten ihm die gütigen Augen des Lehrers nach Hause, wo eine schwere Arbeit seiner wartete. […]

Ein kurzer, schriller Hupenton eines Autos schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Ferdi schaute zurück. Ein schwerer Lastwagen rumpelte das schmale, steile Strässchen herauf. Mit einem Sprung setzte Ferdi über die hohe Schneemauer und drückte sich nahe an den Zaun. Im Führersitz sassen zwei Männer in blauen Arbeitskitteln. Auf der Ladebrücke des Autos lagen eine eisenbeschlagene, mit Ölflecken beschmierte Kiste, Ketten, Stricke und zwei schwere Eisenhämmer. Die rasselnden Schneeketten griffen in den harten Schnee des Strässchens, welcher in schräg aufsteigendem Bogen unter den breiten Hinterrädern hervorgeschleudert wurde. Als der Hinterwagen an Ferdi vorbeifuhr, fühlte er die Wärme der Auspuffgase über seine Beine streichen. Stampfend arbeitete sich das vom Vater bestellte Ungetüm das Nordhaldesträsschen hinauf. Als Ferdi wieder in die Strasse trat, hing ein beissender Benzingestank in der Luft.

«Der holt nun Vaters liebe Stickmaschine. Wenn er nur stecken bliebe, der Saukarren», dachte Ferdi wütend.

Als er zu jener Stelle kam, wo das Fussweglein zum Haus hinauf abzweigt, stand der Lastwagen in umgekehrter Richtung da. Durch alle Ritzen der Motorhaube stiegen zitternde Wolken warmer Luft. Die Windschutzscheibe blitzte in der eben aufsteigenden Morgensonne böse auf. Die Räder und Kotflügel des Wagens waren dick mit Schnee verklebt. Ferdi drückte sich um den Koloss herum und stapfte eilig den schmalen Pfad zum Haus hinauf, wo seiner eine schwere Arbeit wartete.

Der Vater rumorte schon im Sticklokal. Er stiess die Läden auf. Krachend schlugen sie an die Hauswand. Einer der blauen Männer entnahm der öligen Kiste Schraubenzieher, Hämmer, englische Schlüssel und ein grosses Bündel Putzfäden, wischte mit dem Ärmel den Schnee vom Dache des Kaninchenstalles und legte die Werkzeuge geordnet auf die Dachpappe. Erschreckt und aufgeregt schnuppernd hoppelte Ferdis Blauwienerin von einer Stallecke in die andere.

Dann trat Ferdi in das Sticklokal, wo der zweite Arbeiter mit dem Vater vor der Stickmaschine stand. Bei diesem Anblick kam Ferdi jenes Bild vom Viehmarkt, das sie kürzlich in der Schule miteinander angeschaut hatten, in den Sinn. Glich der Vater nicht jenem Bäuerlein, welches in der Not dem drängenden, fetten Protz von einem Viehhändler seine schönste Kuh verkaufen muss?

Der Arbeiter Zürn langte einen schweren, klobigen Schraubenschlüssel aus der Seitentasche seines Kittels und brummte vor sich hin: «So, ich muss wohl oder übel beginnen. Nützen tut er Euch doch nichts mehr, der alte Karren. Ein paar Franken gibt’s doch immerhin noch. Bub, ruf den Walser herein. Er soll die Metallsäge, den grösseren Meissel, zwei Plattzangen und den Vorschlaghammer mitbringen, los, avanti, was träumst noch!»

Als Ferdi mit Walser hereinkam, stand der Vater immer noch vor der Stickmaschine. Seine Blicke schienen sich in den braunen Maschen des Flugnetzes verfangen zu haben. Dann hob er langsam den rechten Arm, legte ihn auf die lange Welle des Wagens, schritt feierlich der Maschine entlang und strich im Gehen mit der Hand über den grünen Lack der Welle. Dann stellte er sich vor das Musterbrett, auf das mit vier Reissnägeln noch die in blaugrüner Tinte ausgeführte, letzte Zeichnung geheftet war. Mit zitternden Fingern klaubte der Vater die Reissnägel aus den vier Ecken des aufrechten Brettes, rollte das Blatt sorgsam zusammen und legte es auf das Fenstergesims. Ein letztes Mal setzte er sich auf den runden Sitz des dreibeinigen, hochgeschraubten Stickerstuhles. Die linke Hand suchte tastend den abgewetzten Handgriff des Pantographen, dann umschloss die rechte den schwarzen Eisengriff des Treibrades. Behutsam setzte er die Füsse auf die Pedalen. Nun sah ihn Ferdi wieder genau so dasitzen, wie er es schon hundertmal beobachtet hatte: der Rücken war leicht gekrümmt, die rechte Schulter stark abfallend. Auf einem eckigen Irrweg glitt der Stiefel des Pantographen, geführt von Vaters Hand, über das entblösste Musterbrett. Dann rutschte der Vater mit einem Ruck vom knarrenden Stuhl, strich mit der Hand über die gefurchte, bleiche Stirn und begann die Nadeln aus den Klappen zu lösen. Ferdi bemerkte jedoch, dass der Vater diese Arbeit anders machte als früher. Auf jede Klappe gab er einen leichten Daumendruck; die Nadeln liess er, ohne sie zu berühren, einfach auf den Boden fallen. Das sahen sogar die beiden Kleinen, Hanneli und Kobi, welche bis jetzt still und scheu in der hinteren Ecke geblieben waren. Hurtig kamen sie näher und begannen wetteifernd die auf dem Boden verstreut umherliegenden Nadeln aufzulesen.

«Ödeli dueche – – Ödeli dueche», plapperte Kobi jedesmal, wenn es seinen dicken, steifen Fingerlein wieder gelungen war, eine Nadel zu erwischen. Mit vorgestülpten Lippen ahmte er die ungeschickten Bewegungen seiner Finger nach.

Zürn und Walser griffen mit harten Fäusten zu. Zunächst waren die beiden noch geduldig genug, Schrauben und Stifte zu lösen. Später hingegen wurden solche mit wuchtigen Hammerschlägen gewaltsam entfernt. Was wollte man da noch lange Federlesens machen! Es kam doch nicht drauf an. Das hatte Zürn am Morgen schon gesagt: «Bis Mittag muss die Maschine abgebrochen und fix und fertig aufgeladen sein.»

Immer hitziger und wie mit heimlicher Freude schlugen die beiden Männer drein. Der Vater tappte, ohne irgendwo richtig Hand anzulegen, von einer Ecke in die andere. Bei jedem Schlag fuhr er zusammen. Auch Ferdi war es so zumut, als ob die Hammerschläge ihn selber träfen. Jetzt polterte eine Welle krachend zu Boden. Mit den Schuhen rollte sie der Vater über den dünnen, bebenden Boden des Lokals. Wieder ein dröhnender Schlag! Das straff gespannte Stahlband zischte zuckend zu Boden. Walser riss mit einer langen Zange die Splinte aus einem Gelenk. Ho – rutsch! Draussen war sie. Klappernd und klirrend fielen wieder einige Räder und Stangen herab. Wie im Traum trug der Vater kleinere Maschinenteile vor das Haus. Hanneli und Kobi waren immer noch mit den Nadeln beschäftigt. Ferdi musste Zürn und Walser handlangern, ihnen Hämmer, Zangen und Meissel reichen und wieder abnehmen. Ein Maschinenteil nach dem andern wurde weggeschraubt, zertrümmert, abgewürgt, zerbrochen. Jedesmal, wenn es im Gestänge quietschte, pfiff oder rumpelte, fuhr es Ferdi kalt über den Rücken.

Die Mutter hatte Ferdi an diesem Vormittag noch mit keinem Blick gesehen. Es musste wohl bald Mittag sein; denn Lilli war aus der Arbeitsschule zurück und trug in einem Korb Schrauben und kleinere Maschinenteile hinab zum Auto. Schon seit längerer Zeit warf Zürn böse Blicke auf die am Boden umherkrabbelnden Kleinen. Plötzlich platzte er los und schrie wütend zu Hanneli und Kobi hinunter: «Hinaus mit euch, macht, dass ihr zum T – empel hinauskommt, ihr donners Goofe. Ihr stört uns. Und einen Unfall könnte es auch geben, wenn ihr ständig um die Maschine herumstreicht, und das könnte es!»

Hanneli erschrak derart, dass sie alle Nadeln wieder fallen liess, aufschrie und weinend hinauslief. Kobi richtete sich laut schnaufend auf, glotzte den Schimpfenden aus grossen, unschuldigen Augen erstaunt an und fragte:

«Chobi ümme Ödeli dueche, hm – –?»

Da kroch Zürn lächelnd unter der Stickmaschine hervor, ging zu Kobi und versetzte dem Knirps mit seiner schwarzen Pratze einen mehr liebkosenden als strafenden Klaps aufs dicke Hinterteil. Mit einem kräftigen Schwung hob er den Kleinen zu sich herauf und liess einen geräuschvollen Schmatzkuss auf Kobis vor Eifer gerötete Wange knallen. Dann stellte er den lieben, kleinen Bengel auf den Boden, spielte einen neuen Zornausbruch und lärmte mit seiner tiefen, schnarrenden Stimme:

«Chomm, i nemm di mit off Sangalle abe ond bring di em Böölimaa is Sittertobel use!»

Das wirkte. Heulend beinelte der Knirps zur Türe hinaus, um sein Leid Ferdi zu klagen. Der hatte jetzt aber keine Zeit für seinen Bruder. Keuchend kam er mit Walser den Hang herauf. Beim Anblick des Schreienden presste Ferdi rasch entschlossen eine Handvoll Schnee zu einem grossen Ball, drückte ihn dem nur noch leise flennenden Brüderlein in die Hand und verschwand im Sticklokal. Als Ferdi wieder schwer beladen herauskam, sah er, dass Kobi beruhigt vor dem Kaninchenstall stand, um mit dem Schneeball das Kaninchen zu füttern. Leise lächelnd trug Ferdi seine Bürde zum Lastwagen hinunter.

Mittlerweile hatte Zürn seine Arbeit im Sticklokal beendet. In einem wirren Durcheinander standen und lagen die Maschinenteile umher. Aus den morschen, abgetretenen Brettern des Bodens guckten nackt und grau die vier Zementsockel, auf denen die Stickmaschine gestanden hatte. Schon seit einer geraumen Weile hatte es der Vater im Sticklokal drin nicht mehr ausgehalten. Ruhelos werkend lief er zwischen Haus und Auto hin und her.

Kurz vor Mittag stand das elende Fuder fahrbereit. Mit hängenden Armen schauten Vater und Ferdi zu, wie Walser einen alten, dreckigen Lumpen an eine weit über das hintere Ende der Ladebrücke ragende Eisenstange band. Das musste ja so sein, nur kam es dem Sticker und seinem Buben wie Hohn und Spott, wie ein böser Fastnachtsscherz vor. Oben vor dem Haus standen in einem eng zusammengeschlossenen Grüpplein die Mutter, Lilli, Hanneli und Kobi.

Zürn und Walser sassen schon im Auto. Durch das offene Wagenfenster rief Zürn heraus: «Das Weitere wird der Meister erledigen. Vergesst aber nicht, Euch wegen der Subvention bei der Treuhandgesellschaft zu melden. Adieu!»

Der Motor sprang an. Mit einem Ruck setzte sich das hochaufgetürmte Fuder in Bewegung und rollte langsam, scherbelnd, ratternd und knatternd das Strässchen hinunter dem Dorfe zu. Als der flatternde Wimpel hinter der Strassenbiegung verschwunden war, atmete der Vater tief ein und sagte mit fester, entschlossener Stimme:

«So, Bub, jetzt beginnt ein anderes Leben. Ich hatte ja wirklich noch lange Arbeit. Andere Sticker mussten ihre Maschinen schon viel früher hergeben. Nun ist’s halt auch bei uns droben aus.»

Der Vater machte kehrt und begann das Weglein hinaufzusteigen. In Vaters Stapfen tretend, folgte Ferdi. Nach einer Pause nachdenklichen Schweigens hörte er den Vater vor sich hinsagen:

«Janu, es hat wirklich keinen Wert, den Kopf hängen zu lassen. Jetzt gehe ich halt jeden Tag auf die Reise. Man wird mir die Türe nicht überall vor der Nase zuschlagen. – Ein Sprichwort heisst ja: Vogel friss oder stirb, jaja, friss, oder stirb …» Und Ferdi dachte: Welch ein Unterschied zwischen meinem Vater in der vergangenen Nacht und dem von heute Vormittag. Auch die Worte seines Lehrers kamen ihm wieder in den Sinn:

«… gell Andereggli!»

Die Mundarten Innerrhodens, des Hinter-, Mittel- und Vorderlandes

Wenn ich näher auf die einzelnen Mundarten der beiden Halbkantone eintrete und dabei die vier Gruppen Hinter-, Mittel-, Vorderland und Innerrhoden bilde, so ist das recht ungenau, weil von Dorf zu Dorf, ja von Dorfteil zu Dorfteil deutliche Unterschiede bestehen.

 

a) Die innerrhodische Sprechart ist die älteste und wohl auch am reinsten erhaltene. Der Innerrhoder spricht ziemlich schnell und besonders melodisch. Er näselt gerne und spricht verschiedene Laute ähnlich wie der Franzose, z. B. ‹taaze›, ‹Doof›, ‹i meenes›, ‹me chööd›. Für ei in den Endsilben spricht er ä: ‹Grechtigkät›, ‹Obrigkät› oder eher ‹Oberkät›. E spricht er in vielen Fällen als ö, z. B. Gsöll, höll. Der Innerrhoder lässt mehr Konsonanten wegfallen als der Ausserrhoder, z. B. ‹Beg›, ‹i mekes›, ‹mer gööd›, ‹mer hööd›. Im übrigen weicht die Sprechweise der sog. Oberdorfer, das heisst der Leute vom ‹Dorf an der Sitter› nach aufwärts, wesentlich ab von derjenigen der Gegend von Haslen oder der Gontner. Früher wenigstens sagten die Haslener und Gontner Suu, buue, truue, nüü, die Oberdorfer aber Sau, baue, traue, neu.

Mundart von Innerrhoden (Appenzell)
Em letschte Sonntig im Hebschtmoned goht alls im Land a d Hoferchülbi. Seb Johr iss en prächtege Tag gsee, ond die Buebe ond Meedle sööd scharewiis em Doof zue zoge. Au vo Goonte her lauft en gaaze Schopl de Landstrooss noi. S Sefeli ischt au debei gsee; i ehrem höbsche, fabege Trächtli hets gär neckig dreegseä. Di goldblonde Chruseli heed loschtig vom Stoffelchäppli vöreggugged, ond di blaue Auge heed gglinzeled wie zwee Steene. Het die Buebe ond Meedle scho of em Weg e löschtegi tunkt, ond si heed kum möge gwaate, bis s heed chöne taaze. D Zöchesch Mile het mit ehrne gloggehölle Stimm e glunges Tratzliedli gnoh; die Pääli heed denand iighenkt ond de gaaz Weg vespeit. Vo ale Siite ischt Gaschtig is Doof choo. Os ale Weetschafte het löpfegi Musig gchette. Wo die Goonter Taazlüüt d Sandgrueb uuf sööd, cheit ehre os em Pfaue e Walserli entgege. «Nüd au Mile, me gööd wider in Pfaue, ischt doch a de Narregmeend malefiz loschtig gsee», säät s Sefeli. Die Buebe ond Meedle sööd iiverstande gsee. Si hets waul chöne verstole ha, wer as im Pfaue of si waati.
[Ausschnitt aus Walter Kollers Erzählung Zwää Chrüz am Weg.]

 

b) Die hinterländische Sprechart bemüht sich, weniger ausgeprägt allerdings als das Innerrhodische, sich gewisser Konsonanten zu entladen; namentlich die Doppelkonsonanten ll und nn werden abgeschwächt, so dass es heisst: z Urnäsch hene heds Hene, de Hond beled, d Senehönd belid ond triibid d Chüe zom Brone n ane. Hinterländisch ist ferner: drüü, Chnüü, süü, weire, zeire, Zei, määe. Die Endsilbe der Eigenschafts- und Umstandswörter ist oft ch, z. B. schülech, ordlech, fröhlech. In Waldstatt traf ich oft ältere Leute, die das ll nach i und e in gewissen Wörtern deutlich mouillierten, z. B. Millimeter, hell, gell.

Mundart des Hinterlandes (Herisau)
Nei gwöss, so wie min Fründ, de Leberle z Amerika, het niemert di ganz Johrmartherrlichkeit kennt ond gnosse. Scho drii Woche vorane ond zwoo dröberabe ischt ken andere Gedanke i sim Chopf ine gstecket, ond üüs Gspane het er allizeme mit siner Begeischterig aagsteckt. «Du, Leberle, gets hür vil Bude?» – «Gell Leberle, mer gönd denn mitenand!» – «Leberle, was für en Zirkus chont damol?» – De Leberle het aber gad d Achsle zockt ond ischt nüd recht usegrockt mit de Sprooch, wie wenn er en Gmändrot wär, wo sött e n Uuskunft gee, ond sät, es tüeg em läd, er chönn nüd diene; es sei halt e n Amtsgheimnis.
Bi ale Fuermane het er si i dere Zit aagfründet, dass er zerscht ine wer, wenn s müeset d Komediwäge vo Flowil ufe füere ond wie menge ond mit wie mengem Ross. Ond denn ischt er ene bis of Goosse abe entgegegsprunge ond mer andere Buebe zwee, drii Schrett henedree. Ond gspässig isch gsee: Wenn mer gwönderig üseri Nase i n ali Schronde ine hend wele stecke, so hend üs d Komediantelüüt bös eweg gjagt ond de Hond aagrääzt; aber de Leberle het töre met ene plaudere, wie wenn em ali alti Bekannti wäret.
[Ausschnitt aus Walter Rotachs Erzählung Min Fründ, de Leberle, am Johrmart.]

 

c) Die mittelländische Sprechart, gesprochen im Raume zwischen Rotbach, Sitter und Goldach, kennt in den Gemeinden Teufen, Bühler und Gais nur sehr geringfügige Unterschiede, während in den beiden nördlich des Gäbris liegenden Dörfern Trogen und Speicher leicht feststellbare Abweichungen von der Sprechart der übrigen drei mittelländischen Gemeinden vorkommen. Gais: Gamèlle, Trogen: Gamélle; Gais: En Becher hèll, Trogen: En Becher héll; Gais: E leijigs Höckli; Trogen: E leijis Höckli (g fällt weg); Gais: zmitzt inne, Trogen: zmetzt ine; Gais: äägelig, Trogen: äägeli (g fällt weg); Gais: mit, Trogen: met; Gais: Sonntig, Trogen: Sonti. Der Mittelländer sagt: Chneu, dreu, seu, traue, baue, saue, hönne, dinne, Henne, schuulig. In der Speicherschwendi unten trifft man schon Kurzenbergisches an, z. B. Mèni, schuli und schò (schon). Die Dialekte von Teufen und Bühler (politisch und kirchlich bis 1723 vereinigt) können kaum voneinander unterschieden werden, was im ganzen Kantonsgebiet von keinen zwei andern Gemeinden gesagt werden kann.

Mundart des Mittellandes (Gais)
Vor meh as hondert Johre ischt en Maa, wo noch e paar Jöhrli wider emool os de Frönti hää of Tüüfe choo ischt, ammene Samschtigoobed bimmene Weertshuus zuegchehrt, wil er hed wele en Schoppe trinke. Noch eme Wiili chood er mit eme jüngere Maa, wo am gliichige Tisch zui hocket, is Gsprööch. Dr Oswertig hed eerber näbe gmörkt, as sin Tischnoochber kän Närr ond alemaa en Tüüfner ischt.
Nono: ää Woort geed s ander, ond bald sönd die zwee iifrig am Tischgeriere. D Ufwäärteri hed gad noodlig mit Iischenke; ää Chäntli Foorschtwii noch em andere chood of de Tisch. Zmool isch es Zit zom Häägoh. Bim Goetnachtsäge hett de Frönt allbereits e Schlägli öberchoo, wil d Ufwäärteri zo sim Weertshusgspaane sääd: «Goetnacht Herr Pfarrer ond schloofid wohl.» De Frönt töd nüd wie mörke, gohd d Stege n aab ond tenkt: Ho aseweg, en Pfarrer ischt daa! Deä hed ono eerber en goete Schlock!
[Ausschnitt aus Heinrich Altherrs Originalbeitrag.]

 

d) Die vorderländische Sprechart weicht von den übrigen am stärksten ab. Indessen nähert sich der Kurzenberger Dialekt am meisten dem Schriftdeutschen. Auch sind im Vorderland die Unterschiede von Gemeinde zu Gemeinde am grössten. Typisch für alle Vorderländer ist, dass sie das g verstossen; sie sagen: Zitti, Mani, e prächtis Tier. Einiges dehnt der Vorderländer auffällig, z. B. Ziit, süüs, anderes hingegen schärft er, wie z. B.: Wurscht, Turscht. Den Diphthong ei spricht der Kurzenberger wie: Wéier, néinéi. Der Vorderländer spricht oft a, wo der Mittel- und Hinterländer ä sagen, z.B.: elaa, Baa, aas, zwa, umgekehrt éi, wo die übrigen Appenzeller ä sprechen: er séid (er sääd), er léid (er lääd); i beim Vorderländer , wo im übrigen Appenzell e, z.B. gsii–gsee, bschisse–bschesse, wisse–wesse. Die Vorderländer sagen Vógt statt Vògt; umgekehrt Kantò statt Kantó, gòh, stòh, Lòh statt góh, stóh, Lóh. Oft sagt er u, wo die übrigen Appenzeller o sprechen, z. B. Gutz–Gotz, Lupf–Lopf, Gupf–Gopf. Eigentümlich sind dem Kurzenberger die Diphthonge öu und ou; höusche, röue, Frou und Tou. Als vielleicht auffallendste Eigentümlichkeit ist zu vermerken, dass der Vorderländer k am Wortanfang nicht als ch, sondern als k ausspricht: Kriesi, Kurzeberg, Kres oder verkönde. Zur Zeit von Titus Tobler, also vor etwa 120 Jahren, sprachen sie in Walzenhausen noch Lònd (Land), en Mònn (ein Mann) und e Hònd (eine Hand).

Mundart des Vorderlandes (Walzenhausen)
Wo mier no ali segs Gschwüschterti dehaam gsi sönd, ischt d Oschtere n all e groosses Fescht gsi.
Am Samstimittag scho sönd mini beid Brüeder ond ii i d Sonnhalde n ai ond i d Nasewaad gi Buggele (1), Hondshoode, Zitterloose ond Suküechli sueche. Bülleschelfere ond rots Kafipäcklibapiir häd d Muetter scho e Zitlang zämmephalte ond o e ganzes Becki voll Eier parad gchaa. Mit Fadeschlag hammer das alls om d Eier ommiponde, jedes so schö as sis köne hed.
Am Oobet hed denn de Vatter Guschnille immene Tüllbletztli zämmeponde ond di iipackte n Eier mit dere Farb innere groosse Kupferkachle inn gsotte. Mit de Schumkelle hed er s hofeli in e Becki mit kalt Wasser gleit ond mier hand fascht nöd möge gwaarte, bis mier gsäche hand, was alls uf dene schö violettroote n Eier abtruckt hed vo üsere ‹Vebänd›.
[Ausschnitt aus Martha Kellers Originalbeitrag.]

(1) Buggele sind Wiesenkerbel, Hondshoode das Geblätt der Herbstzeitlose,
Zitterloose heisst die Schlüsselblume, Suküechli bezeichnet Löwenzahnblätter,
Guschnille (frz. Cochenille: Schildlaus) dienen der rotvioletten Einfärbung des Suds.

En chlinne Held

En aardlige Kärli sei de Lehrer Nagel scho aade gsee, hönd d Lüüt im Döörfli gsääd; ond Fraue heds ggee, wo hönd wele haa, en Tröchlig, ebe so en Schuelmeischter, sei er no dezue ane. D Manne wider hönd uuszsetze gchaa, dass de Lehrer alewil dehääm hocki. Früener hed en öppe n emool näbed, vilecht näbes e giftigs Stickerli, gfrooged:

«Herr Lehrer, chönd Ehr nüd au i d Füürwehr, in Männerchoor oder i d Männerriige?» «Hetocht en Narre, för derig tomms Züüg ha n i e kä Zit. S wäär gschiider, d Lüüt wöörid leerne, echli meh tenke n as jasse n ond chegle. Meh tenke sött me, tenke …»

S ischt wohr: au i de Schuel heds Tage ggee, wommer em nütz hed chöne recht mache, ond wonner de ganz gschlage Taag näbes z södere gchaa hed.

«Hescht wider Chopfweh, Baschtia?» hed en d Frau a n asstige Tage gfrooged, wenn er em Veschper noch de Schuel i d Wonig uichoo ischt, «söttscht halt au wider emool echli früener is Bett, nüd all lese bis i ali Nacht ie», hed si hönnedree amel no prommled. Au i de Lehrerkonferenze hed de Lehrer Nagel ehner zo de Stillne gchöört. Aber wenn er emool ufgstande n ischt, zom näbes zommene Thema z säge, denn hed daa, wanner gsääd hed, Hend ond Füess gchaa. Meischtens hed er aagfange: «Goethe sagte einmal …» oder: «Hegel schreibt …»

I de Schuel ischt er wie gsääd efange n echli en Söderi gsee. Bim Rechne n oder i de Sprooch hed er bi jeder Glegeheit – ond immene Taag sicher dreu Totzed Mool – zo de Schüeler gsääd: «Sinnid noi! Zeerscht tenke n ond denn schwätze! Nüd för fööf Rappe hescht jetz graad wider noitenkt, Jakob!»

Dass er tenke hed chöne, seb wett i nüd abstriite. Ond zwoor hed Tenke bi em nütz z tue gchaa mit Schläui oder mit Vöörtele. Tenke n ischt för ehn näbes gsee wie n e Turnüebig, wonner mit eme n Iifer betrebe hed, wie ander öppe s Chäärtle.

«Schaarf ond grüntli tenke, da ischt s hööchscht, wos för en Mensch chaa gee. – Es lebe die Vernunft!» hed er emool zom Herr Pfarrer gsääd. Ond de Herr Pfarrer droffabe n off s Woort: «Herr Lehrer, vergessid Si nüüd, dass i de Bible stohd: ‹Sehet zu, dass euch niemand beraubet durch die Philosophie›.»

No goet, ammene schöne Sommertaag hed de Lehrer Nagel e n Erlebnis gchaa, wonem en schöne Tääl vo sine n Aasichte bimmene Höörli öber de Huffe gworfe hett.

Ammene Vormittaag, wo d Määtle n i dr Aarbeitsschuel gsee sönd, hed de Lehrer Nagel mit sine Boebe n off Liib ond Seel Tenksportufgoobe glööst. Off ämool chlocked näbed a d Töör. De Lehrer gohd usi. Noch eme Wiili chood er mit eme blääche, schwarzhöörige n ond pringe Possli wider ine.

«Wie häässischt?» frooged er de neu Schüeler.
«Alberto», sääd s Böebli schüch ond leesli.
«Ond wie no meh?»
«Fumasoli.»
«So ase, Alberto Fumasoli; lue, dei im zweithönderschte Bank heds graad no e Blätzli för dii.»

E paar Boebe pfnotterid öber deä gspässig Namme vom Neue. Dr Alberto gohd mit gstäbige n ond oosichere Schrette zwüsched beide Schuelbankreije zo sim Blatz hönderi. D Boebe treijid d Chöpf, machid ali erstuunti, gwöndrigi Auge n ond siend, dass es em neue Schüeler om s Muul omme n aardlig zockt. Eerber wädli isch es aber uus mit dere Vorstellig. De Lehrer rüeft: «Ufpasse!» ond sääd e neui Ufgoob. Noch eme chorze Wiili stönd ali die, wo d Ufgoob hönd, bolzgraad i erne Bänk inne.

Noch e paar Ufgoobe isch es em Lehrer ufgfalle, dass dr Alberto no nie ufgstande n ischt. «Chaascht tütsch?» frooged en de Lehrer.

«Jojo, goet», wooged de Neu z säge.

«Also denn, sinn noi, dass d au emool ufstoh chaascht», pfuused en de Lehrer eerber schaarf aa.

Mit chridewiissem Gsicht, mit glinselige n Auge n ond zettrige Hende n ischt da Pöörschtli dooghöckled ond hed weder ii no uus gwesst. All ander om en omme sönd wider gstande, gad de Fumasoli ischt chlii ond ooschiiber, wie n e jungs, oobholfes Rehli, zwüsched hööche Tannestämme n inne n a sim Blatz gchuured.

«Wa, Fumasoli, du bischt gad en derige! Pass goet uuf, i säg dr d Ufgoob no emool.» –

Aber s ischt nütz z wele gsee vom Alberto. D Boebe lachid öberlege, as öb seu d Gschiidi chellewiis gschlocked hettid. De Lehrer schöttled de Chopf ond södered:

«Bi n i jetz no nüd gnueg gstrooft mit dene sibezeä Stöck, wo n i scho do inne ha; mos jetz no en achzeäte choo? Äää, bhöetis trüüli … Hä, Fumasoli, chonnts? … Sinn noi!»

Gottlob heds denn bald i d Pause gschelled. De Lehrer hed d Töör uftue, ond dosse n ischt da Schäärli gsee.

De Lehrer Nagel lääd beid Hend onder em grauliinige Kitteli off de Rogge n ond spaziert zwüsched de Schuelbankreije hii ond heer. Zwüschedie gohd er emool as Feeschter, lueged off de Schuelplatz abi ond brommled vor si ane:

«Jo natüürli, da passt dene Goofe jetz wider!»

Sid zwee oder drei Tage stönd nämli e paar blau ond wiiss gstrechni Komediwäge n off em Schuelhuusplatz. ‹Varieté Eldorado› ischt mit groosse Buechstabe n a d Wänd vo dene Wäge n anegmooled gsee. Jetz träägid d Lüüt vom ‹Eldorado› – Manne n ond Fraue, ali i blaue n Öbergwändli – Bretter, Stange, Läätere n ond schwääri Plachenepüntl oss de Wäge n usi is Egg vom Schuelhuusplatz hönderi. E paar Oberschüeler hölfid scho wacker ond boggelid biigliwiis Chlappstüel in Haag ane.

Echli absiits, bimmene chlinnere, no bschlossne Komediwage, stohd e Schäärli Boebe n immene phaabe Halbkreis binenand. En Aff hocked off de Wagetiechsle n ond chafled ammene Rüebli. Zmool rüeft en Boeb: «Chomm Bimbo, chomm!» ond trätzled dr Aff mit eme n aapessne n Epfel. Dr Aff töd aber nüd wie mörke n ond lueged oovertraut oss sine chlinne, wässerige n Äugli ommenand. I de Nööchi vom Bimbo ischt off em Bode n e faarbigs Tuech uusprääted. Off dem höckled e chliis, blonds Gööfli ond töckeled mit Holztierli.

Jetz wooged en Boeb oss de Klass vom Lehrer Nagel, echli wiiter vörezstoh. Er streckt em Aff e Brootrende n ane. Off ämool rassled d Chettle. Dr Aff jockt em Eggerli off d Achsle n ond zücht em Boeb beid Vorderfüess zmitzt öber s Gsicht abe. Zom Glöck hed d Chettle nomme wiiter glanged. D Boebe verschreckid ond schüüssid zrogg. E Wiili isch es om dr Aff omme müüslistill. E paar Boebe töselid verlege devoo.

Die, wo bliibid, siend aber, dass d Chettle gstreckt zwüsched de Tiechsle n ond em Hals vom Bimbo hanged. Da geed ene neus Guraaschi. Si wörfid Stääli, aapessni Epfel ond Brootbröckli vor d Füess vom Aff. Wereddem hed dr Eggerli noigsinned, wie n ers em Aff ommezale chönnt. Er springt in Stuudehaag ani, brecht e Roete n aab ond chood wider zrogg.

«So, du nützigs Chögli, deer will i scho tue för s Chretze», sääd dr Eggerli mit eme n aardlige Lächle n off sim verchratzete Meerzedreckgsicht. Er streckt d Roete wiit vöre n ond chützeled dr Aff mit de vorderschte Bläckli vom Stüüdeli am Buuch. Dr Aff zockt – ond uus isch es mit sinnere Geduld ond Goetmüetigkeit. Off ämool jockt er hööch uuf, fallt federig in Bode n abe, macht si chlii ond schüüsst wider wie n e Chugle n oss em Rohr i d Hööchi. Er jockt hii ond heer, ropft a de Chettle n ond töd wie n en Ooflood. D Boebe lachid ond wiichsid.

S Böebli vo de Buudelüüt hed sini Holztierli off d Siite glääd. Monter ond ohni z mörke, wa doo passiert, isch es off ale Vierne n ommenandgchroche.

Off ämool rüeft en Boeb luut:

«Au, d Tiechsle!»

Eerscht jetz hönd au di Andere gseä, dass da Brett, womme n as Stötze n onder s vorder Tiechslenend gstellt hed, bi jedere Bewegig vom Aff e Bröckli wiiter vöre grotsched ischt. Himmel, scho ganz schreeg stohds! Ond s Böebli! Preziis onder de Tiechsle n isch es i dem Augeblick ghöckled. Blääch ond mit Heerzchlocke sönd d Boebe doogstande. Waa mache? – Wenn dr Aff no emool a de Chettle ropft, denn schmettered d Stange n em Böebli pätsch off de Chopf abi.

Dr Alberto hed nomme lenger chöne zueluege. Mit ere haschtige Bewegig zücht er sini blaue Hose n ui. En Jock, ond scho ischt er onder de Tiechsle. Er packt s Böebli vo de Buudelüüt am Lismerli ond schrenzts wädli e Bröckli off d Siite. Scho ischt de Bimbo doo. Hoor flüügid. Aber dr Alberto, tifig wie n e Weseli, stohd scho wider a sim aalte Blätzli, schnuufed zwää-, dreumool tüüf ond töd denn, as öb nütz Ossergwöhnligs passiert wäär. Im nööchschte n Augeblick chlapped s Brett off de Bode, di schwäär, herthölzig Tiechsle pätscht öppe n en halbe Meter nebed em Chruselchopf vom Buudeböebli off s Chees vom Schuelhuusplatz. Niemed säd e Woort. Alls lueged denand aa …

Dr Eggerli stohd vor de Neu hee, stuuned deä blääch, pring Boeb aa, versteckt mit ännere Hand sini Chretz i de Bagge n ond mänt denn eso tuuchezügs:

«Hei, du, da ischt denn öppe n allerhand gsee vo deer, du – wie häässischt? – So, Alberto, Al – ber – to …»

Em letschte Tääl vo dem Affetheääterli hed dobe n am Schuelstobefeeschter au de Lehrer Nagel zueglueged. Wonner gseä hed, om waas dei onne gohd, isch es au em chaalt ond waarm de Rogge n uuf ond aab gfahre. S wäär jetz enaard Zit gsee zom Schelle. Aber wil alls eso goet abglaufe n ischt, hed er wädli no en Stompe zor Tischzüche n uus gnoh, hed en aazöndt ond e paar uumächtig Räuch usiloo.

Noch eme Wiili hed de Lehrer Nagel zwüsched zwee Zöge vo sim Stompe langsam ond fascht fiirlig vor si ane gsääd:

«Hm, da hett i jetz dem tonndersch Pöörschtli doch nüd zuegmueted. – Kä Wonder, dass en groosse Dichter ammene n Oort gschrebe hed: ‹Um Gutes zu tun, braucht’s keiner Überlegung›.»

Ond wider e Wiili spööter hed de Lehrer Nagel tenkt: «Jo no, Alberto, wenigschtens hescht s Heerz off em rechte Fleck.»

Ammann, Julius

Spröch ond Liedli

Mi Ländli

Mi Ländli ischt e Schöpfigslied,
hed herrgottsschöni Strophe.
Fangt leesli met eme Jödeli aa.
Määnscht gwöss, s sei gad för d Goofe (1).

Drof wachst ond wachst die Melodie,
ää Versli höbsch am andre.
In ganze Hügelräije tued
das früntlig Liedli wandre.

Zletscht chonnt en Juuchzer, himmlisch froh,
chönnscht bleegge (2) fascht ond lache.
De Herrgott hed en use loo
metts dren bim Säntis mache.

 

En Appezellerhüüsli

En Appezellerhüüsli hed Frohsinn ond Verstand
ond luegt met helle Schiibe i d Sonn ond wiit is Land.

Ond send au Täfel vorne recht bruu ond höbsch verbrennt;
me werd bi üüs vom Wetter nütz möndersch as verwennt.

Drom hed au s Huus för d Kelti de gschendlet Tschoope n aa,
ond d Feeschter henne n osse mönd Regetächli ha.

Au Blitzableiterstange stöhnd nüd gad doo för nütz.
Sös wär jo so e Hüüsli e Fresse för de Blitz.

Es stohd i menge Gfohre ond gliich i Gottes Hand,
ond hed wie d Lüüt dren inne vil Frohsinn ond Verstand.

 

Im Säntis-Nebel

Gad för fööf Rappe blaue Himmel,
wie Loggmilch (3) Nebel chöbelwiis.
Glich ischs mer of em Säntis obe
hunggwohl fascht wie im Paradiis.

I bsinn mi zrogg. Vor vile Johre,
hetts nüd de tickschti Nebel kaa,
denn hett i dii jo gär nüd gfonde.
Mer wärid hütt nüd Frau ond Maa!

Wenn d Uussicht fählt, looscht d Iisicht walte.
So ischs of sebem Reisli gsee.
S hend of em Weg die Nebelgfohre
üüs beidi glöcklig zemmeggee.

Drom macht meer of em Säntis obe
dr tickschti Nebel nie Verdross. –
S werd hütt no dei käm Päärli öbel,
wenns d Liebi siglid met eme Choss.

 

D Appezeller Dörfer

Vo jedem Boggel siescht e paar.
Ond glich ischt käs am ääne,
all liid e Tobel zwüschetdren,
en Berg, me chönnt fascht määne,
s sei jedes schuuli gern elää.
So cha se si denn strecke
ond bräät vertue, hed Wasser, Sonn
ond Uussicht, fascht zoms schlecke.
S hed jedes Dorf sin äägne Zick,
si äägni Sprooch ond Tuged,
sin Stolz! Me sieds am Schuelhuus aa:
Die Lüüt tüend vil för d Juged.
Di henderscht Gmäänd ischt souverain,
do ischt no s Werche Mode;
ond glich spilt d Sonn met jedem Huus.
Mer send halt z Osserrhode.

(1)  Kinder
(2) weinen
(3) Schlagrahm

Amstein, Max

Spitalgedichte

II

Aus Backstein ein Kamin steht starr und gross
Vorm Fenster, und im Regenwinde
Die kalten Bäume pendeln hoffnungslos.
Du hast gefragt, der Baum ist eine Linde.

Den Giebel kannst du sehn, ein langes Dach,
In grossen Sälen liegen dort die Kranken.
Der schwarze Rauch jagt grauen Wolken nach.
Du siehst die nassen Äste trostlos schwanken.

Auf deinem Tisch sind Blumen aufgestellt,
Die Vasen und die Töpfe stehn in Reihen.
Ein Zeichen, dass man hier auf Ordnung hält.
Es fällt dir schwer, der Schwester zu verzeihen.

Sie lässt die Türe immer offen stehn,
Dann hörst du Stimmen und ein leises Wimmern.
Wie wärst du froh, die Schwester würde gehn
Und nichts erzählen aus den andern Zimmern.

Am schwersten wird die Nacht dir jedesmal,
Es geht herum auf leeren leisen Spuren,
Du hörst die Stadt und horchst auf das Signal
Der Bahn, mit der wir oft nach Hause fuhren.

 

IV

Die Schmerzen sind ein grosses, starkes Heer,
Sie haben immer schon in uns gelagert,
Jetzt, da wir schwach sind, müd und abgemagert,
Jetzt fallen sie gewaltig auf uns her.

Sie stürzen auf uns ein mit grossem Streit,
Zerschlagen unsre Wehr in tiefen Breschen,
Vielleicht, dass sie aus frühen Garben dreschen,
Was darin reif ist zu der frühen Zeit.

Die Schmerzen sind von roter Glut ein Pflug.
Die Hand, die ihn so unerbittlich leitet,
Vielleicht, dass sie uns fasst und neu bereitet
Den Grund, den sie so fürchterlich zerschlug.

 

XII

Die Alten gehn mit ihrer leeren Last
Im Garten um, die Frauen und die Greise.
Die Böschung ist verschüttet von Morast,
Dort liegen welke Blumen haufenweise.

Und Küchenmädchen tragen Kübel fort.
Das Wäscheauto hupt zum Haus der Schloten,
Und blasse, schwarze Menschen warten dort.
Auf einer Tafel steht Durchgang verboten.

In dünnen Wiesen, wo kaum Gras gedeiht,
Stehn auf den Stangen blaue Einbahnscheiben.
Und hier wie überall verrinnt die Zeit,
Und andre Kranke kommen, gehn und bleiben.

Ascher, Otto

Wo die Lichter sind, ist die Schweiz!

Am 12. November packt Mutter das Notwendigste in eine ‹Aktentasche›, und Vater fährt mit dem Zug Richtung Westen, Richtung Schweiz. Irgendwie will er versuchen, über die Grenze zu kommen. Es gibt unzählige Gerüchte und ebenso viele Tips. Die Gefahr für alle jüdischen Männer wird immer grösser. Die Nacht zum 10. November hat gezeigt, wohin es geht …

Nur eine Aktentasche und möglichst unauffällig und möglichst schnell weg von den noch rauchenden Trümmern der Synagogen.

Mehr als eine Woche später kommt der erste Brief von Vater. Es ist ihm auf der von Freunden beschriebenen Route gelungen, illegal in die Schweiz zu kommen. Vorläufig ist er in Sicherheit in einem Schweizer Auffanglager.

Bereits im nächsten Brief schreibt er, dass er bleiben kann und beschreibt uns mit vielen Einzelheiten, wie wir an die Schweizer Grenze fahren und so wie er über die Grenze gehen sollen.

Mutter, die immer rasch entschlossen war, packt das Wenige, das man tragen kann, in zwei Rucksäcke für uns Buben und in eine Tasche für sich. Wenig Gepäck, nicht auffallen …

Wir lassen alles liegen und stehen, die Wohnung mit dem Gangklo, die Einrichtung, die Möbel, Kleidung, Wäsche, Schuhe und was man in vielen Jahren so erworben hat. Dann noch das Modistengeschäft in der Favoritenstrasse mit allem, was drinnen ist. Mutters Stolz, in dem die Ersparnisse von vielen Jahren Arbeit stecken. Mit allem Geld, das sie hat, und mit allem Schmuck, den sie hat, ziehen wir los.

Von der Schule haben wir uns abgemeldet und sogar so etwas wie eine Abgangsbestätigung bekommen, einen besseren ‹Kaszettel mit dem Stempel drauf›. Die Schulleitungen sind seit langem darauf vorbereitet, solche Bestätigungen auszustellen.

So wie es uns Vater beschrieben hat, fahren wir in Richtung Schweiz. Nicht über Innsbruck, sondern über München, weil dort die Überwachung des Bahnhofs durch eine um ein Jota weniger fanatische und idiotische SS-Truppe geschieht als in Innsbruck.

Gegen Abend, es ist schon dunkel, kommen wir in Hohenems an. Es ist der 23. Dezember. Wir gehen gleich in Richtung des Gasthofs, den Vater beschrieben hat. Vielleicht 20 Männer, Frauen und Kinder peilen den Gasthof an. Der Wirt ist dafür bekannt, dass er, ohne viel zu fragen, seine Zimmer vergibt. Der Gasthof ist nicht sehr gross. Der Wirt teilt seine wenigen Zimmer auf, wir teilen uns mit fünf oder sechs Leuten ein Zweibett-Zimmer. Die Betten werden den Kindern überlassen, die Erwachsenen schlafen auf Sesseln, auf dem Boden, irgendwie halt …

[…]

Der Wirt vermittelt uns auf Mutters Wunsch zwei Burschen, die uns helfen würden.

Wenig später kommen die beiden Burschen. Da Feiertag ist, dürften sie frei haben. Sie setzen sich an unseren Tisch. Sie sprechen gefärbt Vorarlbergerisch, aber auf unseren Wunsch nach der Schreibe und verständlich. Eine allein reisende Frau Grünwald möchte sich uns anschliessen. Das ist eine heikle Sache, weil die gute Frau nicht die Jüngste ist und auch nicht sehr flott aussieht.

Die Burschen erklären uns den Weg und machen auch eine Skizze. Sie bekommen die Hälfte der ausgemachten ‹Entschädigung› und versprechen, auf halbem Weg auf uns zu warten. Dann würden sie uns den letzten Teil des Weges zeigen und auch den ‹Rest› bekommen. Während der Erklärung der beiden passe ich auf wie der bekannte Haftelmacher.

Es ist der 25. Dezember, zum Glück bedeckt und ziemlich düster. Als es dunkel wird, brechen wir auf und nehmen Frau Grünwald mit.

Nach vielleicht einer dreiviertel Stunde durch den Wald, genau nach der Skizze unserer Lotsen, tauchen die beiden Burschen unvermittelt hinter einem Strauch auf und zeigen uns, wie wir weitergehen müssen. Sie bekommen, wie ausgemacht, den Rest ihrer Belohnung und tauchen so unvermittelt unter, wie sie aufgetaucht waren.

Dort, wo die Lichter sind, haben sie gesagt, ist die Schweiz, und gerade auf die Lichter müssen wir zugehen, um nach Diepoldsau zu kommen. Diepoldsau liegt zwischen dem Rhein und dem ‹Alten Rhein› als schweizerische Enklave.

Die erleuchteten Gebäude kann man gut sehen und auch das grösste, auf das wir zusteuern müssen.

Dass zwischen uns und unserem Ziel der alte Rhein liegt, haben unsere Lotsen nebenbei erwähnt, aber so richtig haben wir das gar nicht erfasst. Das Gelände ist sehr hügelig und verschneit. Unsere Frau Grünwald rutscht in fast jede Mulde hinein und wir helfen ihr gemeinsam wieder herauf. Für Augenblicke überlegen wir, ob wir nicht allein weitergehen sollten. Es könnte doch jemand auf uns aufmerksam werden, ein Grenzer vielleicht, der nicht so gutmütig agiert wie der vom letzten Abend …

Frau Grünwald hat unsere Gedanken erraten und verspricht, besser aufzupassen. So ziehen und krabbeln wir weiter und kommen zum Ufer des alten Rheins. Es ist ein fast toter Arm mit ganz wenig Strömung. Am anderen Ufer liegt Diepoldsau, aber das Wasser ist ziemlich kalt.

Während wir alle noch überlegen, ob wir da durch sollen, klaube ich einen längeren Ast auf, um die Tiefe des Wassers festzustellen. Es dürfte nicht sehr tief sein, vielleicht einen Meter, und den Stecken voran gehe ich ins Wasser, Richtung anderes Ufer. Mutter traut sich nicht, mich zurückzurufen und kommt nach. Joschi hat sie auf dem Arm, und wir tragen und ziehen unseren Kleinen durchs Wasser. Frau Grünwald marschiert brav hinterher. In der Mitte des alten Rheins geht mir das Wasser bis zur Brust.

Nach endlosen Minuten kommen wir ans andere Ufer und auf allen Vieren die Böschung hinauf. Wir helfen einander, bis alle oben sind. Die Kälte und Nässe merkt man gar nicht, die Aufregung wärmt in dieser Lage. Wir sind alle waschelnass, logischerweise. Zum Glück ist es nicht mehr weit zu dem hellerleuchteten Gebäude. Wir sind nach 10 Minuten vor der Türe.

Wir sind kaum im Gebäude drinnen, und schon werden wir von den Lagerinsassen in Empfang genommen. Sie sind nicht erstaunt und nehmen uns eigentlich mit Routine in Empfang. Man zieht uns die nassen Sachen aus, und jetzt erst beginnen wir zu frieren. Die Leute hüllen uns in Decken, reiben uns ab, und wir bekommen Schlafplätze auf Strohsäcken. Jemand drückt mir ein Stück Brot in die Hand und einen ungewohnt schmeckenden Käse. Noch während ich kaue, bin ich schon eingeschlafen.

Am nächsten Tag bekommen wir Frühstück und trockene Sachen zum Anziehen. Unsere eigenen Sachen sind noch nicht ganz trocken. Die Lagerinsassen sind daran gewöhnt, dass durchnässte Leute ankommen. Möglicherweise ist das Lager mit Bedacht an dieser Stelle errichtet worden. Hauptmann Grüninger, der die Anweisung zur Errichtung an dieser Stelle gegeben hat, mag sich schon etwas dabei gedacht haben.

Irgendwer hat inzwischen Vater verständigt und ihm gesagt, dass wir gut gelandet sind. Man sagt uns, am übernächsten Tag werde der ‹Hauptmann› kommen, und er werde entscheiden, ob wir bleiben können … Es sind gleichzeitig mit uns auch noch andere Flüchtlinge im Lager angekommen, die auch auf Hauptmann Grüninger warten müssen.

Der ‹Hauptmann› ist der Chef der Kantonspolizei St. Gallen und ein bescheidener und nüchterner Mann. Er hat das Elend der Flüchtlinge gesehen und sich entschlossen zu helfen mit allen Konsequenzen, die er dann später auch erleiden hat müssen.

Einem verängstigten kleinen Flüchtlingsmädchen hat er einmal gesagt: «Du musst jetzt nicht mehr weinen, jetzt bist du in der freien Schweiz.» Daran hat er geglaubt, und der freien Schweiz hat er sich verbunden gefühlt, trotz aller Bedenken …

Wir sprechen uns ab, wer was sagen soll, sobald der Hauptmann die -Leute befragen wird. Mutter meint, es wäre besser, wenn ich als ‹Kind› für uns spreche, und wir legen uns unsere Sprüche zurecht.

Dem Hauptmann erkläre ich dann, dass wir nur auf der Durchreise sind, weil wir in Kürze eine Einreisebewilligung in die USA erwarten. Sobald diese eingelangt wäre, würden wir nach Amerika abfahren.

Hauptmann Grüninger hört sich meine Sprüche geduldig an, ohne zu unterbrechen. Er hat diese und ähnliche Sprüche bestimmt schon einige Dutzend Mal gehört und weiss genau, dass die Aussagen und Behauptungen Versuche sind, ihn günstig zu stimmen. Er weiss bestimmt, wie es wirklich um unsere Affidavit steht, beziehungsweise nicht steht …

Wie alle anderen, die etwa gleichzeitig mit uns nach Diepoldsau gekommen sind, erfahren wir noch am selben Tag, dass wir bleiben können.

Einige Tage später fahren wir nach Wald-Schönengrund, wo Vater schon seit November lebt.

Soviel ich weiss, waren wir die vorletzte Gruppe, die von Hauptmann Grüninger gewissermassen aufgenommen worden ist. Mitte Jänner sind seine Befugnisse eingeschränkt worden, und alle Leute, die später illegal über die Grenze gekommen sind, sind zurückgeschickt worden. Wenig später ist dann Hauptmann Grüninger abgesetzt und aus dem Polizeidienst entlassen worden.

Vom Lager Diepoldsau werden wir nach Wald-Schönengrund gebracht und sind wieder mit Vater vereint. In einem ehemaligen Klöppelsaal bekommen wir Quartier. In dem grossen Raum stehen vier Betten, im Vorraum ist eine Waschgelegenheit.

Das Haus gehört Herrn Schwyzer. Er bewohnt es mit seiner Haushälterin, einer Verwandten, und mit seinen zwei Töchtern.

Die Leutchen sind nicht übermässig herzlich, eher verschlossen, am Anfang …

Der Hausherr ist ein geschäftstüchtiger älterer Herr. Wie alt, ist schwer zu schätzen. Er ist ein kleiner, drahtiger Typ, eher dünn und offenbar sehr zäh. Im Fränklimachen dürfte er Meister sein. Er ist Versicherungsagent, Vermieter, Helfer bei den umliegenden Bauern in der Erntezeit und auch als Schneeschaufler bei der Gemeinde tätig. Er ist ständig in Bewegung und unterwegs.

Seine Sparsamkeit ist beeindruckend und geht über das übliche Mass schon hinaus.

Etwas oberhalb ist ein Bauernhaus, in dem auch einige Emigranten einquartiert sind. In diesem Haus geht es nicht ganz so sparsam zu, auch wenn der Bauer seine Pfeife aus der Jauche holt und fein säuberlich abwäscht, wenn sie einmal hineingefallen ist.

Unsere ‹Klöppelwerkstatt› hat mit ihren kahlen Wänden nicht viel Charme, ist aber bei den Mäusen einigermassen beliebt. Sie krabbeln die halbe Nacht herum, auf der Suche nach Fressbarem. Das gibt es im Hause Schwyzer nicht im Übermass.

Der Hausherr ist eher knausrig, schneidet seine ‹Landjäger› hauchdünn und das Brot dick.

Wir werden im Gasthof ‹Adler› verpflegt, der unten im Ort an der Strasse liegt. Weit mehr Emigranten gibt es im Gasthof ‹Krone›, eigentlich die meisten. Der ‹Adler› ist gewissermassen die Dependance.

Der Ort Wald-Schönengrund liegt praktisch in zwei Kantonen. Der Ortsteil Wald gehört verwaltungsmässig zur Gemeinde ‹St. Peterzell›, eine schwache Gehstunde weit weg, und liegt im Kanton St. Gallen. Der Kanton St. Gallen nimmt Flüchtlinge auf. Der Ortsteil Schönengrund liegt auf der anderen Seite eines Baches, über den eine Brücke führt. Auf der anderen Seite ist schon der Kanton Appenzell. Der Kanton Appenzell nimmt keine Flüchtlinge auf …

Der kleine Kanton hat seine Eigenheiten, und die Appenzeller auch. Der Kanton liegt inmitten des Kantons St. Gallen, er ist praktisch eingeschlossen. Trotz der geringen Ausdehnung, 420 Quadratkilometer, besteht er seit 1597 aus zwei Halbkantonen. Appenzell Innerrhoden hat eine überwiegend katholische Bevölkerung, Ausserrhoden eine überwiegend protestantische. So hart sind die Sitten, und so kann man eben nur ‹fast Appenzeller› werden.

Die Milchwirtschaft ist der wichtigste Wirtschaftszweig und die Kühe und jede Menge ‹Geissen› das wertvollste Gut der vielen Kleinbauern.

An die Appenzeller muss man sich gewöhnen, wie an den Appenzeller-Käs … dann schmeckt er.

Auer, Eugen

Ein Appenzeller namens

Ein Appenzeller namens Merz,
der fasste sich spontan ein Herz
und sprach zu seiner Frau beim Kafi,
ich gehe morgen zum Gaddafi.
Frau Merz nahm noch ein Pralinee
und sprach, Hansruedi, oh herjeh,
so mach mir dort kein Durcheinander.
Er sprach, der Grosse Alexander
hat mit dem Schwert einst vehement
den dicken Knoten durchgetrennt,
den Gordus unlösbar geschlungen,
und was dem Perserschwert gelungen,
kann auch mein Landsgemeindesäbel.
Sie rief, das gibt mir ein Geräbel!
Er aber ging zur Ahnenwand,
ergriff den Säbel und entschwand.
In Libyen kam der Merz’sche Streich
dem Perserhieb an Kraft nicht gleich.
Vergleicht man beide miteinander,
ist Merz halt doch nicht Alexander.

 

Der Innerrhoder Carlo Schmid,
der sonst die Äussern Rhoden mied,
sprach jüngst in amtlicher Funktion
durchs nagelneue Mikrophon
dem hiesigen Kantonsrat vor.
Derselbe sah zu ihm empor
und hörte Worte, die ihn rührten.
Es hiess, die Innerrhoder spürten
nun plötzlich doch Gemeinsamkeiten,
es lebe ja auf beiden Seiten,
in jedem Appenzeller Busen,
das Zauren, Ratzen und Rugguusen.
Dem Innern Land seis dran gelegen,
derart Gemeinsames zu pflegen
und Trennendes zu überwinden
und Ausserrhoden einzubinden
ins Zentrum für Musik in Gonten,
es gebe dafür Spendenkonten
bei Post und Appenzeller Bank.
Der Präsident des Rats sprach Dank
und die Regierung Hunderttausend,
und der Kantonsrat klatschte brausend.
Den schönen Anlass untermalte
Herr Köbi Freund, der freundlich strahlte
und Hackbrett spielte polyphonisch.
Wie harmonisch!

 

Ein Appenzeller namens Schwitter
war tief betrübt, es ging ihm schitter.
Der Sohn als Fixer jüngst entmündigt,
die Stelle bei der Post gekündigt
und seine Gattin ausgezogen.
Vom Schicksal rundherum betrogen,
lag eines nebelgrauen Tags
er in der Enge seines Schlags
und wusste nicht mehr aus noch ein,
kurzum er war ein armes Schwein.
Er trank die Vortags-Kaffeebrühe,
entstieg dem Bett mit Not und Mühe
und sagte sich, mein trüber Grind
braucht dringend etwas frischen Wind.
Durch Nebelnass und Morgenkühle
fuhr er per Bahn nach Zürchersmühle,
weil er auf die Idee verfiel:
Hundwilerhöhe heisst mein Ziel.
Bis Ramsten war der Nebel dicht,
dann schimmerte das Sonnenlicht
als fahle Kugel durch das Grau.
Bald funkelte der Morgentau
und alle Welt war Glanz und Glitter.
Am Gipfel angelangt ging Schwitter
ins Gasthaus, wo er Suppe roch.
Die Höchi-Wirtin Marlies Schoch
bat ihn zu sich auf ihre Bank.
Ihr schien, der Mann sei seelisch krank,
weshalb sie ganz behutsam fragte,
ob ihn vielleicht ein Kummer plagte.
Bei Schwitter kam ein Damm zum Brechen.
Erst tropfenweise, dann in Bächen,
ward, was an Leid sich aufgestaut,
der Höchi-Wirtin anvertraut.
Sie hörte zu, verständnisvoll,
sprach ab und an, jo grad, moll, moll,
und irgendwann stieg Schwitter munter
mit neuem Mut ins Tal hinunter,
und sah mit grosser Zuversicht
grünes Licht.

Bänziger, Paul

Geschichten um den Büscheler

Die Büscheler befinden sich, heisst es, gerne in den Nagelfluhgebieten der Voralpen. In diesen uralten Gebirgen ist manches aus den Urzeiten geblieben, nicht nur kleinere Fels- und Waldgeister, sondern auch ältere Wesen, von denen wir Heutigen nur noch selten etwas erahnen.

Eines dieser Gebiete sind die Gröppen. Die Gletscher in den Eiszeiten haben sie nicht überdeckt und kein breites Tal herausgehobelt. Der Gröppenfluss musste sich daher selbst durch das Gestein nagen. Gelang es ihm, grössere Hindernisse zu durchbrechen, entstanden tiefe Schluchten, in denen das Wasser, wenn etwa eine lockere Stelle der Nagelfluh dies ermöglichte oder wenn ein grösserer Geröllbrocken in der Strömung während Jahrtausenden mahlte, tiefe Becken ausgespült hat. Das Geschiebe legt der Gröppen auf breite Schotterebenen ab, welche der Fluss in mehreren kleinen Bächen durchfliesst. Je nach Grösse werden diese Schottergebiete von den Anwohnern ‹Boden› oder ‹Bödeli› genannt. […]

Der Pfarrer von Wald liebte es, in diesen Nagelfluhgebieten zu wandern, wobei er die von Touristen besuchten Gebiete tunlichst mied. So ging er eines Tages auch durch das Gröppental. Es war noch früh am Morgen, die linke Talseite lag noch im Schatten, und die hohen Tannen und Ahorne, die dort das Strässchen säumen, verbreiteten ein kühles Halbdunkel. Wie der Pfarrer durch den Alpmorgen schritt, bald die lustigen Kaskaden eines Bächleins betrachtend, das, den Weg überfliessend, das Weitergehen hemmte, bald durch die Tannen auf die Südseite schauend, wo die ersten Sonnenstrahlen in den Sieben Lärchen spielten, löste sich plötzlich ein Mann aus den Büschen der Nordseite und trat auf den Wanderer zu. Der Pfarrer erschrak; bevor er aber etwas sagen konnte, sprach der Fremdling: «Eer Pfaffe händ s Wäse nöd, s Wäse händ er nöd.» Dann, ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand der Mann über die steile Böschung hinunter in die dichten Tannen beim Gröppen. Wenn man den Pfarrer bat, den Mann zu beschreiben, konnte er keine näheren Angaben machen. Es sei, nach dem Benehmen zu schliessen, ein Büscheler gewesen, sagte er, ein Mann aus den Wäldern. Eine Pelerine habe er getragen, wie man sie etwa bei Schäfern sieht, und einen grossen, breitrandigen Hut, so dass man das Gesicht nicht deutlich habe erkennen können. Dennoch habe man seinen Blick gespürt.

An einem schönen Juninachmittag hat der Pfarrer von Wald den Büscheler ein zweites Mal gesehen. Er hatte einen Freund mit dem Velo ins benachbarte Städtchen begleitet. Bei der Rückfahrt fühlte er beim alten Gasthaus an der Furt einen fast unüberwindbaren Drang, dort einzukehren. Dies fiel ihm auf, denn er pflegte nicht Wirtshäuser zu besuchen, und trotz des schönen Wetters war er auch nicht besonders durstig. Ausser ihm war noch ein zweiter Gast in der Wirtsstube. Er sass auf der Bank beim Ecktisch, dort, wo die beiden Bankseiten zusammenstossen, lehnte sich weit über den Tisch und umschloss mit den Händen ein Bierglas. Es musste ein alter Mann sein, denn seine unordentlich herunterhängenden Haare waren weiss, die Hände gefurcht, und auch das wenige, was man vom Gesicht sah, war nicht nur verwittert, sondern trug viele Merkmale langen Lebens. Neben ihm auf der Bank lag eine zusammengeknüllte Pelerine und darauf ein grosser Lodenhut. Der Mann beachtete den eintretenden Pfarrer anscheinend nicht. Er schien in eine Art Selbstgespräch vertieft zu sein, denn man hörte ein leises Gemurmel, und auch das Gesicht bewegte sich, wie wenn der Mann spräche. Der Pfarrer bestellte eine Stange Bier und nahm ein paar Züge, konnte dabei aber nicht lassen, den anderen seltsamen Gast zu betrachten. Da stand dieser plötzlich auf, trat vor den Pfarrer, hielt ihm seine mächtige Faust drohend schüttelnd vor das Gesicht, und sprach die gleichen Worte, die der Pfarrer schon in den Gröppen gehört: «Eer Pfaffe händ s Wäse nöd, er händ s Wäse nöd.» Und nach kurzem Zögern: «Natur und Geist; Natur und Geist.» Dann trat der Mann zurück, holte Pelerine und Hut, zahlte der Wirtin beim Hinausgehen und nickte nur kurz zum Abschied.

Die Wirtin, die bemerkt hatte, dass der Pfarrer völlig ratlos da sass, trat zu ihm und sagte: «Kennen Sie den Büscheler nicht? Er kommt so ein-, zweimal im Jahr hier vorbei, spricht aber nichts. Heute habe ich ihn zum ersten mal reden gehört, als er …» Die Wirtin stockte. Sie wollte nicht wiederholen, was der Büscheler gesagt, denn es war ja nicht gerade schmeichelhaft für den Pfarrer. Dieser erkundigte sich: «Wissen Sie sonst etwas über den Mann?» «Er lebt im Wald, hat keine feste Behausung. Man weicht ihm aus, denn er redet mit den Pflanzen und Tieren. Und er ist ungeheuer stark. Man sagt in den Gröppen, er habe mal ein Kalb, das sich verirrt hatte, den ganzen Kohlwald hinauf getragen, als ob es ein kleiner Hund wäre.» «Hat denn der Mann keinen Namen?» «Den kennt man nicht. Ich weiss auch nicht, warum man ihn den Büscheler nennt, denn ich kenne niemanden, der von ihm Büscheli (1) gekauft hätte. Von ihm nicht und vom andern nicht.» «Vom andern Büscheler? Gibt es denn zwei?» Die Wirtin schaute vorsichtig um sich, fasste aber dann Mut, denn es war ja der Pfarrer von Wald, der mit ihr sprach, und der böte sicher Schutz. «Die alte Mettlerin hat mir gesagt, sie habe einmal zwei Büscheler gesehen, hinten in der Kohllochhöhle; sie sassen vor der grossen Höhle. Und einer davon war der Büscheler, der jetzt bei mir war; die Mettlerin hat ihn mir genau beschrieben.» «Und der andere?» «Den konnte die Mettlerin nicht so deutlich sehen. Er sei im Schatten tiefer drin in der Höhle gesessen. Es sei aber der, hat die Mettlerin weiter behauptet, den es schon immer in den Gröppen gegeben. Manchmal reite er auch, und darum heisse es gegen den Alpstein zu ‹Rappenloch›. Er habe einen schwarzen Rappen.» Mehr wusste die Wirtin nicht. Der Pfarrer zahlte, bestieg sein Rad und fuhr nach Hause. Es war ihm sonderbar zumute. Als Pfarrer von Wald hatte er schon manches von alten Wesen, Waldgeistern und auch Zauberern und Hexen vernommen. Er hatte sogar lachend zu Freunden bemerkt, er müsse nicht in die Mission gehen, um Götter fremder Kulturen kennenzulernen, wie er dies ursprünglich gewollt, er hätte hier Gelegenheit genug, mythologische Kenntnisse zu sammeln. Aber der Mann im Wirtshaus war keine mythische Figur, er war real, hatte sein Bier getrunken, bezahlt, Fäuste gemacht. Und darum war der Büscheler keine Einbildung. Was war der Büscheler?

Der Pfarrer von Wald versuchte auf verschiedenen Wegen, sein Wissen über den Büscheler zu vermehren. Aber vom Büscheler sprach man nicht gerne, das zeigte sich immer wieder bei den Nachforschungen.

Zwar gab es neben dem Pfarrer andere Neugierige, die gerne mehr gewusst hätten, doch denen bekam es nicht gut. So hiess es, den Langenegger habe seine Frau immer aufgestachelt, er solle doch mal nachschauen, ob es stimme, dass die Büscheler drunten im Gröppenloch baden, sogar nackt. Darauf hatte sich dann der Langenegger hinter das Erlengebüsch beim Gröppenloch versteckt. Aber wie er so lauerte, wurde er plötzlich von hinten gepackt und mitsamt den Kleidern ins Gröppenloch geworfen, so dass er beinahe ertrunken wäre, denn er konnte nicht schwimmen.

Ob es allerdings der Büscheler gewesen war, der ihn ins Wasser geworfen, wusste der Langenegger nicht zu sagen, denn er hatte gegen das Ertrinken kämpfen müssen und so keine Zeit gehabt, sich umzusehen. Und es konnte ja kaum der Büscheler gewesen sein. Der Langenegger war ein starker Kerl, und so rasch in den Fluss werfen konnte man ihn nicht. So behauptete er mehr und mehr, er sei ausgeglitten, und wenn ihm seine Erinnerung sagen wollte, er hätte doch ein Lachen gehört, ein Lachen, das dann noch eine Weile über dem Gröppenloch weitergelacht hätte, dann sagte er sich, er könne, ja müsse sich getäuscht haben.

Wo der Büscheler wohnt, konnte der Pfarrer auch nicht in Erfahrung bringen. Es gibt stets etwelche Hütten, Ställe oder Heustadel, welche nicht gerade benutzt werden, so dass der Büscheler am einen oder anderen Ort Unterschlupf finden kann. Möglich, dass die Eigentümer von Privatalpen oder die Alpvögte darum wissen, aber sie sprechen nicht davon. Es kam ja vor, dass frisch gespaltenes Holz unter dem Schermen (2) aufgeschichtet lag oder dass gar der Herd noch warm war. Immer aber war alles in schönster Ordnung, und so war es wohl am besten, den Büscheler – denn der musste es ja gewesen sein – nicht zu vertäuben, sonst konnte es sein, dass er Unordnung machte.

Einmal glaubten ein paar Burschen, sie müssten sich nicht an diese Regeln halten, und suchten die Alpen nach dem Büscheler ab. Sie fanden ihn nicht, dafür aber eine Herde Geissen, von denen sie glaubten, sie gehörten dem Büscheler. Und so liessen sie ihre Verärgerung an den Geissen aus, trieben sie auf steile Bänder, von denen sie kaum mehr herunterspringen konnten, und neckten sie mit Salz, das sie ihnen zum Riechen boten, nicht aber zum Schlecken gaben. Plötzlich aber stürzte sich die ganze Herde auf die Burschen. Diese mussten auf Tannen klettern und dort warten, bis die Geissen sich verzogen. Die Burschen beteuerten zudem, der Bock sei auf zwei Beinen auf sie losgerannt. Im Dorf hiess es, es könne nur der Teufel gewesen sein. Der Senn vom Pfingstboden aber, als er hiervon hörte, nannte das alles eine Lumperei, es seien seine Geissen gewesen, und sein Bock gehe nie auf zwei Beinen, und wenn die Buben nochmals seine Geissen vergelsterten (3), werde er schon zum Rechten schauen. Seither hat niemand mehr versucht, es mit den Geissen aufzunehmen – man konnte ja nie wissen.

Besonders aber verwirrte den Pfarrer bei seinen Erkundigungen, dass mehr und mehr von einem jungen Büscheler gesprochen wurde. Nun konnte man aber den Alten, den die Mettlerin gesehen zu haben glaubte – sie bestätigte ihre Aussage auch dem Pfarrer gegenüber –, unmöglich als jungen Büscheler bezeichnen, und auch der Pfarrer hätte den Mann, der ihm in der Gröppen erschienen, nicht jung nennen können. Den Büscheler aber, den er im Wirtshaus getroffen, der war ganz eindeutig ein alter Mann, daran gab es nichts zu rütteln. Und doch erzählte ihm einer von der Schönau, dass der junge Büscheler schon mehrfach dort aufgetaucht sei. Er kaufe im kleinen Lädeli allerlei Dinge für den Alltagsbedarf, wie sie etwa in den Berghütten benötigt werden; Petroleum, Streichhölzer, Mehl, Teigwaren, Würste und dergleichen mehr. Dann gehe er jeweils in die Wirtschaft, trinke schweigend und bedächtig einen halben Roten und verschwinde dann mit freundlichem, aber knappem Gruss in die Berge. Gesprächig sei er nicht und oft gebe er auf Fragen Antworten, die mehr verwirrten als klärten. So hielt es der Pfarrer von Wald für richtiger, sich an das zu halten, was die alte Mettlerin erzählte, und an das, was er von Lärchenbodenbauern erfuhr, die zwar wortkarg aber seit jeher mit dem Büscheler verbunden waren und in manchem so lebten, wie sie glaubten, dass es dem Büscheler recht sei.

(1) Reiswelle, für Kachelofen gebündeltes Holz
(2) Vordach, auch verlängertes Dach bei Alphütten
(3) in Schrecken versetzen

Baumberger, Georg

Ein Rendez-vous beim ‹Chuetli›

Wir waren vor zehn und mehr Jahren ein Dreiblatt im appenzell-ausserrhodischen Hauptorte Herisau. Oberhaupt war ein älterer Mediziner, der sich um die Errichtung der mustergültigen Krankenhäuser seines Halbkantons unvergängliche Verdienste erworben hat; er war seiner Zeit ein Lieblingsschüler von Virchow und steht unter seinen schweizerischen Kollegen in hohem Ansehen. Abkömmling einer alten Herisauer Familie, steckte ein Stück vom Bestteil eines alten Schweizer Aristokraten in ihm, ohne ihn am Anschluss an eine moderne Auffassung zu hindern. Und wie alle Männer von Geist bewahrte er sich Liebe und Verständnis für die jüngere Generation. Wir beide anderen gehörten dieser an, der eine ein hochveranlagter, junger Oberförster, der andere ein noch jüngerer Redakteur, der eben bei den ersten Versuchen angelangt war, die Eierschalen von sich abzuschütteln.

Unser Arzt besass eine hübsche, grosse Alp, die ‹Langfluh›, hinten beim Rossfall am Fusse des Säntis.

Es ist dorthinten eigenartig schön: nichts als Tannenwald und Felsen und Alpen und, enge ringsum, schöne Berge. Es herrscht eine wohlige Einsamkeit, Weltabgeschiedenheit und Weltverlorenheit, und doch war man der Welt auch wieder nahe genug, um sie mit der blossen Hand zu erreichen. Und an Menschen hat es dort hinten nichts als Sennen und wieder Sennen und struppige Holzhauer und Fuhrknechte.

Dorthin zogen wir das Jahr über manchmal, wenn es galt, der Welt für ein paar Stunden zu entrinnen. Wir liessen uns dann von der alten Rossfallwirtin den ‹schlafenden Napoleon› an den obersten Säntiskonturen zeigen, ohne ihn je zu entdecken, oder hörten ihr bitterlich Klagen an, wie die alten Knochen ihres Mannes nur dann, aber auch nur dann noch etwas taugten, wenn er mit einer Jungen tanze wie ein – Narr. Oder wir stiefelten auf der Alp herum, besprachen alpwirtschaftliche Verbesserungen – der Oberförster war eine Autorität darin –, liessen uns vom Sennen Milch reichen und redeten mit ihm über seine Kühe und Schweine und über Butter- und Käsepreise.

Einen zu besuchen, haben wir auf unseren Touren nie ausgelassen, das war der ‹Chuetli›, der Schiffliwirt in der Grünau, auf halbem Wege zwischen Urnäsch und Rossfall.

Der ‹Chuetli› war viel und alles in einer Person: Richter, Alprat, Spezereihändler, Wirt, Senn, Vieh- und Schweinezüchter, Butter- und Käsehändler und vor allem war er ein richtiger Appenzeller: ein wenig zurückhaltend, kühl und etwas wortteuer, und doch gemütlich, gescheit und verständig, vor allem auch witzig und sarkastisch. Für uns war er der Herr Richter; aber im Volksmunde hiess er doch nur der ‹Chuetli›. ‹Chuetli› (Konradchen) hatte ihn seine Mutter nach der Taufe genannt, und so wird er jetzt dort hinten bis ins graue Alter hinein geheissen. Und wie sein Wesen, so war auch seine Gestalt typisch. Etwas kurz gewachsen und wohlbeleibt, war alles kugelrund an ihm, kugelrund der Kopf, kugelrund die zündroten fleischigen Wangen, kugelrund sogar die fleischigen Ohrenläppchen und kugelrund die Muskulatur an Unter- und Oberarmen. Denn nach echter Sennenart trug er die Hemdärmel stets aufgekrempelt. Und Beine hatte er; sie hätten für das gesamte Choristenpersonal einer Hofoper ausgereicht. Und rund wie der Vater, war die ganze ‹Chuetli›-Familie, die wackere Frau, die zu Mittag stets ein Stück treffliches Selbstgeräuchertes für uns alle hatte, und rund die kleinen ‹Chuetli›-Buben und -Mädchen, die unzertrennlich am Schürzenzipfel der Mutter hingen, und hinter ihr hervor scheu nach den Städtischen schielten.

Nun stelle man sich unter der Wirtsstube beim ‹Chuetli› kein komfortables Lokal vor.

Sie war ein länglicher Parterreraum mit vielen kleinen Fenstern und den Zugladen davor, nach der Bauart des Appenzellerlandes. An der Wand den Fenstern entlang waren Sitzbänke angemacht. Unten war ein langer Tisch aus Tannenholz für die gewöhnlichen Gäste, oben ein Tisch mit eingelegter Schieferplatte für die Honoratioren. Im Winter spendete ein mächtiger Kachelofen die nötige Wärme, und neben den beiden Tischen bildeten Stühle, ein altes Büffett, zwei rauchige Hängelampen und einige verblasste Farbenbilder, wie man sie auf den Jahrmärkten kauft, so die Altersstufen des Menschen und das Leichenbegräbnis des Jägers im Walde, das Mobiliar der Stube.

So oft man kam, fand man interessantes Bergvolk dort: irgend einen bäumigen Holzknecht, faul bei einem Glase Branntwein plegernd und riesigen Tabakqualm vor sich hinblasend, beim Weine einen Sennen in scharlach-roter, silberknöpfiger Weste und weisser, bestickter Drilchjacke, Kaffee schlürfend eine alte, redselige Hausiererin mit grossen Zahnlücken und grossem Fangzahn im Munde, ihren Wunderbalsam und ihre Heilsalbe lobpreisend und über den Unverstand der studierten ‹Dökter› wetternd, und weiter von jenen zigeunernden Existenzen, die in keinem Bergthale fehlen und die momentane Abart der Bohemiens der Grossstädte sind. Meist ehrliche Leute, so lange sonst nichts los ist, gefährlich aber sowieso nie.

Wir setzten uns an den obern Tisch; der Herr Richter gesellte sich zu uns, und es wurde nach Noten gejasst; d.h. Karten gespielt. Denn das war eine Aufmerksamkeit, die man ihm erweisen musste. Jetzt demaskierte er sein eigenstes Wesen. Er, der sich sonst als fleischgewordene Passivität, als wortkarges Phlegma gab, von dem man annehmen mochte, seine Frau müsse ihm des Morgens das Sennenpfeifchen in den Mund stecken und beim zu Bette gehen wieder herausnehmen, langte jetzt, ohne mit einer Miene zu zucken, von Stich zu Stich und mit dem Munde von Hieb zu Hieb gegen die ‹Herren› aus, beissend und schlagend, dass der Holzknecht unten am Tisch ein- über das anderemal laut aufwieherte und die zahnlose Hausiererin bewundernd meinte: «Der ‹Chuetli› ist halt noch ein Mann!» Und die nächsten Tage sprach man von der Grünau weg bis zum Rossfall immer wieder davon, wie der ‹Chuetli› die Herren ‹abgeschirrt› habe.

Es waren köstliche Stunden dort, die reichen Stoff zu Volksstudien boten!

Aber dann kam der eine als Professor an das eidgenössische Polytechnikum nach Zürich, der andere an die Spitze eines Blattes in St. Gallen, und mit der Rossfallpoesie war es zu Ende.

Nach mehr als zwölf Jahren erinnerten wir uns wieder ihrer, ein gewisses Heimweh stellte sich ein, und so wurde Punkt zwei des Ferienprogramms: «Rendez-vous beim ‹Chuetli›». Der Nachmittag nach dem St. Galler Kinderfest fand alle drei dort. Es war jedoch nicht mehr das Schiff in der Grünau mit der niederen rauchigen Stube, mit dem dicken Kachelofen und den rauchigen Lampen mit Blechschirmen. Der Herr Richter hatte sich weiter thalauswärts eingekauft. Sein nunmehriges Lokal hatte mit glänzend blauer Ölfarbe angestrichenes Getäfer; die Tische waren spiegelblank lackiert und mit blassroten Teppichen bedeckt, und die Hängelampen besassen elegante Porzellanglocken und Auerbrenner. Wohl war der Herr Richter unterdessen noch runder geworden, und das Sennenzeichen trug er noch immer im Ohr; aber er war auch am Werktag sonntäglich sauber angezogen, und trug es sich auch noch barärmelig, so war das Hemd nicht mehr aus farbigem Baumwollstoff, sondern aus weisser Leinwand, und die Hemdärmel waren nicht mehr aufgekrempelt, sondern vorn zugeknöpft, wie bei jedem ordentlichen Ratsherrn; mit einem Worte, man sah ihm jetzt den reichen Mann an. Der ‹Chuetli› von ehedem war verloren gegangen. Und für den Branntwein trinkenden und auf den Boden spuckenden Holzknecht gab es in diesem fast eleganten Lokal auch keinen Platz mehr, und keinen mehr für den Bergzigeuner mit den stets gespitzten Ohren, höchstens noch für die Hausiererin mit den Zahnlücken und dem grossen Fangzahn, denn das frisst sich überall hinein. –

Wir jassten wieder, suchten die alten Scherze wieder hervor; aber es war nicht mehr wie damals; keiner mochte es dem andern sagen, und dennoch fühlte es an jedem anderen, so sehr dieser andere sich Mühe gab, gerade das zu verbergen. Es gibt eben Episoden, die man wohl in der Erinnerung fortleben lässt, aber nicht vom Tode soll auferwecken wollen, wenn sie dahin sind, Dinge, die man nicht wieder lebendig machen kann, wenn die Verhältnisse verschwunden sind, die ihnen ihr eigenstes Gepräge gaben.

Ich verreiste schon mit dem nächsten Zuge ins Innere der Schweiz, gedachte mit einer gewissen Rührung der Rossfallpoesie längst vergangener Jahre, aber, offen gestanden, ohne Wehmut des missglückten Versuches, ihr neues Leben einzuflössen.

Wir alle waren ein wenig daraus heraus gewachsen. Das that der Freundschaft nicht Abbruch und nicht der gegenseitigen Achtung vor einander.

Wem wäre ähnliches je erspart geblieben?

Ben Hamida, Amor

Ankunft im ‹Village d’ Enfants Pestalozzi›

Es muss Februar des Jahres 1970 gewesen sein, als mein Dorfdirektor mich vom Fussballspiel zu sich rief. Fussball nannten wir es, weil wir es mit den Füssen spielten, nicht wegen des Balls, denn diesen haben wir aus einer alten Socke und Papier und Stoffresten gebastelt. Er war kleiner als ein Handball, als Tor stellten wir zwei Steine hin, der beste Torwart war jener, der es schaffte, unbemerkt den Abstand der Steine zu reduzieren. Aber zurück zu meinem Dorfdirektor. Er rief mich in sein Haus und erklärte mir, ich könnte, wenn ich wollte und meine Mutter zustimmte, in die Schweiz, vorausgesetzt, ich bestünde im Auswahlverfahren. Ich glaube, ich sagte ja und ging wieder Fussball spielen. Was für ein Glück, dass das menschliche Gedächtnis seine Grenzen hat: Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich noch heute fühlen würde, wie es meinen kleinen Brüdern damals erging, als ich sie alleine liess. Einer hatte Zahnweh, das weiss ich noch heute, der Kleinere war krank, ass wenig und nahm stark ab. Wir haben über diesen Abschied niemals mehr gesprochen, vielleicht weil wir nicht nachempfinden wollten, wie es für sie und mich war. Vielleicht müssen wir diese Phase, diesen Moment unseres Lebens mal als erwachsene Männer und mehrfache Väter ansprechen, auch wenn vielleicht dabei ein gewisser Schmerz und eine gewisse Trauer über unser gemeinsames Schicksal heraufbeschworen werden. Einige Tage später bekam meine Mutter einen Brief, denn das Telefon war damals so eine Sache… Sie sollte entscheiden. Meine arme Mutter wusste damals absolut nichts über die Schweiz, einige Bekannte erzählten ihr von Neutralität, guten Ausbildungsmöglichkeiten und dass die Schweiz auf der anderen Seite des Mittelmeers lag, sie hätte doch diese Leute im Fernsehen meines Grossvaters gesehen, die auf Brettern den weissen Hang eines Berges rutschten, ja, das sei die Schweiz.

Einige Wochen später liess ich meine zwei jüngeren Brüder zurück und nahm den Bus nach Tunis. Mir machte es schon Sorgen, die Verantwortung für meine Brüder abzugeben; wie würden sie zurecht kommen? Würde sich der Kleinere durchsetzen? Würde er genug essen? Und was ist, wenn einer von ihnen krank würde? Ich war damals zwölf, und meine Brüder zehn und acht Jahre alt! Ich bekam einen kleinen Koffer, an dessen Inhalt ich mich nicht mehr erinnere, vermutlich Kleider, ein Stück Seife, ein Tuch, viel mehr war es nicht, und wurde in einen Bus gesetzt mit der Instruktion an den Fahrer, er solle mich in Tunis an einem gewissen Ort abladen, ich würde erwartet. In Tunis wurde ich an einen Sammelort gebracht, ein kleines Kinderdorf, wo ich die anderen Kandidatinnen und Kandidaten kennen gelernt habe. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns damals genau wusste, um was es ging. Wir waren Waisen oder Halbwaisen, wir genossen lediglich die angenehme Atmosphäre, vor allem meine Kameraden aus dem Süden. Wir stellten uns vor, erzählten über unsere Herkunft, unsere Vergangenheit, und einige Pädagogen schrieben mit, machten gelegentlich einfache Tests mit uns, nichts Besonderes. Auf die Frage, was wir werden wollten, kam meistens dieselbe Antwort: «Arzt» oder «Lehrer». Ich wollte Lehrer werden. Das wollte ich, seit ich etwa sieben Jahre alt war. Ich bildete eines Tages hinter unserem Haus, im Schatten eines grossen Eukalyptusbaumes, meine Klasse nach: 48 Steine habe ich mühsam und sorgfältig gesammelt und in Achterreihen so neben- und hintereinander gestellt, dass ich mit meinem langen Stock jeden der Schüler beim Schwätzen oder Spicken sehen konnte. Ich lehrte die Steine… Was kannten wir schon für andere Berufe? Maurer wollte niemand werden, und Ansehen hatten nur Lehrer und Ärzte.

Einige von uns wurden ein paar Tage später wieder nach Hause geschickt. Ich weiss nicht mehr, ob sie enttäuscht waren oder froh, in ihre gewohnte Umgebung und ihren Freundeskreis zurückzukehren. Wir ‹glück-lichen› sieben Auserwählten, drei Mädchen und vier Jungen, durften einige Nächte länger in Tunis bleiben, bis es so weit war. Meine Mutter reiste aus dem Süden an, um mich doch noch vor der Abreise zu sehen. Weiss Gott, was damals in ihr vorging: dachte sie, sie würde mich verlieren, oder wusste sie, dass sie mich in eine Welt entliess, die mir mehr bieten könnte als meine Heimat? Wenn sich heute einer meiner Söhne, besonders der Kleinere, fürs Wochenende oder eine Skilagerwoche verabschiedet, habe ich einen kleinen Vorgeschmack davon, was unsere Mütter damals im Flughafen Tunis-Carthage fühlten, als sie uns sieben kleinen Knirpse durch die Zollschranken gehen sahen. Wir fassten unseren ganzen Mut, um nicht mit ihnen zu weinen. Wir gingen einer neuen, interessanten, fast sagenhaften Welt entgegen, und sie blieben zurück, mit ihren Gedanken und Befürchtungen und Hoffnungen und Tränen und Sorgen. Jahre später erzählte mir meine Mutter, dass sie zuhause anfangs belächelt wurde: Ich ginge nicht in die Schweiz, nicht ‹Suisse›, sondern nach ‹Sousse›, einer Stadt im Norden Tunesiens, dort gäbe es auch Kinderdörfer. Wie sollte auch ein Waisenkind so unverhofft eine solche Chance kriegen, wo Minister es nicht schafften, ihre Kinder in die Schweiz zu schicken. Die Aufregung war umso grösser, als sie von Tunis zurückkam und sich die Tatsache als unwiderlegbar erwies: Niemand steigt in ein Flugzeug, um nach Sousse zu gehen! Das anfängliche Belächeln und Bemitleiden wich einem Neid. Es vergingen Monate, bis es alle glaubten, spätestens, als meine Mutter meine ersten Briefe und Postkarten zeigte.

Der 18. April 1970 war ein Samstag. Um die Mittagszeit landeten wir in Zürich-Flughafen, und uns wurde sofort klar, dass wir hier in einer anderen, fremden, unfreundlich kalten, aber reichen, schönen Welt ankamen, wo alle Autos neu zu sein schienen, alle Menschen waren schön, wohl genährt, gut gekleidet, makellos und sauber. Die Gerüche waren anders, die Töne waren anders, die Farbe des Tages war anders, als wir es soeben hinter uns liessen. Es war ruhig. Wir waren es auch, denn jetzt hatten wir festgestellt, dass es sich weder um Traum noch Halluzination handelte. Wir waren ausserhalb unserer Heimat und unserer gewohnten Welt. Die Fahrt nach Trogen verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle: Gelegentlich baten wir unseren Betreuer um Erklärung von etwas, das wir sahen und nicht kannten. Gelegentlich unterdrückte der Eine oder die Andere eine Träne, denn Sehnsucht und Heimweh fangen schon beim Abschied an. Jetzt, da kein Weg mehr zurückzuführen schien, jetzt schnürte es mir die Gurgel zu. Ich konnte kaum atmen, trotz der Gruppe, die mir nicht fremd war, schien es mir, als wäre ich auf einer einsamen Insel, mitten im Ozean, und ich kann nicht schwimmen. Ich dachte daran, was meine Familie wohl tut, ich konnte ihnen nicht sagen, dass es mir gut ging, und dass ich sie jetzt schon vermisste. Zum Glück war unsere Betreuung darauf vorbereitet und hatte diesbezüglich Erfahrungen, wir wurden mit Ablenkungsmanövern wieder zum Reden und gelegentlich zum Lachen gebracht. In Trogen angekommen, hielt der Bus mitten im Kinderdorf an. Alle Dorfbewohner wussten von unserer Ankunft und waren da, uns willkommen zu heissen. Eines der Kinder hielt eine Fahne. Sie enthielt einen Käfer in der Mitte und viele internationale Flaggen. Darunter erkannte ich auch unser Emblem. ‹Kinderdorf Pestalozzi› verstand ich damals nicht, aber ‹Village d’ Enfants Pestalozzi›, das konnte ich lesen!

Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben Häuser ohne Flachdächer, Wiesen und Hügel, die ich unter den Schneemassen vermutete, fremde Bäume wie Tannen! Die Sehnsucht wich einem Staunen und einer kindlichen Neugier. Die anderen Kinder beobachteten uns nicht so befremdet, wie wir sie anschauten: Wir sahen zum ersten Mal echte Blonde mit tiefblauen Augen, die uns an Märchenprinzessinnen erinnerten, denn in vielen arabischen Märchen haben die Prinzessinnen goldenes Haar; wir sahen Kinder mit Schlitzaugen und komischen Sprachen. Und natürlich lernten wir als erstes nur Schimpfwörter auf Deutsch. So fragte mich ein kleiner Dorfbewohner ganz freundlich, nach ein paar Tagen Aufenthalt: «Spielst du?» Ich fauchte ihn an und bedrohte ihn, antwortete dann: «Du spinnst!» Er sagte nur lachend: «Nein, nein, spielen, Fussball, spielst du auch?» Ich lächelte ihn an, nachdem ich mein Missverständnis eingesehen hatte, und wir spielten Fussball, dieses Mal mit einem echten Lederball, auf Rasen und mit einem richtigen Tor! In dieser Gesellschaft wuchs ich auf. Ich knüpfte Freundschaften, die für die meisten Menschen auf dieser Welt nicht denkbar sind. Freundschaften zu Kindern aus allen Kontinenten. Ich verbrachte fünf Jahre mit Kindern, die Namen hatten wie Hirut Eskelalem, Günther Adomeit, Morris Calvert, Arto Pekkanen, Jacques Trace, Jannis Papadopoulos, Mani Ramaswami, Nicola Ceveri, Yun-Su Kim, Ferenc Petrik, Sonam Gyaltag, Phan Dien Tri. Gott segne Dr. Walter Robert Corti, der 1944 aufrief: «Lasst uns ein Dorf für Kinder bauen!» Was ein Mann mit einem einzigen zur Verfügung stehenden Leben bewirken kann! Tausende von Menschen verdanken ihm durch seine Initiative ein ausserordentliches Leben.

Beyer, Marcel

Im Wörterbuch

I
Der Hund, mit dem ich spielte, war
ein Sprachhund, der sich im
Wörterbuch verlaufen hatte
Anfang Januar. Der Hund, mit dem

ich sprach, sah mir beim Reden zu,
sein blaues Samojedenauge starr
auf meinen Mund gerichtet,
sein anderes, sein Bernsteinauge

aber folgte meiner rechten Hand,
während der Schnee stob
und das Licht unten im Tal
vom Nebel aufgesogen wurde.

Ich hielt ihn hin. Er fror. Kein Wort
war mehr an seinem Platz.
Brennholz zerkaut. Neuschnee
vernichtet. Wie kommt der

Hofhund an sein Idiom? Wohl übern
Bodensee geweht vor Zeiten?
Dritter Versuch, Fragesatz: Heisst
es nun Hören oder Fassen?

So ging es zu in seinem Hundekopf,
in seinen Vorderpfoten.
Nächsten Tag Biesenlage,
Rachenfieber, trockene Zunge, duuch.

II
Man muss dem Hund, dem Sprachhund
hier, als vorsichtiger Dealer
gegenübertreten. Die kleinste Prise
Hochdeutsch wirkt

auf ihn wie eine Droge, und ist er
erst einmal auf den Geschmack
gekommen, hängt alles nur
von der geschickten Kommasetzung

ab. Ein Hund lernt spielend Schal und
Halstuch unterscheiden, lernt
Boots und Winterstiefel
auseinanderhalten, während er

Schnee in kalte Luft zurückverwandelt.
Hundestolz. Wer von uns beiden
Ist jetzt Logopäde, wer ist
Graphologe? Ein Mischlingshund

lernt sogar Feinheiten wie: Biechte
oder: Raureif, je nach dem, wer
mit ihm spricht. Das angeschossene
Rebhuhn hier, der Stock,

dieser erlegte Erpel – gar keine Frage,
ein Hund lernt spielend: Holz,
ein Lidschlag, und er hat gewählt
zwischen: belebt und: unbelebt.

III
Dies ist genau die Zeit, die es ihn
kostet, um ein neues Wort
zu lernen. Ein Hund von dieser
Grösse etwa. Ein bis zwei Silben.

Jetzt schiesst das Blut in seine Ohren.
Jetzt leuchten seine Augen.
Jetzt liegen die Fangzähne frei.
Die Lefzen scheuern am Gebiss,

das regt den Appetit an, setzt die
Schnauze unter Spannung,
weckt den Appetit auf unbekannte
Sprachen. Jetzt. Den angenagten

Zweig legt er vor meinen Füssen ab,
als wollte er mich fragen,
ob er den restlichen Landstrich
totschütteln darf. Unser Jagdgrund

zeigt sich zerschnitten. Unsere
Welt – man müsste Rudel sein.
Dies ist die Zeit. Dies sind
die Milben. Dies ist der Geifer. Dies

der Hang. Und dies der unsichtbare
Zaun, den so ein Hund
nicht überspringen kann. Quer
durch den Kopf verläuft der Draht.

[…]

VI
Er hielt den Kopf gesenkt nach Art
der Samojeden, nach Art
der Appenzeller wühlte er im
Schnee, die wilden Vorderpfoten

wie ein Tier beim Reden. Man muss ihm,
klar, als Dealer gegenübertreten,
als Gesten- oder Klangdosierer vor
ihm stehn, muss dunkler Tierkopf

sein und Herr der Alphabete. Aber
was heisst schon Milbenwort,
was Silbengeifer, wir hangeln
uns an solchen Hilfslinien

entlang, einmal zu oft sind Hund und
ich im Übereifer – Sprechen
ist Hecheln – in des andern Welt
geglitten. Er fand die Spur ins

Wörterbuch nicht mehr, er sang. Ich
sah ihn an, er warf den Stock,
ich zog den Schlitten. Sein
blaues Auge starr auf meinen

Mund gerichtet, betäubt und
sprungbereit. Und wie sein
Atem geht. Ein Hund in dieser
Körperhaltung, sagt man, dichtet.

Binder, Elisabeth

Ein kleiner und kleiner werdender Reiter

Zwar war die Ausbeute, die ich von meinen Fahrten nach Hause brachte, jeweils klein. Eine weitere freigelegte Stelle in einem Riesenwimmelbild, ein Augenblick aus tausend Tagen. Auch ermattete ich, einmal an Ort und Stelle, immer schnell.
Und doch wurde ich jedesmal von neuem aufgeregt, wenn ich mich dem Dorf näherte. Als kehrte ich zu einer noch längst nicht erschöpften Ausgrabung zurück, und mit dem entsprechenden Finderfieber.
Als sage eine Stimme: «Warm, warm.»
Wie damals, wenn wir bei häuslichen Versteckspielen dem Suchenden kleine Hilfestellungen gaben: «warm», wenn er in die Nahe des versteckten Gegenstandes kam, «kalt», wenn er sich wieder davon entfernte.

Freudige Gefühle schon, wenn ich, von Nordwesten kommend, über einen Ausläufer des Seerückens ins Thurtal hinabfahrend, im Süden wieder den Säntis sah. Der dann näher und näher kam. Bis er hinter dem Dorf stehen blieb als Wappenzeichen.

Den Säntis, unverrückbar wie er dastand, empfand ich zunehmend wie einen Verbündeten.
Anders als in meiner Kindheit, wo er mich wenig kümmerte. Nur ab und zu bei Föhn, wenn er so nah heranrückte – «zum Greifen nah», wie die Mutter immer sagte –, dass man auf dem Gipfel das Haus und den Sendemast erkennen konnte.

Dabei erschien er mir seltsamerweise noch höher geworden. Irgendwie auch herrlicher.

Ein Göttersitz, ein Olymp!, sagte ich zu meinem Freund, als wir wieder einmal auf diese höchste Instanz der Landschaft zufuhren und ich den Eindruck nicht loswurde, es träfen uns von dort, sobald wir in die Reichweite der Felswelt kamen, erwartungsvolle Blicke.
Sicher, es gab auch Tage, wo er verborgen war in Dunst, in Wolken, oder halb verborgen, oder wo er zwar zu sehen war, aber ganz stumpf erschien. Freudlos mit sich selbst beschäftigt.

Während er an einem anderen schön gestimmten Tag so bezogen schien auf die Landschaft, die er überragte, und auf das Leben in ihr, dass ich auf einmal überwältigt wurde von der fast übermenschlichen Vision, es sammle sich in der Landschaft bis zur himmelhohen Bergkulisse das ganze Leben: unser ganzes Leben, Hügel auf Hügel – verborgen die Täler, die Trauerzeiten – und in etwas Herrlichem gipfelnd.

Dagegen erschien mir der Seerücken, der im Norden das Thurtal und unseren Blick in diese Himmelsrichtung begrenzte, noch immer gleich verschlafen.
Gleich wohl nicht: Denn damals wussten wir zu jeder Zeit und lebten auch von diesem Wissen, dass wir nur über den Seerücken zu fahren brauchten mit dem Auto, um in zwanzig Minuten am Wasser zu sein. Dass wir, nachdem wir seine stille ländliche Welt durchquert hatten, auf einmal – unwillkürlich lächelnd vor Freude – den blauen Spiegel des Sees vor uns sahen: den endlos weiten, manchmal fast ans Meer erinnernden Bodensee oder den kleinteiligeren, mit Buchten, Halbinseln, Seearmen landschaftlich verspielten Untersee.

Und dahinter Deutschland. Deutschland, das sich staute am anderen Ufer, mit seinen sanften Hügeln, endlos hintereinander gestaffelt, zwischen denen es so viel Platz zu geben schien.
Keine schönere Hoffnung wie Italien. Aber eine Horizonterweiterung an schönen Sommerabenden. Eine Landschaft, über der es wie auf unserer Seite Abend wurde, und doch ein bisschen anders, grossräumiger, romantischer zwischen den weitgeschwungenen Hügeln, die in einem so tiefen Frieden lagen –

Dass es ihm wie ein Spuk vorkomme, dass da einmal Krieg gewesen sei, vor noch gar nicht langer Zeit, dass man aus dieser Landschaft einen Angriff befürchtet habe: «Der Angriff wird im Morgengrauen erwartet.» (Der Vater.)
Die Landschaft sei ja immer diese weite friedliche gewesen, es habe ja nie an der Landschaft gelegen. (Die Mutter, beinah ungehalten, nicht wegen dem Vater, aber, offenbar noch immer, wegen diesem «schrecklichen Krieg», an den sie nicht erinnert sein wollte.)
«Da hast du recht, an der Landschaft hat es nicht gelegen …»

Bruchstücke eines Gesprächs, das ich gerade wieder zu hören glaubte.
Was hätten wir getan ohne den Bodensee, den Untersee, den Seerhein bei Gottlieben.
Ohne die Sommerabende am See: das Baden, Schwimmen. Ohne das Rudern auf dem See. Ohne das abendliche Picknick am See, das Sitzen am See und Auf-den-See-Schauen, Nach-Deutschland-Hinüberschauen.
Ohne den rötlichen Widerschein auf dem abendlichen Wasser. Die Enten und Schwäne. Die Möwen im Abendhimmel.
Ohne den verträumten, Landschaft, Wolken, Segelschiffe widerspiegelnden See.
Ohne den von einer frischen Brise gekräuselten See.
Ohne den windbewegten, mit seinen Wellen ans Ufer schlagenden See.
Ohne den von einem nahenden Gewitter aufgepeitschten See, den auf einmal erregt gehenden Sturmwarnungen rund um den See.
Ohne den, ein einziges Mal allerdings nur, in jenem berühmten kalten Winter, zugefrorenen See, auf dem man Schlittschuh laufen konnte oder zu Fuss gehen, trockenen Fusses hinüber zum deutschen Ufer.
Ohne Konstanz, wo es das Fotogeschäft HEPP gab, Kultort geradezu für unseren Vater.
Ohne Meersburg, mit der Fähre von Konstanz in zwanzig Minuten zu erreichen. Meersburg, so südlich hell am nördlichen Ufer liegend. Mit seinem Schloss, dem neuen und dem alten. Wo die Dichterin Droste bei ihrem Schwager, dem Freiherrn von Lassberg, zu wohnen pflegte.
Meersburg. Wo es vor allem die Mutter hinzog. Und von wo wir dann auch nur den Säntis sahen, aber durch die Weite des Sees getrennt – wie Entflohene für einen Nachmittag.

Birnstiel, Johann Georg

Unterwegs mit dem Landsgemeindedegen

Wohlgemut schritten wir über grünes Land gegen Waldstatt zu, an zartknospenden Blütenbäumen vorbei. Der Frühling lief mit. Er war unter den sich mehrenden Wanderscharen der rechte Stimmungmacher. Ich kann mir nicht vorstellen, dass im Herbst, wenn die Wiesen sich entfärben und tausend Todesmale sich auf Wald und Felder legen, der Landsgemeindegeist mit so weit ausholenden Schritten gezogen käme. Wenn man ein Neues will für Volk und
Vaterland, so muss es Frühling sein. Es war denn auch viel Lenzhaftes bei denen, die, aus allen Gegenden des Hinterlandes zusammenströmend, nun zum Hundwilertobel eifrig plaudernd und gestikulierend niederstiegen. Ihre alt- und neumodischen Kirchenhüte und -röcke erzählten vom Winterdunkel im muffigen Kleidertrog und liessen als Opferrauch ihre Kampfer- und Moschusdüfte der allbefreienden Frühlingssonne entgegensteigen. Da und dort marschierte ein altes Appenzellermandli, sein tabakduftendes Lindauerli noch sorglich in den Falten des Rockes bergend, mit dem Rosmarinstengel oder dem Blütenzweig zwischen den Zähnen dahin. Und wie sie zu viel Hunderten mit schwerem Männerschritt über den Boden der uralten Tobelbrücke trampten, da mag der Holzbau, der den gähnenden Abgrund überspannt, von weitem den Eindruck eines an Felsen hängenden Immennestes gemacht haben, darinnen ein mächtiges Summen verkündet, dass ein Völklein seine brüchige Burg verlassen und, in blaue Lüfte stossend, Neuland suchen will.

Es war eine Freude, im Flussbett des aufmarschierenden Bürgerheeres als Steinchen mitgeschoben zu werden, ungesehen und doch selber immer Neues sehend. Da kamen an Waffen und Gewändern Jahrzehnte und Jahrhunderte zu Wort. Da klangen alle Nuancen des Dialektes durcheinander. Hier fesselte eine interessante, scharfgeschnittene Appenzeller-Physiognomie mit Hakennase und stark vorspringendem, glattrasiertem Kinn, und andernorts dominierte im Haufen das zünftige Ratsherrengesicht oder der Sticker-, Krämer-, Fabrikanten- und Kleinbauerntyp. Da waren nicht bloss Graubärte und Blassköpfe. Das ganze junge Geschlecht war mit auf dem Weg. Gezwungen oder freiwillig? Das habe ich nicht ergründet. Hundertmal aber habe ich mir seither gesagt und fühle es heute mehr als je: Wo das Jungvolk eines Landes in politischen Dingen nicht freudig und willig mittut, da hat irgendwo die Demokratie ihre kranke Stelle. Eine Jugend ohne Ideale, ohne tatbereiten Freiheitsdrang, ohne politisches Interesse, ist keine Jugend. Ohne sie ist aber auch die Schweiz nicht im Vollsinn Schweiz.

Noch ein anderes fiel mir ins Auge und erweckte Freude. Was da in der Morgenfrühe in gemessenem Schritt die Strassen gezogen kam, das war, ob jung oder alt, so recht eigentlich ein Arbeitsvolk. Schwere, schwielige Hände, verwerchete Leiber, bleiche Wangen, aber auch wetterbraune, harte Gesichter, faltige Stirnen redeten laut davon und erzählten jedem, der es wissen wollte, dass da ein Volk seinen Sonntag habe, das sich seine Werktage und den Kampf ums Brot recht sauer werden lasse. Gemeingut aber schafft Gemeingeist. Kommt erst einmal eine Zeit, wo Geister und Hände, Muskeln und Gedankenkräfte nicht so einseitig wie heute dem Götzen Mammon und dem Egoismus dienen, sondern in treuer Arbeitsgemeinschaft das Wohl des Ganzen suchen, wo keiner den andern ausbeutet, jeder aber dem andern dienen will, dann muss es nicht nur im Ländlein unter dem Säntis, sondern im ganzen Schweizerlande tagen.

Böckli, Carl

Der 18-jährige Naturarzt

In Teufen (Appenzell A. RH.) hat sich ein 18jähriger Naturarzt niedergelassen [...]

Unser Mitbürger Kasimir Lämmli

Unser Mitbürger Kasimir Lämmli

Zeitnahe Lyrik

Bindochschmiedworden
werdeganginachtworten

schmiedwolltewerden
pferdfüsseschmied
dochumgangmitpferden
mithufenvermied

huftierkannmorden
vermittelshufhieb
bindochschmiedworden
versfüsseschmied

 

Tragik
Sohn musensohn
weil ohne lohn
bei mutter am futter
bis mutter irgendwo-
hin floh
sohn an ihr hing
plötzlich verlassen
anfing
jassen

Böni-Häberlin, Elsy

Chäs

Eine im Dorfbild nicht zu übersehende Figur war Ernst Zellweger, genannt ‹Chäs›. Aus dem berühmten Geschlecht der Zellweger stammend, war er nicht mehr auf der Sonnenseite geboren worden und die Natur hatte ihn auch nicht besonders begünstigt. Er war klein, etwas verwachsen, sehr schwerhörig, hatte einen schleppenden Gang und eine brummelige Sprache, die man fast nicht verstand, was ihn aber nicht hinderte, sich selbständig durchs Leben zu schlagen. Sein tägliches Brot verdiente er sich mit Hausieren, wobei er stets die neuesten Artikel lancierte, zur Zeit der Verdunkelung Hüllen für Glühlampen, wenn Brennstoffknappheit herrschte kleine Apparate, um Papierbriketts herzustellen, vor Weihnachten Kärtchen, Anhängeschildchen, Engel für Tischdekorationen, farbige Bändeli, Kerzenhalter modernster Fabrikation, Biscuits. Seine grossen Tage waren die Jahrmärkte, wo er immer einen Stand hatte und alles Mögliche und Unmögliche an den Mann, auch an den Pfarrer brachte wie z. B. Enveloppen, deren Grossteil schon zugeklebt war. Mit seinen schlauen Äuglein war er der geborene Geschäftsmann, der mit den Kantonsschülern einen regen Handel trieb und alles ankaufte, was man ihm anbot, wie etwa eine Kastentüre, die so ein Lausbub in seiner Pension ausgehängt hatte und beim ‹Chäs› versilberte, als er in Geldnot war. Ernst belieh auch solch ein Objekt, wohl wissend, dass, wenn nicht der Bursche, so doch sicher die Pensionsmutter das Stück wieder auslösen würde. In seiner Redlichkeit war er überall beliebt und geachtet. Seine Nachbarn nahmen ihm liebevoll viele der kleinen und grossen Sorgen ab, die ihm sein Junggesellenhaushalt und sein Alter in dem prächtigen Appenzellerhaus auf dem Berg bereiteten. Zu seinem 90. Geburtstag erhielt Ernst so viele Geschenke, dass er nur auf dem Wege eines Inserates in der Appenzeller Landeszeitung für alles danken konnte.

Brandl, Mark Staff

Wandering and Surveying

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Öl und Acryl auf Leinwand.
160 x 100 cm. Privatbesitz.

Bruggmann, Ralf

Ein Satz über einen, der auf einer Telefonzelle steht

Er steht auf einer Telefonzelle, und ja, ihm ist durchaus bewusst, wie seltsam dies wirken dürfte, denn normalerweise stehen Menschen nicht auf Telefonzellen, sondern höchstens in ihnen drin, und überhaupt tun sie es immer seltener, und wenn tatsächlich jemand auf einer Telefonzelle steht, dann sind es keine Menschen, hingegen Vögel, ja, Vögel stehen bisweilen auf Telefonzellen, manchmal vielleicht sogar Katzen, ganz bestimmt Insekten, auch wenn man sie kaum sehen kann, die sind ja so klein, die Insekten, doch Menschen, nein, Menschen stehen nicht auf Telefonzellen, Menschen sind zu gross und haben schwere Knochen und überhaupt wäre das sehr seltsam, und dennoch, auch wenn es ihm nicht immer behagt, er ist ein Mensch, daran lässt sich nichts ändern, und als Mensch hat er nicht auf einer Telefonzelle zu stehen, das tut man nicht, im Kontext einer Telefonzelle hat man gefälligst in ihrem Innern zu stehen, und wenn sich Menschen in Telefonzellen befinden, dann tun sie dies meistens, um ein Telefongespräch zu führen, hin und wieder suchen sie auch Schutz vor einem plötzlichen Regenguss, und manchmal machen Menschen in einer Telefonzelle Liebe, obschon er das nur aus Filmen kennt, er selbst hat noch nie in einer Telefonzelle Liebe gemacht und wird es auch jetzt nicht tun, schliesslich ist er allein und steht nicht in, sondern auf der Telefonzelle, auf dem Dach, und dieses Dach, es ist pyramidenförmig, vier dreieckige Flächen, die leicht ansteigen und eine Spitze bilden, eine Spitze, auf welcher man nicht stehen kann, also stellt er seine Füsse auf zwei der vier dreieckigen Flächen, was zu Folge hat, dass seine Sohlen nicht waagrecht sind und seine Beine ein O bilden, Fussballspieler haben manchmal O-Beine, Reiter auch, ebenso Männer mit einem sehr grossen Hodensack, doch er ist nichts davon, und in der Regel hat er auch keine O-Beine, nur im Moment, da er auf zwei der vier dreieckigen Flächen des Daches dieser Telefonzelle steht, und die wenigen Menschen, die an der Telefonzelle vorbeigehen, sehen ihn und denken wohl, dass Menschen eigentlich nicht auf Telefonzellen stehen, einige schütteln den Kopf, andere machen Bemerkungen, doch er schüttelt sie ab, die gemachten Bemerkungen, lässt sie nicht in seinen Kopf, und einige Passanten mögen sich fragen, warum er auf der Telefonzelle steht, und wenn sie sich dann potenzielle Antworten ausdenken, handeln diese vielleicht von psychischen Störungen, von einem Übermass an Alkohol oder Drogen, von verlorenen Wetten und vielleicht auch von Gott, doch er glaubt nicht an Gott, er ist nüchtern, nimmt keine Drogen und wettet nur, wenn er weiss, dass er gewinnt, was eigentlich nie der Fall ist, und die Möglichkeit einer psychischen Störung besteht durchaus, doch sie ist nicht der Grund, warum er auf der Telefonzelle steht, überhaupt sind psychische Störungen oft auch Ansichtssache, Definitionssache, findet er, ausserdem reden nicht selten Menschen von psychischen Störungen, die keine Ahnung haben, was psychische Störungen eigentlich sind, und in gewisser Hinsicht ist wohl jede Psyche gestört, schon die Behauptung, eine absolut ungestörte Psyche zu haben, ist der Ausdruck einer psychischen Störung, zumindest in seiner laienhaften Betrachtung, und er weiss nicht, wie sehr die Psyche jener Menschen gestört ist, die ihn auf der Telefonzelle stehen sehen und denken, er sei psychisch gestört, doch es ist ihm egal, wie es auch den meisten unter ihnen egal ist, weshalb er überhaupt auf der Telefonzelle steht, und wenn er nun den vereinzelten fragenden Passanten den Grund für sein Verhalten nennen würde, könnten sie ihn wohl nicht verstehen, sie würden nur noch heftiger ihre Köpfe schütteln und sagen, er könne den Sonnenuntergang doch auch vom Boden aus betrachten, auf der Telefonzelle sei er wohl nicht sonderlich viel besser zu sehen, und ja, es stimmt; dass er auf der Telefonzelle steht, dient einzig und alleine seinem Bestreben, den Sonnenuntergang zu betrachten, das ist eine Tatsache, und aufgrund dieser Tatsache ist es auch unnötig zu erwähnen, dass es Abend ist, schliesslich geschehen Sonnenuntergänge nicht am Morgen, am Morgen geschehen Sonnenaufgänge, die ihrerseits am Abend nichts zu suchen haben, und wer es ganz genau nimmt, der kann gerne anmerken, dass sowohl Sonnenaufgänge als auch Sonnenuntergänge gar nicht existieren, denn die Sonne ist ein faules Stück und hat offenbar Besseres zu tun, als über den Himmel zu wandern, aber die Erde, die dreht sich, was man als kleiner Mensch jedoch nicht wirklich spürt, auch er spürt es nicht, hier oben auf der Telefonzelle, und obwohl es den Sonnenuntergang gar nicht gibt, betrachtet er ihn, denn er mag das Wort, und darum nennt er das, was er betrachtet, auch so; er steht auf einer Telefonzelle und betrachtet den Sonnenuntergang, und was er sieht, vermag beinahe den Atem zu rauben, die Sonne malt den Himmel rot und gelb an, in Farbtönen, die in keinem Malkasten zu finden sind, und vielleicht ist das auch der Grund, warum der Sonnenuntergang so wunderschön ist oder er ihn zumindest so empfindet, womöglich liegt es an der Tatsache, dass man ihn nicht imitieren kann, ihn nicht kopieren kann, und auch nicht den Sonnenaufgang oder die Sonne an sich oder all die anderen wunderschönen Dinge, die nicht durch Menschen geschaffen wurden, und überhaupt sind überdurchschnittlich viele Wunderschönheiten nicht von Menschenhand geschaffen worden, während Menschen ihrerseits häufiger unschöne als wunderschöne Dinge zu erschaffen gedenken, und natürlich ist ein kleines Kind wunderschön, obwohl es durchaus von Menschen geschaffen wurde, aber es ist selbst auch nur ein Mensch, der im Grossen und Ganzen nicht unbedingt wunderschön ist, und natürlich kann auch ein Gemälde wunderschön sein, oder Musik, oder der Klang einer Stimme, oder eine Berührung, oder Liebe in einer Telefonzelle, doch die meisten Dinge, die Menschen tun, sind eben nicht wunderschön, sind weder Wunder noch schön, und auch die Telefonzelle, auf welcher er steht, ist nicht wunderschön, sie ist ziemlich banal, doch sie ist sein Sockel, um den wunderschönen Sonnenuntergang zu betrachten, und es ist ihm egal, dass die Menschen nicht verstehen, warum er auf dieser Telefonzelle steht, warum er diesen Sonnenuntergang betrachtet, warum er sich diese Gedanken macht, er will es nicht ändern, will nichts ändern, nicht im Moment, darum bleibt er einfach auf dieser Telefonzelle stehen und betrachtet den Sonnenuntergang, blickt in die Ferne und macht sich Gedanken, etwa darüber, wie die Baumkronen am Horizont eine gerade Linie bilden, wenn man sich nur genügend weit von ihnen entfernt, es zeigt sich eine klare Kante der Erde als Grenze zum Himmel oder zu jenem Raum, dessen Ende wir nicht kennen, und alles wirkt so einfach, so eindeutig, und obschon er weiss, dass es eindeutig nicht so einfach ist, fühlt er eine gewisse Erleichterung, dass es zumindest diesen Anschein erweckt, und er würde die Dinge wohl gerne häufiger aus der Ferne betrachten können, aus dieser vereinfachenden Distanz, in der sich die Einbuchtungen und Beulen der Welt ausgleichen und die Dissonanzen sich normalisieren, und die Hügel und Täler, sie zeichnen sich zwar noch deutlich ab, doch sie bleiben fassbar, bewahren sich jene Berechenbarkeit, die sie beim Näherkommen allmählich verlieren, und natürlich kann man hier nicht leben, weit weg von den Baumkronen, jedenfalls nicht langfristig, man kann kein Gespräch führen, keinen Blick bewerten, man kann keine Wange streicheln, keine Lippen küssen, man kann keine Wärme spüren, keinen Herzschlag hören neben dem eigenen, aber vielleicht kann man – mit den Bildern aus der Entfernung im Hinterkopf – mit den Dingen in unmittelbarer Nähe dann besser umzugehen lernen, vielleicht kann man die Baumkrone, die so unwirsch und merkwürdig nach oben ragt, besser einschätzen und in Kontexte setzen, vielleicht gewinnt sie an Sinn und man selbst an Klarheit, wenn man den Blick aus der Distanz verinnerlicht, und er denkt noch ein wenig weiter, in alle Richtungen, hin zu allen Horizonten, und dann, dann hört er auf zu denken, die Gedanken in seinem Kopf, sie wurden zu laut und störten das Bild, nun lässt er alles still werden und schaut aus seinen Augen auf die Welt, schweigend und staunend, er ist ausschliesslich Betrachter, nichts anderes mehr, er betrachtet den Sonnenuntergang, dieses merkwürdig gestreute Licht, das von Reichtum jenseits des Fassbaren erzählt, und wenn das Schauspiel vorüber ist, wenn die Sonne scheinbar versunken ist, dann wird er wohl wieder von der Telefonzelle steigen und weiter Mensch sein, ohne O-Beine, ohne Sockel, aber zumindest mit einem neuen Bild im Hinterkopf.

Bucher, Werner

Fladehus, Robert Walser, Seelig & Co.

Ich glaub’s nicht, ich glaub’s nicht, bin überglücklich!, die zwei können nur der Seelig … und der mir halbwegs bekannte Walser sein, beide mit nassem Hut und nassem Schirm, den Walser, den erkennt man auf den ersten Blick, schaut irgendwie verstrubbelt und seltsam aus mit seinem Schnauz, dem braunen Hut, der grauen Krawatte und dem Gilet, erinnert mich auch auf den seltenen Fotos an einen Bauernknecht in den Fünfziger Jahren, der sich für den Ausgang oder für die Sonntagsmesse gesunntigt hat, nicht für halbwegs hübsche weibliche Wesen aber zog sich der Walser sonntäglich an, für die ist er sowieso in Sachen Auftreten viel zu demütig, zu umständlich, zu altmodisch, ein wenig gleicht er in optischer Hinsicht sogar dem grässlichen Adolf Hitler oder eher dem Charlie Chaplin, schau, Alois, schau!, beide ziehen comme il faut den Hut vor dir, stellen die Schirme in den Holzbottich, der aus deiner Sicht wie ein offenes Fässchen aussieht, werfen ihre altmodischen, vermutlich tropfenden Pelerinen über denselben Stuhl, reiben die Hände, versuchen sie zu wärmen … und sitzen jetzt, ich kann’s nicht glauben!, ganz selbstverständlich zu mir an den Tisch, hocken nicht vor dem Wärme vermittelnden Kachelofen ab!, das kann nicht sein, ich, mit Walser am selben Tisch, mit diesem Grossen der Schweizer Literatur!, werd ihn offen fragen, ob er oben in der Klinik immer noch Sätze aufs Papier kritzelt wie früher in der Waldau oder ob er tagtäglich seine Zeit nichts als verplempert, würd ihm sofort einen Bleistift schenken, sofern er den will, damit er neue Geschichtchen, Notizen und Skizzen schreiben kann, Germanisten brauchen doch Arbeit, können nach Walsers Tod für viel Geld sein Gekritzel entziffern, Nachworte, Einleitungen und Doktorarbeiten verfassen und damit Frau und Kinderlein ernähren, schrieb sehr luftig früher und poetisch, der arme Kerl dort, hat Dramalette hingezaubert, ist nie ein schwermütiger und überzeugender Realist à la Glauser gewesen, hockt entsprechend still da, schaut auf den Seelig, nicht auf die plötzlich wieder aufgetauchte Maja und schon gar nicht auf meine Wenigkeit, soso, bedächtig zündet er sich eine Zigarette an, Marocaine oder was, wieso schweigt er derart stur, wieso?, Maja hat sich ja höflich erkundigt, was sie möchten, ach, jemine, die Bestellung erhält sie vom Vormund, dem schmalen Wurf von einem Mann, was, zwei grosse ‹Ghüratni› (1) und zwei Chäsfladen!, die haben aber einen Mordshunger keine zwei Stunden vor dem Mittagessen, irgendwie zwar begreiflich an einem verregneten Herbsttag wie dem heutigen, da brauchen Wandervögel etwas Warmes zwischen die Zähne, brauchen Kalorien, sind auf längeren Spaziergängen rasch unterzuckert, wie Klugscheisser und -scheisserinnen diesen Zustand bezeichnen würden, bewusst verberg ich mein Notizheftehen unter den drei Bierdeckeln, will nicht, dass sich der Seelig erkundigt, ob ich ebenfalls schreibe, zum Glück kennt er mich nicht, in meinen Büchlein hat’s ja nie eine Foto von mir drin, dafür hat der brave, an mich als Autor glaubende Ruedi Müller zu wenig Geld, oh, Maja lächelt den zwei Vögeln herzlich ins Gesicht, so, wie nur sie’s kann, eine feine Frau, eine halbe Mutter, mit keinem Wort deutet sie an, dass sie beide seit etlichen Jährchen mit Vor- und Nachnamen kennt, unlängst hat sie mir verraten, er, der Walser werde auf einmal giftig und beginne zu schimpfen, sobald ein literarisch interessierter Gast ihn auf seine Bücher anspreche, verzichte drum doch besser auf meine eher stupiden Fragen, bring sie ein andermal vor, ja, war das vor langer Zeit ein grosser Dichter mit seinen kurzen, zauberhaften Texten!, solche Geschichten und Stimmungsbilder könnte ich niemals schreiben, dazu fehlt mir seine ziemlich skurrile Demut, seine mir unverständliche Bescheidenheit, ich mag’s auch nicht, mich in meinen Texten als Schreiberling zu verspötteln und schlimmste Erfahrungen in schwebende Bilder umzusetzen, meine sind nicht schwebend, sind fast auf jeder Seite mit Zeitkritik gespickt, sind halbe oder ganze Aufschreie, nur Gierige, Ehrgeizige, Machtsüchtige haben im deutschen Sprachraum Erfolg, in der Literatur wie vermutlich in sämtlichen Lebensbereichen, ein Glück, dass ich mein Sabinchen habe und nicht völlig allein bin, […] ach!, der Herr Walser kann reden, kann das Maul auftun, ich staune und verstehe kein einziges Wort, er brummelt mehr in sich hinein als er spricht, wird verbittert sein oder jenseits von Gut und Böse, darüber könnte ich, falls ich dazu Lust verspürte, ein wunderbares Gedicht schreiben, ein Robert-Walser-Gedicht, so rein war er, so ohne Ambitionen, so ohne Ehrgeiz, bevor er nahezu alles von sich abschüttelte, die Rolle des Dieners (2) aufgab und sich als Dichter und Menschlein vollends aus dem Literaturbetrieb zurückzog, Reinheit, Sensibilität, Konsequenz erträgt unsere Welt nicht, sie ertrug auch den Hölderlin nicht, den Lenau, den Büchner, die Droste, den Mörike, erst Jahrzehnte später werden Verpasste von Nisch und dessen Trabanten hochgejubelt, erst sehr viel später erhalten sie von diesen Herren und Damen den Status der Verkannten, so kam es zum Walser-, zum Glauser-, zum Hölderlin-, Büchner-, Lenau-, Heine- und Mörikepreis, ach nein, dummer Alois!, ereifere dich nicht derart nutz- und zwecklos, heb lieber dein Gläschen den beiden mit einem Lachen entgegen, die werden staunen, dass du sie einbeziehst, ach nein, du heilige Madonna, die staunen nicht, spielen mein Spielchen nicht mit, einzig der Seelig nickt mir halbwegs zu, der Walser dagegen schweigt und lächelt auf eine unbeschreibbare Weise in sich hinein, sieht sehr zerknittert aus, wie ein verschüchtertes Mäuschen, wie ein schrulliger Zwerg, um den jeder einen Bogen macht, wird’s kaum mehr über viele Jahre schaffen, war in Bern, Biel, Thun, Berlin, in Zürich an der Trittligasse, in Herisau und anderswo, immer einsam, immer ohne Frau und meist in schäbigen Mansarden oder Anstalten zu Hause, da hab ich’s besser, bedeutend besser, mit nahezu Fünfzig fand ich meinen Schatz, mein Sabinchen, und habe zudem einen nicht üblen Job oder hab ihn nicht, ah, hör auf, deine Lage weiter derart zu preisen!, die vollen Krüge werden gebracht, die verheirateten, ich will nicht länger im ‹Fladehus› bleiben, Walser spricht sowieso kein einziges Wort mit mir, hebt nicht mal den Mostkrug in meine Richtung, nur der Seelig macht’s, zeigt ihn der Wirtin, zeigt ihn mir, soll er trotzdem selig werden, dankend verzicht ich auf seine Auszeichnung, auf sein fast hingehauchtes «Prost», lieber ruf ich, was ich mir soeben vorgenommen habe, jetzt, nicht erst überübermorgen, also, jetzt, Alois, jetzt: «Ich möchte zahlen, Maja, muss ein Haus weiter, komme morgen ganz sicher wieder oder spätestens übermorgen!», ohne die zwei dort, ohne sie!, gehöre nicht zum Verein ‹Fladehus, Robert Walser, Seelig & Co.›, werde nie deren Mitglied werden, nie und nimmer.

(1) Ein grosser Krug halb mit saurem, halb mit süssem Most gefüllt, ein bekanntes Getränk
im Appenzellischen (vom Wort ‹verheiratet›).
(2) Robert Walser hat im Jahre 1905 sogar eine Dienerschule besucht.

Hundwiler Höhi

Wie eine Frau
liegst du da,
ganz offen, ganz nackt, ein
Versprechen fast,
zur Linken die Felsen des Säntis,
rechts die sanftere Waldstatt,
zwei Geliebte, die deinen
struppigen Schoss nie erreichen, so
sehr du von beiden träumst. Aber
ich bin jetzt da, erzähl dir von Tschernobyl,
von Raketenabwehr-Systemen &
von jener Frau, die ganz anders ist. Was,
du wirst eifersüchtig, schüttelst
das Weiss des Schnees von deinen mütterlichen Brüsten
& sorgst dafür, dass
die Wirtschaft auf deiner rechten Brustwarze
heute geschlossen bleibt? Ich
nehms dir nicht übel, trotzdem
sinds Bienen & Hummeln, die
summen & selbst die Kampfflugzeuge
(der Schweizer Armee) übertönen, denen der
Säntis (nicht bloss zu meinem Leidwesen)
gelegentlich gehört. O,
wie ich dich bewundere & weiss
auch heute ist Glück durchaus
möglich, in all den Höfen
auf deinen herrlichen Flanken, hin
& wieder bedrängt vom getöteten Schnee.
Wie eine Frau liegst du da,
ganz nackt & ganz offen, ein
Versprechen in den Sommer hinein
– &, auf einmal ist deine Eifersucht
weggewischt & von allein
öffnete die fröhliche Wirtin ihre Tür.

Von einem Dorf

Es ist der heilige Michael, der
euch alle für ein Schnäppchen
& mit seiner einmaligen Ausstrahlung
& zur Freude Gottes
Schwung ins arm-
selige Leben gebracht
& wenigstens in euren Köpfen
für einen Moment
aus so grosser Not
erlöst hat. In
eurem Dorf wollte er fortsetzen, was der heilige
Franz in seinem Assisi begonnen
& nie (wem würd’s erlaubt!)
vollends beenden durfte. Auch
hätte dieser Heilige bei euch
mit Lerchen, Braunkehlchen, Feldhasen,
Neuntötern, Fröschen, Schmetterlingen
& Helikoptern geredet, über-
strömt von seiner unendlichen Liebe & Güte
zu jeglicher Kreatur
& nebst seinen Hecken, seinen Biotopen
& seinem umwerfenden Charme
hätte er als Garant für eine
gewaltige Zunahme des Tourismus’
ordentlich viel Geld
in sämtliche Kassen gebracht, wär’s
nicht von Teufeln umgetriebenen Menschen
– wie schlimm, wie beklagenswert! –
gelungen, den grossen Mann
aus eurem
von ihm
auserwählten Dorf
zu vertreiben, bevor
er das geplante Schloss
samt Schlosskapelle & harten
Betschemeln bezog. Geregnet

hätte es GELD, GELD, GELD:
für den demütigen Bauern, der nobel
& grosszügig aufs gesetzlich ver-
ankerte Vorkaufsrecht für viel Boden
(trotz äusserst günstigsten Konditionen)
verzichten wollte, damit längst aus-
gestorbene Tiere zurückfinden
auf den Hügel hoch über dem Dorf
& nicht fünfmal pro Jahr nach einem
Grasschnitt[1] Gülle[2] ausgeschüttet
wird, die Vögeln, Feldhasen & Alpen-
krokodilen gar nicht bekommt, auch
für den Gemeinderat in corpore
& den Höchsten weit & breit
hätte es heiliges GELD geregnet, aller-
hand Spielchen gaben sie durch, damit
der von Gott geliebte Mensch bei euch
endlich, endlich eine Bleibe fände, sämt-
lichen Bewohnern & allen Bürgern
wäre nichts als Wohlstand ins Haus ge-
purzelt, falls sie die einzige Bedingung des
Heiligen befolgt hätten (& ums Leben gern
wollten sie’s tun), diese simple nämlich:
mit der (vom uralten, zur Schildkröte
mutierten Papst gesegneten) rotschwarzen
Fahne nicht allein am Ankunftstag des
Heiligen, sondern jede Woche dreimal,
Choräle singend, mit Weihrauchkübeln durchs
Dorf zu ziehn, entzückt & fiebrig, weil der
heilige Michael samt seinem Erzengel in
ihrem Dorf weilt, begleitet vom begeisterten Pfarrer
mit seinem im Sog des heiligen Helikopters
flatternden Rossschwänzchen.
Zwei, drei böse Buben wollten das nicht, sie
boten Widerstand, setzten sich
für altmodische Gesetze ein, die nichts
als überflüssig & reine Schikane sind
& Steuersenkungen verunmöglichen. Gut,
den von Neid erfüllten Buben
zuerst kein Brot mehr zu liefern
& sie hernach aus dem Dorf zu verjagen
wie sie zuvor den Heiligen
aus dem Dorf
verjagt haben.
Mögen sie doch anderswo
zu einem See runterblicken, zu
eben erblühten Wiesen hinauf, ihre
Poetik bringt niemals
Aufschwung, niemals
Wachstum, nicht
mal ein paar Paparazzi. Schlechte
Steuerzahler sind sie ohnehin gewesen, &
falls […] die bösen Kerle
irgendwann
& frech wie sie sind
zurückkehren, um ausgerechnet
auf dieser Wiese
ihre Freude in Worte
zu verwandeln
& den Heiligen, sollte er
von neuem auftauchen,
resolut daran zu hindern, mit
Vögeln, Fischen & Hasen
& anderm Getier
zu reden
& gemeinsam mit ihnen
Gott zu preisen,
dann fährt hoffentlich
der vierschrötige Bauer (der auf so
viel Boden verzichtet hätte) mit
seinem Traktor vor, steigt
von seinem Ungetüm herunter
& knöpft die Buben am Waldrand
an Bäumen auf, solange
es noch Bäume gibt. […]
Unvergessen
bleibt’s in den
vom sanften Michael
entzückten Herzen, dass
der drittgrösste Fan des Heiligen
SEINE rotschwarze Fahne
salutierend
auf Halbmast
herunterzog, weil
der Heilige
bei Nacht & Nebel
& fürchterlich beschimpft
von den elenden Buben
in ein freundlicheres Dorf
floh, & während
der Fan beim Herabziehen der
Fahne riesige Tränen zerdrückte, ver-
fluchte er zugleich sämtliche
grüngefederten Menschenvögel, um
Stunden später
vor Erregung
notfallmässig
ins Spital eingeliefert zu werden. Nie
wird der arme Kerl
verständlicherweise
Grünen in seiner
überdimensionierten Küche
ein Menü zubereiten. VISIONEN müs-
sen vielmehr in seiner Gaststube
& in sämtlichen Häusern des Dorfes
geboren & umgesetzt werden, damit neue
HEILIGE
auf alle noch nicht
zubetonierten Hügel sich niederlassen
& als ERLEUCHTETE
fürs Dorf beten, zudem
einen Sportplatz sponsern
& der Welt zurufen: Kommt zu uns, bei
uns wohnen die neuen, von
allen Kontinenten & Ländern
ersehnten Menschen, sie
lehren uns beten & Geld verdienen
& unser grosses Glück zu geniessen. Wer aber
nicht spurt, schadet
dem Fortschritt, dem
gesunden Menschenverstand
& der Vermehrung des Geldes
& wird in unserm Dorf nie eine Bleibe erhalten.

Darüber spotten ein paar, verstehen
vor lauter Dummheit nicht, warum
gesunder Menschenverstand
nicht vor Gesetzen
& vor vermeintlichem Recht kommt, Ge-
setze sind rollend, dies weiss die
Nussgipfelerfinderin, &
die grünen Spinner
bremsen ohnehin pausenlos, was
wachsen soll. Mich
stimmt dies
heiter & froh, gern
blick ich zum ausgetrockneten Weiher
oder auf die von der Sonne
braungebrannten & durstigen Matten, mit
jedem Strahl wächst
meine Zuneigung zu euch, sämtliche Reden
von Gemeinderäten
gehören endlich
in einen professionell aufgemachten
Sammelband
& dieser hierauf in jede
Haushaltsapotheke.
Heilige
spazieren halt
trotz anderslautender Gerüchte
nur einmal innerhalb
hundert Jahren
durch ein Dorf.
Einmal, & hernach nie wieder …

[1] Vor dreissig, vierzig Jahren wurde in der Schweiz nur zweimal im Jahr Gras gemäht, beim Heuen und Emden. Heute bringt der Boden zum Glück mehr, was dringend nötig war. Heutige Turbokühe brauchen im Vergleich zu ihren längst in Schlachthöfen gelandeten Vorgängerinnen geradezu Unmengen von Heu oder Silofutter und produzieren dafür Milch im Überfluss.
[2] Schweizerdeutsch für Jauche

Burk, Walter

Furgglenhöhle

Mehrere kleine Lichtpunkte bewegen sich im Dunkeln von der Alp Furgglen in Richtung Rainhütte, folgen zuerst dem Weg, um dann nach gut 500 Metern diesen zu verlassen, und steigen über das offene und steile Gelände Richtung Furgglenfirst hinauf. Die Punkte, deren unruhige Bewegungen auf Stirnlampen hinweisen, scheinen nicht zusammenzugehören, aber alle das gleiche Ziel anzusteuern. Sie bewegen sich in kleinen Gruppen von zwei bis fünf Personen, in verschiedenen Abständen und nach dem Verlassen des Weges auf nur geringfügig verschiedenen Routen. […]

Doch nicht die Alp selbst, sondern eine Öffnung in der Felswand, die 1907 entdeckte ‹Furgglenhöhle›, scheint das Ziel der Lichtpunkte zu sein. Ein Ort, wo sich vor allem in der Ferienzeit und während der Winterzeit tagsüber immer wieder Gruppen von kleinen und grossen Höhlenforschern tummeln. Der Einstieg in die Höhle ist dank eines geräumigen Hauptganges mit nur einer kurzen Engstelle, durch welche sich die Besucher einzeln zwängen müssen, und einigen Felsstufen nicht allzu schwierig und lässt sie ohne Probleme in den ‹Sayonaradom›, in eine der grösseren Hallen, vordringen.

Und dort trifft nun auch die altersmässig durchmischte Gruppe im Licht ihrer Stirnlampen zusammen und gruppiert sich um einen älteren, gross gewachsenen Mann mit beinahe schulterlangem, grauen Haar und einem mächtigen, grauweissen Bart, der schweigend wartet, bis sich die Ankömmlinge im Halbkreis um ihn postiert haben. Trotz seines schwarzen Umhangs ist er im Licht der zahlreichen Stirnlampen vor dem feucht glitzernden Felsen gut zu erkennen – nicht zuletzt auch dank der Tatsache, dass er seine Lampe gelöscht hat, um seine Zuhörer nicht zu blenden.

Langsam hebt er seine Arme seitlich in die Höhe und begrüsst die nächtlichen Wanderer mit einem eindringlichen: «Friede sei mit euch!»

«Friede sei mit dir», murmeln einige der Besucher, verstummen aber sofort, als der Mann vor ihnen seine Stimme wieder erhebt.

«Danke, dass ihr hier seid. Dass so viele gekommen sind, um diese Zeit, an diesen abgelegenen Ort, zeigt, wie wichtig auch euch unsere gemeinsame Sache ist. Diesen Ort habe ich bewusst gewählt, ein Kraftort, ein Ort der Ruhe, der uns durch die zahlreichen Höhlenforscheraktivitäten eine gute Tarnung bietet und von dem kein Wort nach aussen dringt. Und der uns ermöglicht, nach unseren Treffen noch in der ‹Bollenwees› einzukehren und den Eindruck zu erwecken, dass wir deswegen hier oben sind.»

Die Zuhörer bestätigen seine Aussage mit einem kurzen Lachen.

«Doch lasst uns zu dem kommen, weswegen wir hier sind», fährt der Redner fort. «Wir alle wissen, welche Kraft hier in dieser Höhle heute zusammengekommen ist – eine Kraft, die gottgegeben ist und die einigen Auserwählten, die heute dabei sind, verliehen wurde. Eine Kraft, die diese für Gutes einsetzen, um Menschen und Tieren zu helfen. Und alle anderen, die nicht zu diesen Auserwählten gehören und trotzdem hier sind, wissen um die Bedeutung dieser Menschen, die ihre Tätigkeit im Stillen, von der Öffentlichkeit unbemerkt, ausüben.

Doch heute werden dem Gebetsheilen, das Teil unserer Geschichte und Kultur ist, immer mehr Misstrauen und Vorbehalte entgegengebracht. Nicht zuletzt, weil viele Menschen keine Nähe mehr zu Gott haben und deshalb nicht glauben können, dass er uns solche Kräfte verleiht!»

Ein zustimmendes Raunen geht durch die Reihen.

«Und deshalb wird unser Wirken oft der schwarzen Magie zugeschrieben. Doch nur weil wir uns vereinzelt beim ‹Diebesbannen› auch böser Kräfte bedienen, heisst das nicht, dass wir Schlechtes tun. Denn die Wirkung, dass der Dieb erst wieder Wasser lösen kann, wenn er das Diebesgut zurückgegeben hat, dient aus Sicht der Bestohlenen einem guten Zweck!
Wir Gebetsheilenden in Innerrhoden sind ohne Ausnahme von Gott mit der Fähigkeit zum Heilen begnadet. Denn die von Jesus seinen Jüngern zugesprochenen Gaben sind auch heute noch nicht ganz erloschen – doch nur Menschen, die fest im christlichen Glauben stehen, vermögen Gleiches zu tun wie wir!»

Lydia Fuchs sucht die Hand von Anton, zieht ihn zu sich hin und flüstert ihm zu: «Hast du gehört, Toni, auch wir haben die Möglichkeit, mit unseren Gebeten zu helfen!» Toni Bischofberger nickt stumm und drückt fest die Hand seiner Freundin.

Cajochen, Melina

Übrig bleibt eine kleine, seifige Pfütze

Mir brennt nichts unter den Nägeln, mich freut nichts, mich stört nichts an Appenzell. Ich langweile mich. Ich wache nachts auf, sleepless in Appenzell, es stürmt, ich ziehe die Vorhänge auf und schaue durch die dreifach verglaste Scheibe. Es ist so ruhig hier. So schön. Hier werden Traditionen noch gelebt, die Krankenkassenprämien sind tief, das Dunkel ist lieblich, das Grün satt und die Hauptgasse bunt und aufgeräumt. Und so kommen sie zu uns, die, die es sicher haben wollen und das auch bezahlen können. Und die, die wollen, dass es so bleibt. Hier drinnen in Appenzell.

Draussen ist der Teufel los. Banken starten mit Entlassungswellen, Heimatvertriebene finden keinen Platz zum Bleiben, Muslime bringen Muslime um und der von den Amerikanern exportierte ‹Jeder-kann-es-schaffen›-Traum ist ausgeträumt. Und mitten durch Appenzell wehen die Seifenblasen vom Bazar Herrsche – kleine, perfekt anmutende Mikrokosmen, die elegant an Hindernissen, am zerstörerischen Draussen, vorbeischweben.

Bis sie dann halt doch platzen, irgendwann. Übrig bleibt eine kleine, seifige Pfütze, laugig, die kein bisschen an die bunt schillernde, fliegende Kugel erinnert. Und der Seifeninnenraum? Im Platzen noch ist er entschwunden, hat sich innert eines Augenblicks im Draussen aufgelöst.

Hübsch anzuschauen sind sie, diese kleinen, luftigen Momente, diese Seifenwelten. Fürs Überleben, fürs immer Weiterleben, sind sie nicht gemacht. Sie können sich nicht öffnen, sich mit Neuem nicht verbinden, nicht verwachsen mit Notwendigem, keine Veränderungen miterleben. Verschwommen nehmen sie wahr, undeutlich kommunizieren sie und selten lernen sie. Ihr Umgang mit dem Draussen besteht aus: Platzen. Plop.

Und ich hörs, draussen geht im Dunkeln der Föhn und bringt alles durcheinander. Hier drinnen drückts ein bisschen im Kopf, sonst ist alles in bester Ordnung. Morgen früh liegen vor der Haustür ein paar Blätter, ein paar Äste, schnell weggewischt und alles ist wieder wie zuvor, so wie wirs kennen und lieben. Ein Glück?

Corti, Walter Robert

Bauen wir eine Welt, in welcher die Kinder leben können

Aber die Stunde der Schweiz steht erst noch bevor. Wenn einmal die Kanonen schweigen und die Menschen wieder zu den Flugzeugen aufschauen können, werden Millionen von Kindern weiter unsere Hilfe nötig haben. Wir können nicht allen helfen, aber wir können vielen helfen. Tausende mögen wieder in den Heimen und in hilfsbereiten Familien untergebracht werden. Dort werden sie genährt und gekleidet. Man hat wohl auch beobachtet, dass sie im allzu brüsken Wechsel des Milieus verbogen und verzogen wurden. Es gibt eine ungesunde, eine sentimentale Hilfe, wo sich der Helfende wichtiger wird als der Hilfsbedürftige. Daraus gilt es entschlossen zu lernen.

Was wir hier vorschlagen, möge als freundliche Anregung dienen. Zerstreut im ganzen Lande stehen Militärbaracken, die oft recht wohnlich eingerichtet sind. Ein grosser Teil von ihnen wird mit dem Kriegsende zu neuer Verfügung freiwerden. Würde man sie auf einem klimagesunden und übersonnten Areal zusammenstellen, ergäben sie insgesamt wohl ein stattliches Dorf. Ein weltoffener, eminent praktischer Architekt meinte, dieser Dorfbau liesse sich technisch ohne weiteres bewältigen. Auch für die Ortswahl wären wir um Vorschläge nicht verlegen. So könnten vielleicht mehr als 8000 Kinder Aufnahme finden, Waisenkinder, Krüppelkinder, Kinder, die der völligen Verwahrlosung und dem Tode entgegengehen. Die Dorfleitung möchten wir am liebsten in ärztliche Hände legen. Die Kinder würden dort mit vielen Erwachsenen zusammenwohnen, Menschen, die Kinder lieb haben, zugleich aber für die Gesamtprobleme dieser Welt offen sind. Ähnlich wie in den Landerziehungsheimen bilden etwa zwanzig Kinder mit ihrem Familienvater eine Grossfamilie. Dass die Siedlung vieler mütterlicher Helferinnen bedarf, ist selbstverständlich, dass sich diese finden werden, zweifeln wir nach einem ersten Ausblick keinen Augenblick mehr. Mit Sicherheit wird man amerikanische Mittel für die Bestreitung der Ausgaben erwarten dürfen. Je weitherziger, je grosszügiger, je durchdachter sich der Plan darstellt, desto eher darf er weitherziger und grosszügiger Hilfe gewiss sein.

Dass die Kinder kommen werden, ist auch gewiss. Es wird ihnen geholfen, sie werden genährt und gekleidet, sie schlafen in sauberen Betten, haben ihr Zimmer mit ihren eigenen Sachen. Sie gehen in die Schule, sie spielen zusammen, leibseelische Einheit übt sich in den schönen Methoden fröhlich-gesunder Rhythmik. Dass sie überhaupt wieder froh werden! Vielleicht müssten ja alle Menschen etwas mehr schlafen und mehr lachen. Die Kinder sind unter sich; nicht erschütternde, mitleidserregende Ausnahmen unter Geborgenen, nicht in märchenhafte Verhältnisse hineingeschneite Notträger. So verwachsen sie auch nicht in ungesund-schmerzhafter Weise mit den Pflegeeltern, wo sie doch wieder später in harte und ganz und gar andere Verhältnisse zurück müssen. In dem Dorfe wohnen Forscher, Pädagogen, Soziologen, Kinderpsychologen, welche die Ideologien der kommenden Zeit untersuchen, welche mit ähnlichen Gründungen anderer Länder in genauem Kontakte stehen. Was Karl Lauterer mit dem Völkerbund der Kinder vorschwebt, kann hier eine erste, grundsätzliche Verwirklichung finden. […]

Ein kranker Schnitt liegt zwischen der Welt der Erwachsenen und der Welt des Kindes. Wenn das Himmelreich in uns liegt, dann werden wir es nur finden, wenn wir aus Lehrern des Kindes seine Schüler werden. Nicht dass die Kinder die Welt regieren, nicht dass sie die Autorität zu Hause übernehmen sollen. Aber dass wir ihre grosse Lebendigkeit in uns selber bewahren und aus dieser unsere Welt wirken. Den Kindern ist das ganze Dasein tief fragwürdig, tiefer Frage würdig. In den rasenden Entschiedenheiten der Erwachsenen wird am Eigenen nicht mehr gerüttelt, das Andere aber bis zur Vernichtung bekämpft. Dass uns doch endlich auch das Eigene fragwürdig wird und wir selber zu neuem Fragen frei werden! Die Welt ist noch jung, sagt Kant, und der Mensch wird seine Bestimmung noch erreichen. Es gibt so viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben, heisst es in einem tröstlichen indischen Spruch. Wir müssen zu den Dingen hin, um ihre Ordnungen kennenzulernen, müssen die Ordnungen des Geistes und des Herzens erhellen. Bauen wir eine Welt, in welcher die Kinder leben können. Wir sind mit ihnen wieder Lernende, das ganze Dasein ist ja eine unaufhörliche Schule. Eines hilft uns immer aus allem lähmenden Streit und lässt uns weder verzagen noch ermatten: die liebende Ehrfurcht vor dem Leben.

Danieli, Enrico

Januar

Füchse

Sooft wir in seiner Nähe vorbeigingen, schien es uns, seine Blicke würden uns verfolgen, nicht dass wir ihn gesehen hätten oder er uns entgegengetreten wäre, nein, es war mehr ein Gefühl des Beobachtetwerdens, das uns beschlich, wenn wir uns seinem abseitig gelegenen Haus näherten. Und, da wir fast täglich bei ihm vorbeikamen, unser Weg sein Anwesen kreuzte, kam es vor, dass selbst schon Spuren, die von seiner Anwesenheit zeugten, Tritte im Schnee, ein offenes Fenster, ein Becken unter dem Brunnenwasser, Äpfel auf dem Fenstersims, uns zusammenfahren liessen, wir uns nur noch im Flüsterton unterhielten und so taten, als wollten wir seine Ruhe nicht stören. Dies hatte auch damit zu tun, dass wir uns nur ungern an den vergangenen Sommer erinnerten. Damals, wir gingen eben diesen Weg an seinem Haus entlang, hatte er erklärt, auf zweihundert Meter Entfernung könne er selbst das Herz aus einer Jasskarte herausschiessen. Wir hatten ihn ungläubig angeschaut, vielleicht auch gelächelt. Er war im Haus verschwunden, wir hatten gehört, wie er drinnen fluchte, dann hatten wir den Lauf eines Gewehrs zum oberen Fenster herausschauen sehen, und eh wir unsere Augen und Ohren hatten verschliessen können, war ein fingerdünner Ast am Waldrand lautlos im zerreissenden Knall des Schusses auf die Erde gefallen.

Nein, mehr wollten wir nicht sehen und nicht hören, immer waren wir froh, wenn wir unbemerkt seinen Boden verlassen konnten. Auch wurde viel über ihn erzählt, über seine Vorliebe zu Füchsen, die, nachdem am Waldrand Köder ausgelegt worden waren, direkt vom Schlafzimmer, ja vom Bett aus, so stellten wir uns vor, erschossen würden. Füchse, so hörten wir in den umliegenden Höfen, Häusern und Wirtschaften, zu Hunderten erschossen, würden, von den Innereien befreit und gesäubert, draussen an der Wäscheleine aufgehängt und getrocknet, um dann ausgestopft zu werden. Alles, so hiess es, was er erlege, Dachse, Wiesel, Rehe, würde aufbewahrt, eigentlich, wusste man zu berichten, gehe es ihm nicht ums Töten, sondern, so ungewöhnlich uns das vorkommen muss, mehr ums Bewahren. Und, wie zur Bestätigung des Gehörten, als wir kürzlich bei ihm vorbeikamen, hingen sie wirklich an den Wäscheleinen. Und während des heftig wehenden Windes schaukelten die leeren Körper der Füchse hin und her, und auch der buschige Schwanz wurde mitbewegt. Wären die Füchse nicht mit Drähten festgemacht gewesen, man hätte meinen können, sie lebten. So leicht hingen sie im Wind.

Waren wir ausser Sichtweite, verlangsamten wir unsere Schritte. Es kam vor, dass wir uns dann umarmten und befreit lachten. Wir wussten um unsere Angst und wurden nicht gerne für Füchse gehalten. Denn eben in diesen Tagen trug es sich zu, dass ein Bub eines benachbarten Hofes verschwunden war. Eine Geschichte, die die ganze Gegend in Unruhe versetzte. Da erst noch Jagdzeit war, machten Spekulationen über mögliche Todesarten die Runde. Alle beteiligten sich an der Suche, alle beschuldigten sich gegenseitig, verdächtigt wurden viele. Und wie wir uns bei unserem täglichen Spaziergang, getrieben von einer seltsamen Unruhe und Angst vor dem Jäger, wie wir uns also in der frühen Dämmerung seinem Haus näherten, das Blut im hartgefrorenen Schnee neben dem Scheunentor gleichzeitig wahrnahmen, wir auch wussten um die Blondheit des vermissten Buben, und blonde Haare neben dem Blut im Schnee liegen sahen, da fassten wir uns fest an den Händen und hatten wohl beide den gleichen Gedanken. Ohne diesen zu äussern, begannen wir schneller zu gehen. Fort, nichts wie fort. Vom Fenster des Hauses aus betrachtet, dieses stand weit offen, mussten wir hilflos ausgesehen haben, wir zwei, die wir uns aneinander klammerten, kaum vom Fleck kamen und doch die Bewegungen grosser Eile nachahmten. Denn wir wurden beobachtet, der Lauf des Gewehrs allerdings war nicht auf uns gerichtet. Endlich war die Gefahrenzone hinter uns. Doch bevor wir uns beruhigen konnten, sahen wir in der zerreissenden Explosion eines Schusses aufstiebenden Schnee und ein sich überschlagendes Tier, das in die Luft sprang und gefällt zu Boden fiel. Der zerschmetternde Knall fand seine Fortsetzung im Schreien und Stöhnen des zu Tode getroffenen Tiers.

Etwas entfernt vom Geschehen, versuchten wir Klarheit zu bekommen über unsere Bilder und Eindrücke von Blut, von blonden Haaren, von Schüssen und vom Tod. Es konnte uns nur recht sein, dass noch gleichentags zu erfahren war, man hätte den Buben lebend auf einem weit entfernten Hof aufgefunden. Beruhigt durch diese Nachricht gelang es uns, etwas von unserer Angst vor dem Jäger zu verlieren. So behielten wir unseren Rhythmus des täglichen Gehens bei. Trotzdem blieb eine Unruhe zurück, schon beim Betrachten seines Anwesens von weitem. Abends und auch spätabends und sogar mitten in der Nacht stellten wir uns ans Fenster und betrachteten mit Fernrohren sein Haus. Es fiel uns auf, dass in der Dämmerung und in tiefer Nacht die Fenster der Kellerfront hell erleuchtet waren. Und diese Beobachtung liess sich über Monate bestätigen. Nun ist es ein kleiner Schritt, um hinter das Geheimnis zu kommen, dachten wir.

Also näherten wir uns nun seinem Haus mit der Absicht, einen Blick durch diese Kellerfenster zu werfen. Und dann, wir hatten uns eben etwas vom Fusspfad entfernt und waren dabei, mit den Händen den Schmutz von den Scheiben zu entfernen und zu versuchen, ins dunkle Innere zu blicken. Mit der Taschenlaterne, die wir vorsorglich mitgenommen hatten, leuchtete ich durch das Glas, dann hörten wir eine Türe knarren, und die Türe des Hauses öffnete sich, und er stand vor uns. Das Gewehr mit dem langen Lauf in der Hand fragte er mit drohender Stimme, was wir hier zu suchen hätten. Sein Gesicht war schwitzig, seine schwarzen Haare zerzaust, die Lederjacke war eng zugeknöpft und seine breiten Schultern füllten die Türöffnung vollständig aus. Doch sein Blick ging über uns hinweg, und, bevor wir antworten konnten, erschien seine kleine japanische Frau hinter ihm in der Türe. Und wie um ihn zu besänftigen, legte sie ihre Hand auf seine Schulter, was ihn sichtlich beruhigte und uns einen Abgang ermöglichte, ohne in Streit oder Gefahr zu geraten.

Bis zu diesem Tag hatten wir die Japanerin nie bei ihm getroffen. Wir wussten, dass es sie gab, dass sie seit längerer Zeit bei ihm wohnte und von Heimarbeiten die beiden ernährte. Auch ausserhalb des Hauses wurde sie selten gesehen, das hätte der Mann nicht zugelassen.

Natürlich war unsere Neugier nicht befriedigt, denn solange Schüsse fielen, solange Blutspuren und Haare und das Licht in der Nacht gesehen wurden, wollten wir in Erfahrung bringen, was den Jäger nächtelang im Keller arbeiten liess. Doch je mehr wir uns mit der Geschichte befassten, desto ängstlicher wurden wir, und es kam eine Zeit, wo wir diesen Weg mieden. Wir wollten nichts mehr sehen, nichts mehr hören.

Es war im vergangenen Sommer, als wir die Japanerin zufällig im Dorf trafen. Jung, schüchtern und feingliedrig kam sie uns vor, ja, sie fiel auf, und die Blicke folgten ihr. Und ihr Gehen, stellten wir fest, hatte etwas Fliehendes, Leichtfüssiges. Sprung- oder fluchtbereit, sagten wir. Zurecht fragte man sich, warum sie dort beim Jäger lebte. Auch zirkulierten verschiedene, teils durch Eifersucht oder Missgunst geprägte Vermutungen. Doch soviel war sicher, sie gehörte zu ihm, sie schien ihn zu mögen, sie gehörten halt zusammen. Und durch das friedfertige Wesen der Japanerin angelockt, begannen wir, unsere täglichen Wanderungen zum Haus des Jägers wieder aufzunehmen. […]

Wir waren auf dem Fusspfad seitlich seines Hauses, es war später Nachmittag, als er unvermittelt vor uns auftauchte, er hatte sich hinter einem Gebüsch versteckt. Die Augen schwarze Löcher, die Haare klebend am Kopf, nassgeschwitzt, das Gewand verschmutzt, so stand er vor uns, liess uns nicht passieren. Er verbiete uns das Betreten seines Bodens. Und zur Unterstützung seiner Drohung nahm er eine Pistole aus der Jackentasche und richtete diese abwechslungsweise gegen unsere Stirnen. Entsetzt, ängstlich kehrten wir um, ohne etwas erwidern zu können. Wir eilten davon und meinten, dem Tod entgangen zu sein.

Doch wie wir an seinem auffälligen Tun herumrätselten, ergriff immer mehr die Idee von uns Besitz, nur die Nacht könne das Geheimnis lösen, und, uns gegenseitig Mut zusprechend, wählten wir eine mondlose Nacht Ende Januar, um zum Haus des Jägers zu gelangen. Es war ein langer und mühsamer Weg. Der Schnee lag hoch. Und mit jedem Schritt wuchs unsere Angst. Wir tasteten uns bis zu den Tannen vor, beobachteten die hellen Fenster im Keller. Nichts regte sich. Wir gingen bis zur Kellerfront, wenige Schritte trennten uns vor dem Einblick. Wie weiter? Konnten wir es wagen, hier, vor der Haustüre, uns aufzuhalten? Sollte jemand Wache stehen? Wie gross war die Gefahr? Wurden wir schon längst beobachtet? Oder wurde nur gewartet, bis wir im richtigen Licht standen, um uns klar im Visier zu haben? Wir gingen ganz heran. Ohne Rücksicht auf uns, auf Deckung. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt. Wir bückten uns tief hinab. Hohe Schneewälle erschwerten die Annäherung an die Fenster. Aber dank des Lichts konnten wir nach einiger Zeit der Angewöhnung Einzelheiten im Innern des Kellers wahrnehmen. Und wie sie da lagen und sassen, auf abgeschnittenen Ästen, auf moosgrünen Steinen, all die toten Füchse, Dachse, Wiesel, meinten wir, und sind uns heute noch sicher, zwischen den toten Tieren, die zu Hunderten, so kam es uns vor, herumstanden, die Japanerin zu sehen. Den Kopf in die Hände gestützt sass sie nackt auf einem Baumstrunk. Die schwarzen Haare bedeckten fast die Hälfte des schmächtigen Körpers, und nur die abgewinkelten Beine und die Brüste schimmerten uns merkwürdig gelb entgegen. Und wie wir sie für den kürzesten Moment gesehen zu haben glaubten, drehten wir uns schon um und liefen, liefen schreiend davon. Sinnlos bemüht um Schnelligkeit im tiefen Schnee. Doch selbst die Schüsse konnten uns in unserer Flucht nicht mehr hindern. Die Japanerin aber wurde nie mehr gesehen.

Dörig, Albert

Politisches

De össer Landestaal

(De neu Landamme Carlo Schmid)

Set letscht Johr ends Apröll
khööscht quasi offiziöll
allmählig nooch ond nooch
e anderi Landes-Schprooch.

De schöni Omluut ‹ää›
– am liebschte hettscht e Gschrää –
der ischt setheer passé
samt ösem schöne ‹g›.

Es ischt eefach blamaabel:
De Wääbel weet zom ‹Waabel›,
uss Schuelgmeend weet e ‹Gmaand›
ond uss em Hääs e ‹Gwaand›.

Freud a dem Zueschtand han i
halt offe gschtande kani,
ond chooscht uff Oberegg usi,
khööscht gad no dere ‹Musi›.

*

So weet is langsam fääl,
de össer Landestääl …
exgüsi, noch de Wahl,
de össer Landestaal!
Mit dem Vokabulaar,
wenn i so säge taar,
machscht höchschtens no Radau;
so föndt me au ke Frau…

No, ösen Dialekt
weet onder emm suschpekt;
i gsie als letschti Rettig:
Me macht ee fix ond fettig!

Dromm, khaue oder gschtoche,
das moss i jetz eboche
zor Landes Notz ond Ehr,
dass er au schwätzt wie meer!

För ös ischt nebscht em Breu
jetz Alarmschtuufe dreu,
sös, Manne, ehrewerti,
macht er ös fix ond ferti!

*

Jetz aber haltla, gaaz im Eenscht:
Was hescht jetz doo bezweckt?
Ii gegs de Carlo? Chomm, was meenscht?
Ii gegs sin Dialekt?

Im Gegetääl, me hend mit Emm,
em össere Landestaal,
wenn i so alls i allem nemm,
viil Gfreuts im Setzigs-Saal.

Zodem chaa ee de Omschtand trööschte,
– das sei graad au no gsaat –
au meer hend öseri Schproochgebreschte …
gad uff e anderi Aat!

– item –

Me hockid jo im gliiche Böötli,
me zücht am gliiche Gschpann,
i ha nütz gsaat, ka Schteebeswöötli:
Das wääs, Herr Landammann.

 

400 Johr Landtäälig

400 Johr sönd meer jetz trennt,
en Zuestand, wo me fiire chönnt,
inzwüsche aber, doo ond dei,
isch emm so nüd recht waul debei.

De Ständeherr vo Osserrhode,
der ischt als Eeschte tätig woode,
ond bringt, was bisher obsoleet,
de Zemmeschluss neu uff s Tapeet.

Ond lesischt de Landtääligs-Brief,
so liit er au nüd total schief,
denn schwaz uff wiis chascht lese dei,
me tääl sich, solangs nötig sei.

Gaaz Appezöll als enn Kantoo,
als neui Zuekunfts-Visioo,
do cha me hüt scho spekuliere,
was mit dem Päktli chönnt passiere.
Bereits bim eschtemoll uusjasse,
doo hettid meer, ond s wör is passe,
en guete Trompf mit Puur ond Nöll,
mit ösem Hoptoot ‹Appezöll›.

Ond öseri kantonali Bank
wör wege demm nüd au no chrank,
die chönnt de 5-fach Omsatz mache,
vo Schwägalp-Urnäsch bis uff Lache.

Ond wör di spöter Hürot glinge,
me wörid nüd gad nütz mitbringe,
gääb das e Mitgift – gottveteckel –
mit ösem gföllte Landessäckel.

Doch onder Omstend gäbs halt au,
en Landammann vo Herisau,
ond s Inner Land tööft au nüd pfiife,
wenns sogär Enn no wör vo Tüüfe.

Khöscht denn vom Stuel – eventuell –
statt Appezöll gär ‹Appezell›,
denn mösst me stüll ond rüebig bliibe,
uff kenn Fall aber tööft me chiibe …

(me chennids zwor vom Löpfe – oder –
s ischt immerhin kenn Osserrhoder)

Villicht ischt Zitt, dass meer ös gwannid,
dass öseri Enkel zemme spannid,
doch bis so wiit ischt – bitti göll –
bliibt Appezöll denn ‹Appezöll›.

 

Landsgmeendsonntig i de Gass

S ischt Landsgmeendsonntig-Vomittag,
gassuuf, gassaab enn Iimeschlag,
em Nüüni scho gaaz Völkerström,
ond d Loft ischt volle Landsgmeendchröm.

Zeescht get me no em Herrgott d Ehr,
d Behörde mit em Siitegwehr
lost d Predig ond de Chülchechoor:
Wenns gad au nebes nötze woor!

Im Hecht – wie all Johr gets e Wooscht,
e Gläsli Wii no fö de Tooscht;
denn säät me allne frönnte Gescht,
wies zue ond her geng a dem Fescht.

Denn leggid s d Lüchemeetel aa
im Rodhuus inne, obedraa;
me lost em Gsang vom Schmäuslimaat,
de Wääbel macht de Huet paraad;

en chlinne Junker, wüescht im Schnuuf,
de säbbled d Rodhus-Stege n uuf;
ischt fööf vor zwölfi, allbereits,
ond i de Gass, doo broddleds, cheitts…

Ond denn de eeschti Schlaag vom Too,
vom ‹Moritz› her, bim Zölfischloo;
ond d Gass weet rüebig mit emm Schlaag,
si häbt de Schnuuf aa fö de Taag.

Enn letschte Schlaag no, tüüf ond schwäär,
de Landammann schlockt dreumoll läär,
ond d Musig setzt de eeschti Takt:
Kenn i de Gass, wo das nüd packt.
De Landsgmeendzoog setzt aa zom Schrett:
e Büld, wie s gad bi ös no gett;
de Zoog ond d Gass schwingt mitenand
in ‹freie Tag vo öserm Land›.

Ond Aug i Aug, vo Maa zo Maa,
s Volk lueged sii Behörde n aa;
me khööt ke Lache ond ke Woot,
mekt niemed, wies om d Volksgunscht stoot …

Doch d Loft ischt volle Öbeschwang,
d Gass wieged ond si macht si lang;
ond leegs ond rechts sönd Auge nass:
S ischt Landsgmeendsonntig i de Gass!

Eberle, Erich

Innerrhoder Alpsegen

Ave Maria
Es walte Gott ond Maria
B’hüets Gott ond erhalts Gott
B’hüets Gott ond öse lieb Herr Jesus Chrischt
Lyb ond Seel, Hab ond Guet, wo of dem Beg omme ischt
B’hüets Gott ond de hälig Sant Moritz ’s ganz Land
ond schick syni Gschpane ommenand
B’hüets Gott ond de hälig Sant Marti
de ’s guet lieb Vech bewahr ond erhalti
B’hüets Gott ond de hälig Sant Antoni
De ’s guet lieb Vech vo Ogföll verschoni
B’hüets Gott ond de hälig Sant Sebaschtia
Dass ösem Vech ke G’söcht ond ke Chranked schade cha
B’hüets Gott ond de hälig Sant Gall
mit ösere liebe Hälige all
B’hüets Gott allsame, seis Fründ oder Fend
ond die lieb Muetter Gottes mit ehrem Chend
Ave Maria
B’hüets Gott vor allem Öbel ond Ofall
alls im Lendli ond öberall
B’hüets Gott ond erhalts Gott ond ’s hälig Chrüz
Gelobt sei Jesus Chrischt i ali ali Ebigkeit. Amen
Ave, Ave, Ave Maria

Eggenberger, Peter

E Schprooch, wo schtierbt …

De Khuerzebärg ond de Hierschbärg mit de Gmaande Haade, Wolfhalde, Lutzebärg, Walzehuuse, Rüüti ond Oberegg isch lang-e-n aageschtändegi Wält mitere bsonderege Schprooch – em Khuerzebärgerdialekt – gsii. Natüürli hädme im Lutzebärg e kli anderscht gschwätzt as z Oberegg, z Walzehuuse anderscht as i de Rüüti uss, i de Lache-n-obe nomol anderscht as im Tobel onn, aber d Klangfarb isch di gliich gsii, ond us däre usi hädme Haamet gkhöört. Gkhöört hädme aber o d Nööchi vom Rhintl, ond dei ai sönd bis is sibezächet Johrhondert all Khuerze- ond Hirschbärger Gmaande khierchegnössi gsii.

Wemme hüttistags määnt, bis vor öppe drissg oder vierzg Johr heime no schö khuerzebärgeret, so häd si de Dichter Jakob Hartmaa scho im Nünzähondertföfevierzgi ufloo, wies o schaad ond e Schand sei, as die aalt Schprooch uf all Wiis ond Wäg vewässeret wöri. Wohrschindli häd er rächt gkhaa, ond scho lang ischt us Haade Hääde worde. Ond die säbe nooble Schtickereifabrikantefamilene im Blatz uss hand ierne Maatle scho vor hondert Johr iipläut, si sölid amel z Sanggalle i de Hüüser vo de nooble Exporthäre o jo Meitle säge; s bruuchi niem z mierkhid ond z gkhöörid, as me gad vo Walzehuuse sei …

Ond hütt? Me waass, wieso ond werom as üseri Khuerzebärgerschprooch all weniger pruucht wierd ond nodisnoo sogär i Vegässeheit grootet. D Zuewanderi, Familene mitere Mueter oder ammene Vatter vo Züeri oder no sogär usem richtege Ussland, Lehrer ond Pfärer, wo us andere Gegete zo üüs ui gkho sönd, vill Lüüt, wo määnid, me mös si halt o mit de Schprooch a di neu Zitt aapasse … Ond zo alem häri o no de Iifluss vom Radio ond Färnsäche. Dei hörtme fascht ali Schprooche, gad nie de Khuerzebärgerdialekt. Woll, wondersäälte, amel denn, wenn de Carlo Schmid, de Innerhöödler Schtänderoot, ase braat obereggeret. Etz waassme wider, wies öppe sött khiide. Also, wenerege s nöchschmol am Radio oder Färnsäche höörid, denn losid weniger, wan er seid, losid lieber, wieners seid ond freuidigi, amme wider emol e kli de Khuerzebärg ond en Schwick Haamet schpüürt.

Khuerz ond schlächt, d Khuerzebärgerschprooch schtierbt. Es isch gad no e Hämpfeli altmöödi Lüüt, wo schwätzt, wies öppe de Bruuch wäär. Do kha de Haametschutz no lang aalti Hüüser ond de Naturschutz schöni Bommgruppe as erhalteswüerdi erklääre. De Schprooch, wo Haamet tüüf i üüs inn ischt, nützt da reinsuubernünt. Aapassi a di modärne Zitte ischt etz allethalbe gfrooget, ond do khond halt e so e kliises Näbetusse-Schprööchli flüch oder i nemm di onder d Rädli. Ond vilicht öppe i zwanzg, drissg Johr fendtme ammene schöne Blätzli en Schtaa mitere Tafle, wos druff haasst: «In Erinnerung an den ausgestorbenen Kurzenbergerdialekt.» Ond de säb Schtaa lüütet vilicht e Gegebewegi ii. Me bsinnt si ufzmol uf Tonbändli ond Büechli mit de Mueterschprooch. Ond wär waass, khommid imme abglägne Töbeli nöd no e paar aalti Lüütli zom Vorschii, wo all no wie früener schwätzid ond halt äbe o i Vegässeheit groote sönd. Ond etz wett alls deihäri, wett zuelose ond zletschtemend no sogär die aalt Schprooch wider lärne. Vilicht khonds ase usi, vilicht aber o nöd. Es ischt ehnder demit z rächnid, as i Zuekhumft gad no en goolege Mischmasch gmueslet wierd, wo ase ring ischt ond khann mos veschtoh, will jo sowiso niem ond niemert em aane zueloset.

Eisenring, Simone

Die Eiskugel

Ich stosse auf
An der glatten Fläche Welt,
Kugle mich
In geballte Fäuste.

Sonnenstürme toben
Entlang dem Rückenmark,
Strahlenfäden weben sich
Aussen ein.

Meine Augen liegen
Lauernd sich im Haar,
Tausend Arme hängen
Verworren am Gestirn.

Krallen wetzen Haut,
Zähne schmecken Blut,
Wolken irren sich
Im Körpergeflecht.

Festgefroren bin ich
In der wunden Fläche Welt,
Die Kälte schlägt mir
Meine Angst ins Gesicht.

Elmiger-Bänziger, Heidi

Wasserstimmen

Aus dem Fluss steigt der Nebel,
kriecht hinauf bis zum Wald.
Auf dem Baum hockt eine Krähe,
es ist grau und so kalt.
(Nach einem Kinderlied)

Es ist Martin, diesmal. Im weissen Totenhemdchen liegt er, einen Verband um den Kopf, lächelt nicht. Seine Hände sind gefaltet. Wachsgeruch hängt im abgedunkelten Raum, die Gaststube nebenan ist leer. Lang und weiss die Kerzen links und rechts am Kopfende des Kindersarges. Weiss auch die Lilien. Sie stehen in hohen Vasen am Boden, verdecken den Fernsehapparat, auf dem Martin vergangenen Mittwoch noch die Kinderstunde geschaut hat. An der Längsseite des Sarges ein Nelkengesteck, davor das silbrig gerahmte Foto. Martin, fünfjährig, im Kindergarten, zierlich, bang, ein halbes Lächeln um Mund und Augen. Nur auf dem rechten Rand des kleinen Holzstuhls sitzt er, sitzt vor dem geschindelten, weiss gestrichenen Haus mit den grauen Fensterläden, dessen Untergeschoss den Kindergarten beherbergt. Mit steifen Fingerchen hält Martin den Wackelelefanten, den die Kindergärtnerin viel zu selten aus dem Schrank holt. Wenn man das graue Holztier antippt, kippelt es von selbst über das schräg gestellte Brett.

Die Augenlider flattern. Mir ist schlecht. Speiübel. Das Zimmer rückt von mir weg, der Lehrer, die Mitschüler. Es wird still. Eine Stille, als sei ich taub. Kaltes Wasser, in mein Gesicht geklatscht, holt mich zurück. Ich bin wütend, wütend auf meinen Körper, den ich nicht verstehe, der mich im Stich lässt, alle drei Wochen blutet, der mich daran hindert zu rennen, die Strasse hinauf ins Dorf, hinunter zu unserm Haus, wie ich es immer getan habe. Wütend bin ich auch auf meinen Vater, den Metzgermeister, der nichts zu bemerken scheint, mich anfährt, wenn ich nicht schnell genug unterwegs bin mit dem Korb voller Würste. Der Lehrer weiss nicht, was er mit mir, dem Nichtmehrkind mit dem fahlen Gesicht, anfangen soll, schickt mich nach Hause. Ob jemand mich begleiten müsse? Ich bin zwölf, finde den Weg alleine. Beim Bäcker Frei biege ich ins Moosgässchen ein, steige zur schmalen, steinernen Brücke hinunter, die den Dorfbach überspannt. Plötzlich ist das Flattern wieder da, die Übelkeit, die Stille. Ich muss mich setzen. In die felsige Höhlung setze ich mich, dorthin, wo der Bach wieder aus der Betonröhre tritt, seinem engen Bett unter der Hauptstrasse. Niemand soll mich sehen. Mit beiden Händen schöpfe ich Wasser, lasse es übers Gesicht rinnen. Nochmals. Nochmals. Dann sind die Hände leer, doch das Wasser läuft weiter, hört nicht auf zu fliessen, schiesst auf einmal wild daher, lehmig braun, braust an mir vorbei, greift nach meinen Schuhen, dann nach den Beinen, nach dem Bauch. Äste jagen vorbei, ein Baumstamm. Steinbrocken knallen an den Fels in der Höhlung. Die Flut wird mich mitreissen, fortspülen. Ich kralle mich an die Nesseln, spüre nicht das Brennen der winzigen Haare. Ein Gewitter, denke ich, es muss ein Gewitter sein. Entsetzlich, ein Novembergewitter! Das Wasser schlägt über mir zusammen. Ich treibe mit dem Geröll bachabwärts, neben entwurzelten Bäumen, vorbei an unserem Haus, unter der Mühlbrücke hindurch, krache mit dem Kopf immer wieder an die moosüberwachsenen Mauersteine am Rand des Bachbettes. Bei der Mündung werde ich in den Fluss gespült. Stille.

Regungslos hockt sie vor mir und starrt mich an, die schwarzweisse Katze der Nachbarn. Einen Moment lang betrachte ich sie, verwundert, bemerke den Bach hinter ihr, der ein Rinnsal ist. Nach Hause, denke ich müde, ich muss nach Hause. Dann richte ich mich auf, verscheuche die Katze, laufe den Weg hinunter zum Mühlacker. Es ist Freitag. Ein Wochentag, an dem alle zu tun haben. Ich steige hinauf in meine Kammer unter dem Dach, lege mich in den Kleidern aufs Bett. Nachdenken, ich muss nachdenken. Über den Bach. Das Wasser.

Der Bach hinter dem Haus
Dezember. Winterruhe am Bach. Gläserne Zapfen wachsen an den Ufermauern, die Steine sind mit einer dünnen Eisschicht überzogen, lautlos fliesst das Wasser durch eine schmale Rinne in der Bachmitte. Im Vogelbeerbaum plustert sich eine Amsel, pickt von den karminroten Beeren. Montags sind die Kälber jetzt nicht mehr, wie im Sommer, am Röhrenzaun hinter dem Haus angebunden, sie stehen im Stall, bis sie zur Schlachtbank geführt werden. Auf den Fensterscheiben sind über Nacht Eisblumen gewachsen. Sie verwehren den Blick auf den Bach. Das Haus im Dornröschenschlaf.

Im Frühling, wenn Schlüsselblumen blühen und am Bachufer goldgelbe Sumpfdotterblumen, wenn die Wiese auf der anderen Seite des Baches voller Gänseblümchen steht, wenn Leintücher, frisch gewaschen, auf der Terrasse vom Wind gebläht weiden, hänge ich mich ans Röhrentor; das längst keine Funktion mehr hat, schaukle über Wiese und Bach hin und her, hin und her; summe. Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald.

In der Zeit von Schlangenknöterich und Storchschnabel springen wir über den Bach. Karolina und ich sind die Jüngsten. «Eins, zwei, drei», rufen die Schwestern, versprechen, uns zu halten, nicht in den Bach fallen zu lassen, wenn der Sprung zu kurz ist. «Eins, zwei, drei!» Karolinas Kleider hängen an der Wäscheleine auf der Terrasse, wir sitzen am Boden darunter und warten. Niemand darf etwas erfahren! Karolina ist unversehrt, bekommt Cola-Frösche und Tiki-Würfel geschenkt. Will nie mehr springen.

Orangerote Hagebutten liegen zum Trocknen auf Zeitungen. In der Kammer mit den geschlossenen Fensterläden liegen sie, schrumpeln mit der Zeit, färben sich langsam braun. Die Heckenrose am Bach hat ihre Blätter verloren. Regen trommelt ans Küchenfenster. Mein roter Ball mit den weissen Tupfen treibt im Wasser, treibt bachabwärts. Der Bruder, Jahre älter als ich, und mutig, versucht ihn herauszufischen. Doch der Ball verschwindet unter der Mühlbrücke. Verloren. Im November schreiten Rabenkrähen über die Wiese hinter der Schreinerei. «Es wird einen Toten geben», sagt die Mutter, «vor der Zeit».

Ein Krug Tee steht neben meinem Bett. Es ist kalt in der Kammer. Jemand muss da gewesen sein, hat das Schiebefenster aufgestossen. Thea vielleicht? Oder doch die Mutter? Ich ziehe die Decke über mich, die die Mutter im Sommer genäht hat, nachts, über die grüne Elna gebeugt, zu müde eigentlich von einem langen Arbeitstag. Es ist still, keine Stimmen im Haus, kein Motorengeräusch von der Strasse her. Es muss Mittag sein. Halb eins. Dann spricht keiner, alle schweigen, damit der Vater den Nachrichtensprecher am Radio versteht. Freitags kommen Tomatenspaghetti und Hackfleisch auf den Tisch. Ich habe keinen Hunger, drehe mich zur Wand. Die Mutter hat sie neu tapeziert, im vergangenen Sommer, als ich weg war.

Der See
Im Sommer war ich am See, bei Eva in den Ferien. Sommer ist dort See. See ist Sommer. Das grosse Haus steht auf einem Hügel, die Fensteraugen sind auf den See gerichtet, auf die Insel darin. Das Haus riecht neu, ist voller Licht und abenteuerlicher Schatten. Überall im Haus das vertraute Drunter und Drüber. Überall Bücher. Für Regentage, an denen der See grau ist, Spiegel des düsteren Himmels. Regentage, an denen Wellen ans Ufer schlagen, blinkende Lichter von allen Seiten vor Sturm warnen. Regentage, die in diesem Sommer nie eintreffen. Der Mirabellenbaum im Garten unterhalb des Hauses trägt kleine, süsse Früchte, Johannisbeerstauden und Himbeerbüsche sind voll behangen. Evas Mutter steht tagelang in der Küche, kocht Konfitüre ein, backt Brot. Wir liegen am See, schauen hinauf ins Blätterdach, hören dem Wispern der Weiden zu. Nachts, wenn die sonnenheissen Körper uns nicht schlafen lassen, flüstern wir. Eva hat einen Freund.

Beim Landesteg warten wir auf das Schiff, das uns auf die Insel bringen wird, sitzen auf den warmen Planken, lassen die Beine baumeln. Eva erzählt vom tiefen Wasser, von Ertrunkenen. Ihre Stimme klingt dunkel, die feinen Härchen auf ihren sonnenbraunen Armen stellen sich auf. Mich schaudert. Wolfgang lacht. Er ist ein Seekind, die Mutter von der Insel, der Vater vom Dorf gegenüber auf dem Festland. Seekinder fürchten das Wasser nicht, auch wenn es die Keller ihrer Häuser überschwemmt. Einer wie Wolfgang kommt mit Schwimmhäuten zwischen Zehen und Fingern zur Welt, damit er den See zwischen Insel und Festland durchqueren kann. «Im See sind Algen», raunt Eva. «Sie schlingen sich um deine Beine, lassen dich nicht mehr los, ziehen dich in die Tiefe. Sind Menschenfänger, Kinderfresser.» Ich bin froh, dass die ‹Stein am Rhein› anlegt, dass wir einsteigen müssen. Eva gehört jetzt zu Wolfgang.
«Gib Acht auf die Algen!», ruft Eva mir nach. Ich bin ein Pflug, teile das Wasser mit Armen und Händen, schiebe die Beine auseinander; schlage die Schenkel zusammen, katapultiere mich vorwärts, lasse mich gleiten. Beim Einatmen sehe ich Wolfgang, der im Boot neben uns her rudert, beim Ausatmen das dunkle Wasser unter mir. «Gib Acht auf die Algen! Beweg dich nicht, wenn Algen deine Beine streifen. Lass dich treiben.» Der See lässt also unter der Oberfläche tückische Pflanzen wachsen, sie fangen für ihn Menschen ein, ziehen sie in die Tiefe. Einsam muss er sein, der See, dass er sich auf diese Weise Gefährten holen muss, die dann doch nicht mit ihm spielen wollen, nie mehr lachen, nie mehr rufen. Was hat er davon, wenn sie leblos auf seinem Grund liegen? Genügt es ihm, sie mit Kieseln und zarten Wasserpflanzen zu schmücken? Dass Schwärme winziger Fische über die Seegräber ziehen?

Ich drehe um, will zurück zur Insel, kämpfe gegen die Wellen. Sie wollen mich zurück ins tiefe Wasser treiben. Immer gleich weit scheint das Ufer entfernt zu sein. «Ruhig. Ruhig bleiben, zählen.» Ich schwimme mit geschlossenen Augen. Öffne sie bei zehn, um die Richtung nicht zu verlieren. Endlich! Beim Bootshaus lasse ich mich ins Gras fallen, trocknen von der Sonne.

Am Nachmittag ist Arbeitsschule. Ich muss aufstehen, sofort, mit den anderen Mädchen um halb zwei vor der Schulzimmertüre stehen, Spitzen an den Ausschnitt des zauberhaften, türkisfarbenen Babydolls nähen. Das Flattern ist augenblicklich da, als ich meine Füsse neben dem Bett aufsetze. Die Stille. Eine Nähnadel mit weissem Faden zwischen meinem Daumen und dem Zeigefinger. Ich ziehe den Faden straff, zu straff, meine Finger schwitzen. Der Faden färbt sich schmutziggrau. Mir ist elend. Ich falle ins Kissen zurück, falle tief und tiefer.

Der Fluss vor dem Haus
Sennen haben in ihrer Alphütte eine Götzenpuppe aufgestellt, aus Käselaiben, aus Steinen und Stöcken, die sie auf den Alpweiden zusammengetragen haben. Sie tun Dinge mit der Puppe, die nicht recht sind. Gottes zorniger Blitz vernichtet die Hütte mitsamt den Sennen. Die Geschichte, die Annas Mutter am Sonntagnachmittag in der Stube erzählt hat, geistert in unseren Köpfen weiter, gruselig, irgendwie sündig. Was sind Dinge, die nicht recht sind? Hinter dem Felsen, beim jenseitigen Flussufer, geschützt vor Blicken aus dem Pfarrhaus, bauen wir Götzenpuppen aus Steinen und Wurzelwerk, aus Lehm, Moos und Schlamm, eine für Fanni und Karolina, eine für Anna und mich. Und wir tun Dinge, die nicht recht sind. Singen für die Puppen, beten sie an, warten gespannt, ja ungeduldig auf die gerechte Strafe Gottes. Am vierten Tag ist Annas und meine Puppe zerstört, die Steine liegen verstreut, Moos und Schlamm sind verschwunden. Gott war das nicht. Fanni und Karolina wissen nichts von der Verwüstung. Wir treten dennoch mit den Stiefeln nach ihrer Puppe. Frieden kehrt ein, als der Fluss hohes Wasser führt und die Trümmer wegschwemmt.

Wenn ich alleine bin mit dem Fluss, ist er mir unheimlich, widerstehen aber kann ich ihm nicht. Donnerstagabend, wenn ich zur Turnhalle gehe, nehme ich die Abkürzung über die glitschige, kleine Staumauer; springe über den moosbewachsenen Kanal mit dem schwarzen Wasser. Ich habe Angst. Man wird mich nicht finden, wenn ich ausrutsche. Der Kanal führt zur Fabrik. An seinem Ende muss eine Turbine sein. Da hinein würde ich geschwemmt, zerstückelt würde ich darin. Angst will mich überwältigen, lähmen, aber ich kehre nicht um. Hinterhältig ist der Kanal hier, gefährlich, man muss ihn überlisten.

Thea steht neben dem Bett, von der Mutter geschickt. Nein, ich mag nicht essen, ich kann nicht aufstehen, mir fehlt nichts.

Der Fluss vor dem Grosselternhaus
Freundlich und klar ist der Kanal ein Stück weiter hinten. Vor ein paar Jahren noch, wenn das Wasser im Sommer jeweils nicht mehr über die Staumauer lief, durften wir die Kniesocken ausziehen, barfuss gehen. Fluss und Kanal waren unsere Badeanstalt. Beim zweiten Schleusentor stiegen wir ins Wasser, auf dicken, schwarzen Autoschläuchen liessen wir uns kanalabwärts treiben, bis zur Brücke. Dort hievten wir die Schläuche an Land, kletterten hinterher, trabten auf dem Uferweglein zurück, der Schlauch rollte wie von selbst auf der Wiese neben uns her. Das Spiel konnte von neuem beginnen, ganze Nachmittage fortdauern.

Einmal, an einem heissen Sommersonntag, kommt sogar die Mutter, legt sich auf der hellbraunen, geblümten Wolldecke neben dem Kanal an die Sonne. Alle Kinder aus unserer Strasse sind da. Die Buben schwimmen und tauchen im Fischerloch unten an der Staumauer, die Mädchen planschen und spritzen im Wasserbecken vor dem ersten Schleusentor. Ich bin eines der jüngsten. Plötzlich spüre ich keinen Boden mehr unter den Füssen, zapple, tauche unter, schnappe nach Luft und weiss augenblicklich: Jetzt ertrinke ich. Es ist Christine, die den Haarschopf unter der Wasseroberfläche sieht, danach greift und mich herauszieht. «Pass auf», schreit sie und schwimmt weiter. Ich lege mich auf die warme Staumauer, bette den Kopf zwischen die Arme, will nicht, dass jemand sieht, wie ich weine. Die Mutter fragt, ob ich mit ihr nach Hause gehen wolle. Nein. Meine gestrickte Badehose muss erst trocknen.

Von da an schwamm ich mit einem Gürtel aus braunen Korkteilen. Meine Schwestern lachten und sprachen vom ‹Wetzsteinschwumm›. Ich verstand nicht, was sie meinten, hatte den Schlosser Wettstein noch nie schwimmen sehen. Als in den Nachbardörfern Schwimmbäder eröffnet wurden, lernte auch ich schwimmen. Der Badeplatz am Fluss blieb leer.

Thea steht wieder in der Kammer, steht neben meinem Bett, schweigt, schaut an mir vorbei, zur tapezierten Wand. Dann: «Es ist Martin. Sein Stiefelchen, das linke, ist ins Wasser gefallen. Beim Fischerloch vor dem Grosselternhaus. Heute, nach dem Mittag. Er hat es holen wollen. Ist ausgerutscht. Hat sich den Kopf aufgeschlagen am Felsen. Einer der Ammann-Buben hat auf dem Schulweg das rote Stiefelchen im Wasser schwimmen sehen, hat den Dorfpolizisten geholt. Der hat Martin gefunden.»

Elmiger, Dorothee

Orientierte mich an den Fördergerüsten

Ich ging einmal die Treppe hinunter und schaute durch die verglaste Tür. Die Polizeibeamten, sie sassen so gleichmütig da und erfassten alles leichterhand in ihren Akten.

Der Vater wässerte eine Orchidee und telefonierte.

Anfangen wollte ich mit dem Vater, dachte ich, mit Heribert Stein, seines Amtes Polizeikommandant, geboren an einem 4. Juli. Mit dem Vater zuerst, dann käme die Mutter, die mich schliesslich gebar, die Grosseltern und so fort mit dem Nacheinander in der Zeit. Würde ich dann zum Buenaventura gelangen? Wie verlief die Geschichte?

Ich stand einmal draussen auf dem Parkplatz und lauschte den Kieselsteinen, wie sie unter meinen Schuhen knirschten.

Ich machte einmal den Badeofen an. Dann sass ich auf dem Wannenrand und berührte mit den Füssen eine Fliese nach der anderen.

Aber!, dachte ich, familiäre Bande tragen nichts zur Sache bei. Wenn wir die Anker lichten und auslaufen, hilft uns kein Vater mehr, helfen uns nur die compagnons.

Dann stürzte ich mich in das Wasser, das ich in die Wanne hatte einlaufen lassen.

Fritzi betrat das Bad gegen Mittag, als ich noch immer so lag. Sie trug Bücher unter dem Arm.

Hin und wieder, sagte sie, finde ich draussen Schilder mit Fachvokabular an einem Pfahl, einer Strebe. Technische Kennzeichen, maximale Traglast, Ein/Aus, Kessel I, Kessel II, Stopp, 1 Amp., Warnung, Achtung!, hier fand einmal statt: Bergbau.

Diese Wörter, sagte Fritzi, liegen noch immer über der Landschaft, obwohl sie die tatsächlichen Begebenheiten der früheren Zeit längst hinter sich gelassen haben.

Sie legte die Bücher, die sie mitgebracht hatte, auf den Schemel bei der Wanne. Vor dem Spiegel strich sie sich durch das Haar, als hätte das Tragen der Bücher eine grosse Anstrengung für sie bedeutet.

Sodann begann ich wieder zu lesen. Ich suchte nach den Wörtern, von denen Fritzi sprach. Sie fanden sich in jedem der Bücher, in montanwissenschaftlichen Zusammenhängen:

Kohlenzeche
Fördermaschine
Förderturm

schematischer Schnitt

Förderturm
Waschkaue
Wetter

Grubenlicht

Seilwinde
vor der Kohle, ein Kohlenhäuer
spätere Elektrolokomotive
Förderschale
Füllort
Kohlenlagerplatz

Den ganzen Tag über fuhr ich fort.
Zuweilen fand ich mich zwischen den Büchern wieder, wie ich die Wörter vor mich hin sagte. Ich wusste nicht recht mit ihnen umzugehen, was war ein Kohlenhäuer, zum Teufel!, trotzdem glaubte ich zu verstehen, was sie eigentlich verhandelten und weshalb sie mir von selbst weitere Wörter zutrugen, von früher an den Küchentisch. (Streik und Sabotage, Berlin, Herr Buenaventura Durruti – Syndikalist und Sohn eines Eisenbahnarbeiters.)

Die Wörter, sagte Fritzi am Nachmittag, als sie kurz zur Tür hereinschaute, enthalten bereits, was wir mühsam zu finden und wiederholen versuchen. Sie lachte.

Später schlummerte ich. Das Wasser plätscherte ganz leise, und das Feuer im Ofen war längst aus.

«Let us leap into the sea», cried Fritz, «and swim to the shore.»

«Very well for you», cried Ernest, «who can swim; but we should all be drowned. Would it not be better to construct a raft and go all together?»

«That might do», added I, «if we were strong enough for such a work, and if a raft was not always so dangerous a conveyance. But away, boys, Iook about you, and seek for anything that may be useful to us.»

Als ich wieder aufwachte, stieg ich aus der Wanne. Zuletzt an diesem Tag notierte ich mit klammen Fingern, dass die Schwester Buenaventura Durrutis denselben Namen wie unsere Mutter trug. Das Wasser floss in einem kleinen Strudel dem Ausfluss zu.

 

 

Kohlenbrände bewegen sich schnell und heimlich durch die Stollen. Sie unterwandern das Gebiet, sie suchen es heim. Seit einiger Zeit nun wölbte sich früheres Waldland, türmte sich in weiter Entfernung an den Rändern des Reviers, zersprang aufgrund der Hitze.

 

 

Am nächsten Tag ging Fritzi Ramona Stein den Weg nach St. Beinsen, auf der Suche nach dem Fluss. Hob ab und an den Blick, schaute dann wieder hernieder auf den Boden, diesen trockenen Boden. Orientierte mich an den Fördergerüsten, sagte sie nach ihrer Rückkehr. Wir waren der Himmelsrichtungen längst verlustig gegangen.

Ich trug meinen Sextanten auf dem Rücken, in einer ledernen Hülle.

Orientierte sich an den Fördergerüsten, schrieb ich an diesem Abend, und:

Grund dieser Schreiben, Wortergreifungen und Aussprüche, Grund auch aller umständlichen Rufe über das Land hinweg und tief in seine Schächte hinab, all dieser zukünftigen Zusprüche, Überlegungen und Unternehmungen, ist die Suche nach dem fehlenden Fluss.

Ich schrieb:

Wir sind ruhig. Es gibt aber ein Gefühl, es zieht in den Schultern gegen den Hals, es macht unsere Kiefer zittern. Bald werden wir laut sprechen wollen. Sollten wir uns womöglich dies Gefühl verbieten? Macht es uns schwächer? Nein, es wird womöglich eine Verbindlichkeit schaffen!

Diese Verbindlichkeit wird nicht auf der gemeinsamen Angst vor dem Verlust der Sicherheit beruhen. Dazu schreiben wir nun auf Schroeders Maschine diesen Bericht, weder zur Wahrung der Ordnung noch zur Verhinderung der Konfusion. Keine ordentliche Bestätigung des altbekannten Gegenwärtigen, nichts Unterhaltsames über unsere Lage, in der wir uns so vermeintlich gut eingerichtet, wie der Beamte Schroeder hinter seinem Schreibtisch. (Dazu rief Fritzi durch die offene Küchentür, Aufhören!, aufhören mit der Vorabendunterhaltung, mit der Abendunterhaltung, mit der Unterhaltung im Allgemeinen. Unterhaltung tut mir in den Augen weh, sie bricht mir den Rücken knapp unter dem Halsansatz, ich habe sie satt, mein komplettes bisheriges Leben wurde mir von Unterhaltung erschwert, die Unterhaltung ist eine tiefe Grube im Untergrund des Landes, die sich über die Jahre mit Tierleibern gefüllt hat.)

Stattdessen dokumentieren wir zum Trotz die Verwirrung und das grosse Fehlen, das sich hinter der amtlichen Sicherheit eröffnet als weites und karges Tal, das ist das Tal dieser Geschichte.

Enzler, Karin

Hau- und Schmetterverse

Vögle

I so eme Bomm obe
mösst me lebe,
si mit 4 Zehe
a me Eschtli
fescht
häbe
ond e chli pfiife
ond e chli bralle
eppe
e fuuls Früchtli
öbefalle …

 

De Schrett drussuus

Heilandsack! Hets mi vedrölled!
Ond glege bin i fööf Mol chromm!
Bi wie de Tood,
schteeschwää ond domm,
im Bett elege
ond ha gwesst:
nie wide will i goh!

Nie wide meh mach i en Schrett.
Nie wide meh chom i go hölfe!
Nie wide meh gang i veruus!
Nie wide meh, nüd eemol no, ond Schluss!

Ond tröllt ha mi ond gfuttered ond gflueched
bis dass me s Chössi tropfed het vom Gääfe.
Ond denn ischt e Schimmeli
dö de Vohang gschleche
ond het me glüüchted bis uf d Seel,
het mi krüseld am Heeze
ond pumped hets i Hend ond Füess ond Bee:

«Schtand uuf ond tue gut Ding!»
het fii de Moge gruefe.
«Schtand uf ond schtreck di föschi!
Chomm mit
i los di schnuufe!»
hets mi glocked – doch bocked
han i ond wöld gruefe:
«Da glob i nüüd, da los me nüd vezölle!
Wenns geschtere schlecht
ond schtreng ischt gange,
chas hüt nüd liecht ond eefach see!
E jedes Lebe het so sini Temp’ratur,
ganz oscheniet
chocht da Söppli vo si heri!
Eb hüt, eb moon, eb Nacht, eb Taag:
seb isch em wohli gliich».
Ond tröllt ha mi ond gfuttered ond gflueched
bis dass me s Chössi tropfed het vom Gääfe.

Ond denn ischt no e Schimmeli
dö de Vohang gschleche
ond het me glüüchted bis uf d Seel,
het mi krüseled am Heeze
ond pumped hets i Hend ond Füess ond Bee:

«Gang usi ond lueg in Himmel»,
het mi d Sonn scho möge rüefe.
«I lüüchte hütte gad fö dii!
Chascht me södere ond mi wöld chiibe,
i hol di wide, i will de bliibe, i will di triibe
i de schö neu Taag!»

«E so en Seich!
So wiibisch süess de Schmare!
Häb de Latz ond los mi hare
i mim graumeliete Bett
voll Netz ond Müüs ond Fäde,
voll Brösmeli ond Schnode!
Niemed moss me hüüchle,
bruche kee Vespreche!
Nütz cha bliibe, nütz chont wide, nütz kööt mee!
I bliibe ligge!»

Ond tröllt ha mi ond gfuttered ond gflueched
bis dass me s Chössi tropfed het vom Gääfe.

Ond denn ischt wide e Schimmeli
dö de Vohang gschleche
ond het me glüüchted bis uf d Seel,
het mi krüseled am Heeze
ond pumped hets i Hend ond Füess ond Bee:

Do han is loo. Ha möse uufgee. I bi elege.
Wie us em Nütz
bin i gschtande
ond gange
e paa Schrett
oms Bett
ond in Gaate
und drussuus!

 

Grood

Da
wo
bliibt,
isch
nüd
all da,
wo emme
lüüb.
Nüd
all da
wo me grad
bruucht,
ond
siche
nüüd,
wa
me si
suecht.

Da
wos
bruucht
isch
meischt
nüd da,
wo me cha.
Selte da
wo me mag
ond gä nie da
wo me
tuet.

Wenn d’
etzt no
bliibsch,
e chli
gaanz ruhig
bi me
liischt,
e chli
eng
mit
me schwiigscht.
Ond
nüd froogsch,
wa denn
isch!

Wenn d’
etzt nüd mosch
go,
di Andere
uf de Schtrooss chasch
loh,
niemed
zo ös i’d Schtobbe cha (cho)
ond
wa me sött
isch scho
devo!
Denn
wär
i froh!

Denn
wör i hütte
s’Chiffle
loh!
Denn
wär i
zfredde
grad wie
Du.
Denn
wör i ligge
bliibe
gen bis moon.
Denn

De tröi,
denn wä’
De zahm
ond gaanz
e Fröid.
Wä gaanz
wie nöi.
Denn
wetsch:
dass
all no alls
so bliibt,
das össeri
Liebi
ligge
bliibt.

Enzler, Simon

Du sollst nicht fluchen

Häässt jo all: Du sollst nicht fluchen, göl … Wobei: wieso enad nüd? Me tuet denn siche nüz Tömmes. Oder? I meenä, wenn enn konsequent nüd fluecht, aber paralöll dezue en blöde Sausiech ischd, denn hets em jo au nüz proocht. Oder? Also denn vill lieber allewilä recht sackeremels ommäflueche ond deför e chli en Feingeischt see, göl … e chli fiziseliert … wie zom Bischpil ii, göl … Ond ii menä, i fluech jo eigentlich, wenn mer s emol gnau nent, fluech i jo gä nüd ase satansvill. Aber wenn, denn men i s wenigschtens ehrlich. Ond das velang i au vo minä Mitmenschä! Ehrlichkeit ond Aufrichtigkeit! Mee isch doch vill lieber, wenn mer en grad usi, ond zwor i beschtä Absicht, säät, i sei en chrüzwettertommä Sauschnori, als wenn er s nüd emol tenkt … ond (!) mer gliichzitig i d Lavärä ini lacht. Dä huerä Hüüchler dä …!

Jesses, sövl Lüt wie meer tagtäglich grundlos zmetzt ini … göl, tirekt is Angesicht ini lachid ond schtinkfrech eso Sache sägid wie zom Bischpil «Grüezi» oder «Ah, schöö, dass me Si au wider emol gsiet, das ischd jetzt en Öberraschig!»… Öberraschig, Öberraschig, am Födlä hönnä Öberraschig, du phantasiilose Sautotsch du! Do sönd doch mindeschtens 90 Prozent vo dene, sönd doch alls denä velogni huerä Pharisäer … sönd das! Do mach i mer doch gär nüz vor. Äh chomm, isch doch öpä gliich ghüüchled, wie wenn en Polizist zo mer säät: «Es ischd no i dä Toleranz … bitte, Si töfid witer fahrä.» Denn ment er eigentlich «Wat no! Nöchscht Mol vewütsch di, du himmeltruurigä Bosidant du, nüzigä». Aber denn söll er s doch au säge, ond zwor genau, wien er s ment, offe, ehrlich, transparent. Mit demm han i ke Problem. Problem han i hingägä mit bewaffnätä Lüt, wo s Gfühl hend, si mösid eso künschtlich fründlich see. Das ewaat i gä nüd vo ennem mit eme volle Magazin. Vo me Bluedhond ewaat i schliesslich au nüd, dass er Birchermüesli fresst, oder?

Oder dä Typ vom Schtüüramt, dä isch … nett gsee! … joo dä het mer mit sinem fründlichä ond zuvorkommendä Onderton, mit sine latente Menschlichkeit het dä mer schogää richtiggehend Hoffnig gmacht. Ond nochhär … he? … die Schtüürrechnig, wo dää mer hinterrücks mit A-Poscht … gschickt het, wa häässt doo Schtüürrechnig? Das isch dä blanke Zynismus! Das isch di pure, papiergewordene Menschenverachtung … isch das gsee … dä huerä Seckl dä! I meenä, nüd dass die Rechnig nüd gschtomme hett, die het schogää sehr wohl im Detail … het die gschtomme, aber denn söll er mer das imä aagmessnä Ton aachöndä! Hett er halt gsäät: «Ha, jetz ha di am Arsch, jetzt kommt der Aderlass, du elendä Landfuuler du!». Denn hett i mi wenigschtens moralisch chöne druf vorbereite … ond au finanziöll! Jo denn hett i siche nüd no Feeri puechäd im Berner Oberland … denn wäär me halt in Bregenzerwald usi.

Aber nei, i schtand im Baumarkt vor erä mindeschtens föfzäetuusigfränkigä Schneeschleuderä, zor Sicherheit emol di gröösser als de Nochbur het … wel i jo tenkt ha, hä, die liit jo no locker drön … jo sös vetommed si s doch gad fö die Polschtergruppä, wo mer scho set zeä Johr druf schpärid … I demm Moment  … wenn me vo dä Frau schwätzt, denn lüüted si aa ond vezöllt äbä vo därä Schtüürrechnig i dä Vomittaags-Poscht. Fö mii ischd buechschtäblich e Wölt zemäkeit … nüd gnueg, dass mi das Beamtähirni unter Vortäuschung falscher Tatsachen animiert het, in ä motorisierti Löösig fös Schorä vom Vorplatz z inveschtierid, nei, uf em Heeweg ischd mä dä Sauchog au no vekoo, im Auto, ond het me eso süffisant … eso hinterhältig ond hämisch … het dä mer … zuegnickt! Dä nüzig truurig huerä Bleisatan dä … Aber s Schlimmscht isch gsee, dass er, won er mini neu Plastikschneeschuflä … jo, e simpli, saublödi, chineeseschi Plastikschneeschuflä … fö meh het s halt nommä glanged! … won e die uf em Tachträger obe gsee het … het dä Drecksack au no in ärä höchscht aggressivä Art ond Wiis … sini vetammtä huerä Augebraue glopft! Dä vefluemeret, vetaseret, sibäbleileidig Tintäfass-Söffl, dä truurig! Isch doch wohr! … Do bisch du enere derig massivä … schtaatlichä Willkür eso schutzlos usgsetzt, do weer me sich doch au no töfä adäquat ufregä … Heilandsacknomol!

Tschuldigung … das ischd jetz villicht glich e chli scharf gsee. I wääss, söt me nüd säge … Heilandsack … tuet mer leid. Ischd au historisch völlig unkorrekt, Heilandsack, wel dä Heiland ischd jo nüd mit emä Sack i d Wüeschti zogä … sondern doo scho mit ärä Reisegoffärä … (Lacht) Chlinnä Witz gsee … Nei, etz im Ernscht: Was jo vill Lüt gär nüd wessid, ond das sönd meischtens die, wo sägid: «Jo doo de Komiker vom Fusse des Alpsteins, dä wäär jo scho no … aber e flueched halt e chli vill …» Em Födlä hönne fluech i vill, … i fluech nüd vill, i fluech maximal d Hölfti. Di ander Hölfti ischd ganz nebis anders. Wel Fluechä an sich, also richtigs Fluechä … wie äbä das Bischpil Heilandsack wunderbar zääged, ischd jo im Grunde nebis tüüf Religiöses. Ond drom jo au nüd schlecht, wel: isch jo religiös. I mä richtigä Fluech innä moss nemlich per Definition zwingend mindeschtens dä Herrgott, sini Vewandtä, e paar Heiligi oder wenigschtens d Requisitä, wie s z Tod choo sönd, vorchoo. Denn ond no denn isch es en richtige Fluech, wo das Label au vedient het. Alls ander, ond do get s eine breite Palette wie zom Bischpil … Schofseckel … herrlich, oder Tubelaffsiech, oder ganzi Konschtrukt wie du huerä Pflutschguugä, du elendi … das wet übrigens sehr viel gmacht bi öös, dass me nebis hönne noi schiebt zo klare Deklaration … du Pflutschguugä, du elendi … das macht das Ganz e chli farbiger, joo, au menschlicher … aber, eso schöö, as die Begrefflichkeite sönd, si sönd tatsächlich ke Flüech im religiösen Sinne. Haa, wel eso en Schofseckel oder en Tubelaffsiech ischd allerhöchschtens ä Beamtäbeleidigung. Wobei,  je noch Amt … nüd emol seeb.

Erat, Ruth

Der Werkzeugkoffer im All

2.
In Berlin, vor der Caprivibrücke,
geht ein Kind an der Hand seiner Mutter, schreit:
Hört endlich auf, ihr Vögel!

3.
Ich laufe von der Karl-Marx-Allee weg,
hinein in die Friedenstrasse,
wo man für die Gräber Begonien verkauft.

4.
Am Küchenfenster an der Friedenstrasse
scheint leichthin möglich,
dass Bäume die Stadt zuwachsen.

5.
Fragst du, ob die Angst davor,
dass in der Schweiz die Gedanken entfallen,
berechtigt ist?

[…]

102.
Hunger befällt.
Sich Brot einverleiben und Wein.
Die verbliebene Beute.

103.
Im See schwimmen alte Frauen und Männer.
Vom Sommer gegerbte Körper steigen aus dem Wasser,
fassen sich an der Hand.

104.
Auf den Farbfotografien im Museum
erzählt der Alte im komplett zerschlissenen und
verdreckten Mantel
Kindern Geschichten. Es war.

105.
Im Fenstergeviert rot und blau und gelb der Rundlauf.
Regennass leuchten die Farben.
Niemand da.

[…]

202.
Nie ist die Verzweiflung der Menschen so greifbar
wie in den langen Nächten,
in die hinein aus Vorgärten Hirsche und Schlitten
und Engel blinken.

203.
Das Bild, das ich wahrhaben wollte:
dass der hochgeschlagene Mantelkragen genügt,
kein Aufgeben ist.

204.
Es ist ein Krieg im Gang,
von dem wir nichts wissen,
nur Bildfetzen sehen – ans Ufer gespülte Tote aus Mogadischu.

205.
Eben noch verlachte man den realsozialistischen
Wirtschaftskollaps.
Nun werden die Banken vom Staat nach dem ver-
höhnten Muster
mit Milliarden gefüttert.

Etter, Hans Jürg

Herbstgesänge

6
Der Himmel ist wortbrüchig.
Der Riss geht tief,
geht durch das Bachbett vergangener Tage,
geht durch die aufkeimende Blume,
geht durch das Buch,
geht durch das Feld,
geht durch das Holz und das Haus,
geht durch das Geschlecht
und geht durch mich
und geht durch dich.
Und was abgewiesen erscheint
und in der Trennung verkommt,
kann nicht zum Guten gedeihn.
Der Riss geht durch Mann und durch Frau

19
Der Astbruch zeigt sich im See
in spiegelnder Welle.
Und in der Brechung verschwimmt der
Mond mit dem See und dem Baum.
Der hat die Blätter verloren,
und die treiben jetzt,
Ulme, Buche, Birke, Eiche,
auf dich zu,
gelb und verfärbt
von weissnichtwas,
vom Herbst,
vom Flügelschlag der Zeit.
Der Wels ging auf Grund
und schaut Welträtsel,
die Rückenflosse gekrümmt
und abgeschlagen.

21
Du trägst den Tod im Auge
wie das Blatt die Landschaft.
So kommt er tatsächlich,
gut gekleidet,
die Haare nach hinten gekämmt,
gescheitelt,
mit grobgelbmustriger Krawatte aufgeputzt,
rührt er dich an in deinem Auge
und bleibt
und bleibt im Dunkel des Walds
und bleibt in der Tiefe des Bergsees.
Das verraten die Falten deiner Augenhöhlen
und deine Pupillen,
in denen er wohnt und eingeht
von innen und aussen.

Etter, Paul

Wie ich Bergsteiger wurde

In der Nähe der Heimat und doch in den Bergen wollte ich meine Lehrzeit als Bäcker-Patissier durchlaufen. So zog ich hinauf ins Obertoggenburg, hinauf in dessen oberstes Dorf, ins heimelige, von vielen Bergen umgebene Wildhaus. Fünfzehnjährig geworden durfte ich die Lehre antreten und setzte zuerst allen Ehrgeiz ein, um ein guter ‹Stift› dieser süssen Zunft zu werden.

Nach und nach lernte ich auch nette Kameraden kennen, mit denen ich meine Freizeit und die Sonntage verbringen konnte. Bald gelang es mir auch, sie für die Berge zu begeistern, und hin und wieder bestiegen wir zusammen die schönsten Gipfel der Umgebung. Mit Säntis, Altmann, Schafberg, Gulmen, Mutschen war ich bald sehr vertraut. Doch die Kreuzberge lockten mich, und ich konnte meine Gedanken nicht von ihnen losreissen. Dort hinauf zog es mich, aber der Meister riet mir dringend von solch wilden Klettereien ab. Auch meinen Kameraden waren sie zu gefährlich. So war ich genötigt, ganz allein zu gehen.

Beim ersten Versuch schwindelte mir schon, als ich über den ausgesetzten Grasrücken gegen die Felsen des achten Kreuzberges stieg. Nein – so ein Tiefblick ins Rheintal, das war doch zuviel für mich. Enttäuscht zog ich mich zurück und begann zu ‹trainieren›. Aus meinem bescheidenen Sackgeld kaufte ich mir ein Wäscheseil, übte den Dülfersitz, kletterte in grasbewachsenen, brüchigen Felsen umher und setzte mich grossen Gefahren aus, die ich in meinem jugendlichen Leichtsinn nicht erkannte. Wie oft hätte ich ausgleiten und abstürzen können!

Dann stand ich wieder vor dem achten Kreuzberg. Es stürmte, und der Himmel war bedeckt. Trotzdem hatte ich diesmal schnell das Grasgrätlein überstiegen und die Einstiegschlucht erreicht. Ich stieg durch diese hoch, bis ich an einen etwa acht Meter hohen Felsabsatz gelangte. Er war sehr nass. Etwa drei Meter stieg ich hinauf und blieb dann stecken. Der Wind rauschte auf dem Grat, schwarze Bergdohlen kreischten um mich, und ich hörte die eiserne Gipfelfahne auf dem fünften Kreuzberg knarren. Angst schlich sich ein. Ich kam nicht mehr weiter. Es war einfach zuviel für mich. Mit hängendem Kopf stieg ich wieder ins Toggenburg hinab, einer arbeitsreichen Woche entgegen.

Doch diese Niederlage liess mir keine Ruhe. Darum kam ich eben ein drittes Mal an den Berg. Viele Touristen waren in der Gegend. Ich wollte nicht gesehen werden und schlich mehr als ich kletterte über das mir nun schon vertraute Grätchen in die nahe Schlucht.

Die Felsstufe war diesmal trocken, so dass ich sie besser überklettern konnte. Vor Erregung und Anstrengung keuchend kam ich auf der Scharte zwischen dem achten und dem siebten Kreuzberg an.

Der Tiefblick von hier ins Tal beeindruckte mich so sehr, dass ich auf allen vieren über die weiteren Felsen kroch. Der Gipfel war nun merklich näher gerückt, und nach einer weiteren Kletterei hatte ich ihn erreicht. Kaum wagte ich aufrecht zu stehen, aber die Freude über diesen ersten Erfolg war so gross, dass ich halblaut zu singen anfing.

Im Steinmann steckte ein Gipfelbuch, welches ich gierig durchblätterte. Es war bis fast auf die letzte Seite voll mit Namen solcher, die den Berg auch bestiegen hatten. Nicht nur über den Normalweg, – nein, sogar die Westwand und die Südwand waren schon durchklettert worden. Ich bewunderte diese mutigen Menschen. Dann schrieb ich gross und breit auch meinen Namen ins Buch, und mit winzigen Buchstaben fügte ich das Wort ‹Normalweg› an.

Wenige Minuten später war ich wieder auf der Scharte und hatte dort den Einfall, mich gleich auch noch am siebten Kreuzberg zu versuchen. An der leichtesten Stelle der Westwand, wo sich ein Riss weit hinaufzieht, begann ich. Meter um Meter schob ich mich darin höher. Alle Griffe und Tritte waren dort, wo ich sie zu finden wünschte. Auf einmal stand ich auf einer Felskanzel hoch über dem Tal. Doch wie ich dann auch suchte und probierte, ich kam nicht mehr weiter. So stieg ich zurück und wagte eine Querung nach links. Drei bis vier Meter hatte ich bald hinter mir, dann schien mir ein grosser, warzenartiger Block den Weiterweg zu versperren. Nach ihm sah das Gelände wieder kletterbar aus. Ich fasste den Block mit beiden Händen hinten an, rutschte auf dem Bauch und schwang dann meine langen, dünnen Beine hinüber. Zum Glück war dieses Hindernis rund und abgeschliffen, sonst hätte ich mir dabei arg die Hose zerrissen.

Ängstlich guckte ich von Zeit zu Zeit hinunter auf die Alp, ob ich von jemandem beobachtet werde. Mein Tun so allein war mir doch nicht ganz geheuer. Als ich aber auch auf diesem Gipfel stand, wurde ich von einer so unbändigen Freude gepackt, dass ich in einen überlauten Jauchzer ausbrach. Wanderer und Kletterer gaben mir Antwort. Es war mir, als hätte in jeder ein kleiner Vorwurf mitgeklungen, denn ich habe wohl fürchterlich geplärrt. Vielleicht wollten mir die andern Gebirgler bloss zeigen, wie es tönt, wenn man es wirklich kann.

Das Erreichen dieser beiden Kreuzberggipfel erweckte in mir Kraft, Mut und ein starkes Selbstvertrauen. Der Abstieg verlief ohne Schwierigkeiten. Warzenblock, Riss, Kamin mit Wandstufe und auch das Grätchen hatte ich bald hinter mir; mit eiligen Schritten stürmte ich hier herauf auf den vertrauten Mutschen.

Da sitze ich nun, lasse das Erlebte nochmals an mir vorüberziehen und grüble über meine Zukunft als Bäcker-Patissier.

Faessler, Peter

Auf der Suche nach einer verlorenen Landschaft?

Der Schönheitssinn des Menschen wird bewusst oder unbewusst auch durch die Entdeckung des Naturschönen seiner Heimat herangebildet, zumal wenn sie augenfällig an Werke der Landschaftsmalerei erinnert. Appenzell ist eine solche Landschaft! Denn in den humanen Proportionen des Landes am Alpstein vereinen sich – als schierer erdgeschichtlicher Glücksfall – die Naturgegenstände wie von selbst harmonisch zur Einheit eines wohlgestalten Landschaftsbildes. Und wer sich später besonnen mit Landschaftlichem in Literatur und Malerei auseinandersetzt, wird zu seiner Überraschung immer wieder ein ‹déjà-vu› erleben und so auf die jugendlichen Anfänge seines Sehens zurückverwiesen.

Welche Ansichten der landschaftlichen Natur Appenzells vermöchten nun prägend zu wirken? Eingedenk eigener Parteilichkeit liessen sich doch wohl drei manchem Innerrhoder vertraute Ensembles nennen. Eingangs der entdeckerischen Chronik stehe eine Natur und Menschenwerk verbündende Vedute: die wuchtig gewölbte Steinbrücke über eine sich wild oder geruhsam gebärdende Sitter und daneben der steilragende spätgotische Chor der Pfarrkirche, vor dem früher eine Linde stand; und als südlicher Hintergrund die filigrane Kette aus Kamor, Kasten und Alpsiegel, ein getreuer Spiegel atmosphärischer Nuancen und jahreszeitlicher Stimmungen. Von der Nähe zur Ferne schreitend gäbe es dann das Tal des Fleckens Appenzell einzugrenzen, eine bergende Mulde im kühlgrünen, wasserreichen Lande, dessen sanft gerundete Hügelwelt vom Alpstein gleich einer Felsenwand geschützt wird. Und zu verweilen wäre im Genusse des Fernblicks von den unzähligen Kuppen, Hügeln und Bergen, die Appenzell auch das Panorama der Alpen Österreichs, den Lauf des Rhein und den weiten, lichten Spiegel des Bodensee zugesellen und damit die Heimat gleichsam zu einem Belvedere des südlichen Bodenseeraumes erheben.

Die Ganzheit der so welthaltigen Landschaft, in der das Naturschöne keine politischen Grenzen kennt, liesse sich auf einen Nenner bringen: Landschaft der Idyllik. ‹Idylle› meint hier freilich nicht gemütvolles Genre-Bildchen aus der guten alten Zeit, sondern die von der Natur selbst festgebaute Landschaftsgestalt, die ‹en miniature› an literarische und künstlerische Entwürfe von Ideallandschaften gemahnt. In den letzten Jahren durfte ich in belletristischen Studien, die das zweitausendjährige Schrifttum des Bodenseeraums betreffen, literarische Spuren im Geiste der Idyllen-Dichtung und des Alpenmythos sichern: Es geschah dies auch im Zeichen früher heimatlicher Eindrücke!

Aber gibt es dieses Appenzell noch? Die Gefahren optischen Verriegelns fabulöser Ausblicke von Plätzen und Gassen des Dorfes auf den grünen Hügelring, sich abzeichnende Verhunzung der Harmonie aus Flecken und ihn einbettender Landschaft durch Zersiedlung; Schnittwunden neuer Wege im ganzen Talkessel und mehr touristischer Schnickschnack als förderlich – kurzum: ohne Not zu verderben drohendes Dorf- und Landschaftsbild rufen zur Besinnung auf. Gewiss: der unverwechselbare Kolorit eigener Jugend-Landschaft geht jedem Menschen verloren, begegnet man doch im Leben einer Gegend nie gleich, weil man sich stetig ändert und bliebe man am Orte selbst. Weisser und violetter Flieder sind für immer verblüht, der süsse Duft der Linde am Chor der Pfarrkirche verweht, die Sommermorgenfrühe beim ersten Ferienbeginn mit seiner Aura des Uranfänglichen unwiederholbar … Solches Suchen muss einmünden in die Fernsicht auf die erinnerte Landschaft. Doch zuvörderst gibt es freilich noch die von der Natur selbst verliehene Landschaftsgestalt an sich, die es zu wahren gilt. Die Suche nach ihr darf nicht zu einer Suche nach einer verlorenen Landschaft werden!

Falkner, Gerhard

Heute um 18.34 Uhr

Beitrag von Gerhard Falkner / Werner Meier

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Gerhard Falkner: Alltagsgrau. Mit Illustrationen von Werner Meier. Herisau: Appenzeller Verlag, 2008. Unpag.

Verschreibungen

Wer ich bin. Der unbekannte Absender einer E-Mail hat mich nicht nur erkannt, er hat mich durchschaut. Ich lese mit Erschrecken: Mr. Unknow Falkner. Es gibt einen Menschen auf der Welt, der mich kennt!

Alter oder die Kunst des Relativierens. Gemessen am Umstand, dass ich tot sein könnte, fühle ich mich ausgezeichnet. Gemessen am Umstand, dass es mir ausgezeichnet gehen könnte, fühle ich mich mies.

Die Nacht bringt es an den Tag.

Die Hitze stellte ihn in den Schatten.

Der arme Ball. Warum muss er immer im Netz ‹zappeln›? Kann er denn nie zur Ruhe kommen? (Requiescat in pace!)

«Ich habe nichts gegen Kultur», sagte der Politiker, «aber nach zwei Stunden Kultur brauche ich dringend einen Schnaps.»

Im Tauchbad der Kultur. Auftauchen, wer kein Fisch ist!

Es entspricht einer gewissen Logik, dass, wer zuerst kommt, auch das letzte Wort hat.

Was den Wolken recht ist, ist mir billig: ich verziehe mich.
Was dem Wind recht ist, ist mir billig: ich schlafe ein.
Was der Sonne recht ist, ist mir billig: ich gehe auf.

Der Tag erübrigte sich.

Was ihr nach seinem Tod am meisten fehlte, dass sie niemanden mehr nach der Zeit fragen konnte.

Alter. Er trug seine Vergessenheiten wie eine kostbare Porzellanvase vor sich her, die ihm jederzeit aus den Händen fallen konnte.

Kuhglockengeläute rund ums Haus. Der Tag ist grundiert und bereit für den Farbauftrag.

Der Alltag, unser Produkt. (Der graue Teppich, den wir den Tagen unterlegen, damit wir keine kalten Füsse bekommen. Die Freiheit – das wissen wir – tanzt auf schlüpfrigem Parkett.)

Fastenrath, Rudolf

’s Appezellerlendli

I wääss em liebe Schwizerland
E Lendli, vilne waul bekannt,
Es ischt nüd mechtig, ischt nüd gross,
E herzigs Bröckli Bode bloss –
Du chenntsches, gell?
So säg mer’s schnell,
Säg: Grüetz di Gott, mi Appezell!

Ken Kaiser herrscht i ösrem Land,
Es ischt mit Förschte nüd verwandt,
Was selber öser Volch befelt
Als häligschtes Gesetz ös gelt.
Zo Schotz ond Wehr
Vo Alters her
Lehrt’s so der Appezeller Bär.

Ond Berge hemmer, s ischt e Pracht,
Die het de Herrgott selber gmacht,
So gross ond mechtig sönds wie-n-er,
Drom schickt er sövel Frönti her.
Wenn ’s Glöckli klingt,
De Gäässbueb singt,
Si Lob zom Himmel ufwäts dringt.

Paläscht seb hem mer lötzel gad
Ond Schlösser, es ischt gwöss nüd schad!
Doch lueg no! Hötte nett ond chlii,
Wie gmolt im Regebogeschii,
Het’s omenand
Im ganzne Land
Bis dobe a de Felsewand.

Im ganze Lendli Gross ond Chlii
Ischt loschtig ond het frohe Sii,
Mer fühlid ös as Gotteschend
Ond föndit ’s Zaure för ke Sönd.
Em Hirtechleid
Vor Zank ond Leid
Schötz ös de Herr in Ewigkeit.

Federer, Heinrich

Auf dem Gäbris

Da ging ich nun mühsam, denn fünfzehn Jahre Zugewicht klebten mir an den Schuhen, den steilen Weg von Gais zum Gäbris hinauf. Es war ein Wochentag des Spätherbstes, wo niemand um solche Nachmittagszeit diesen Prügelweg nimmt. Wie gut kannte ich ihn, jede Schleife, jede Unebenheit, besonders im Winter auf dem Schlitten! Unten durch die Wiesen fuhr das Gaiserbähnli gegen Appenzell still und langsam wie der Friede Gottes. Hinten in goldgrauer Farbe starrte der Säntis, aber noch viel hoheitlicher der Altmann ins Oktoberblau empor. Eine Kette hinter der anderen, die hinterste, mit der Roslenfirst wie eine Urweltsmauer, geht gegen das plumpe Ehepaar Hoher Kasten und Kamor und ihre elegante, aber langweilige Kammerfrau Fähnern bis nahe in den südöstlichen Vordergrund. Ah, in diesem Gebirge liegen die unsterblichen Geheimnisse des Seealpsees, des Wildkirchli, des unterirdischen Höhlenganges, der Ebenalp, in die Wirrnis der Felsen gebettet.

Endlich durchmess’ ich das letzte Wäldchen, durch das einst mein Schlitten beim Mondschein auf glashartem Eis in die Tiefe schoss, bald in schwarzen Tannenschatten, bald in einem himmlischen Silberfunken, dem mutigen Kameraden folgend, der mir voraus durch dieses Nachtmärchen schlitterte. Und nun bin ich oben auf dem kleinen Rücken des Bergleins und jubele, weil alles noch ziemlich im Alten blieb, das Gasthäuslein kein Hotel, das Holz kein Granit oder Marmor, und die Wirtsjungfer kein Schwalbenschwanzfrack von einem Oberkellner geworden ist. Und noch stehen da die gleichen derben Tische an den kleinen Fensterreihen und bekomme ich, weiss Gott, die gleiche brave grosse Kaffeekanne und den hablichen Milchkrug, der mir vor einem halben Menschenalter kredenzt worden ist. Die zwei kleinen Stüblein, den grossen Saal, wie gut kenne ich sie noch. Sogar eine gleichfarbige Katze, gewiss eine Enkelin der damaligen, buckelt sich träge hinter dem Ofen hervor. Und noch gibt es scharfe Pantli hier, mit Holztellern und kurzen Messern und jenem schneeweissen Brot, durch das Appenzell und St. Gallen vor aller Schweiz in edelster Unschuld leuchten.

Es sitzt nur noch ein alter Mann mit einer kurzen Tabakpfeife im Stüblein und leert seine Flasche Bier. An Werktagen ist es hier oben einsamschön. Wer dann kommt, der kommt, weil er gern allein ist, weil er über seine Zeit gebietet, weil er Ruhe und Beschaulichkeit liebt und weil ihn die Natur, nur die Natur da hinauflockt. Am Sonntag ist das anders. Da klimmen sie von Trogen, Bühler und Gais auf dreierlei Wegen hinauf, breite Jasser, bequeme Ehepaare, lustige Mädchen und Buben, Sportsleute, Sticker, die verluften, Fabrikanten, die verschnaufen wollen. Da hockt ein Reallehrer neben einem Ferienstudenten, der heimlich Gedichte sündigt. Zur Linken sitzt ein würdiger Magistrat, der nach hinten und vorn oberflächlich mitplaudert, aber in den Tiefen seines nationalrätlichen Herzens viel tiefere, eidgenössische Sorgen erwägt. Wie oft habe ich diese bunten Gruppen studiert, die im dichten Tabakrauch immer undeutlicher verschwammen wie die Alpsteingipfel im Gewölke, bis endlich auch der Reallehrer-Känzeli und der Nationalrat-Säntis völlig untergingen! In keinem Gasthaus der Welt wird noch so schweizerisch gesprochen. Aber wahrlich, diese Appenzeller Charakterköpfe gehören auch zur reellsten Rasse Helvetias. Mag das Ausland uns verwässern und verdünnen soviel es kann, in den Most dieses Völkleins, das einen so feingeschnittenen Mund hat und einen so eigensinnigen Wirbel zeigt, das nicht um einen Zoll grössere Schritte nimmt, wenn man berichten müsste: die Bolschewiki seien in St. Gallen eingezogen, und um keinen Zoll kleinere Schritte, wenn es hiesse: sie müssten sich in Herisau zur Kontrolle vor Trotzki stellen, ich sage, in Most und Blut eines solchen Völkleins wird noch lange kein Fremder, unschweizerischer Tropfen gemischt.

Jetzt lärmt es vor den feuchten Scheiben, und frische, junge Köpfe gucken herein, die Trogener Kantonsschüler.

Sie haben den Nachmittag frei und bevorzugen noch immer wie vor zehn und zwanzig Jahren den Gäbris für ihre Ausflüge. Das ist nun schon ein vornehmeres Wesen. Viele Herrensöhne der Schweiz, mancher Ausländer mit merkwürdigem Akzent ist dabei. Trotzdem, so fremd ihr Teint, so erlesen ihr Kleid, so seltsam der Schnitt und die Schwärze ihrer Augen ist, sie haben sich ihren appenzellischen Mitschülern merkwürdig angepasst, versuchen ihren Dialekt, essen ohne Gruseln den schärfsten Appenzeller Käse und können sogar unterwegs richtige Trogener Geissen melken.

Ich sehe diese Jugend gerne hier oben. Es haftet ihnen etwas griechische und römische Kultur an, es keimt aus ihnen schon etwas zukünftig Bedeutendes; sie reden von Hannibal, von Logarithmen, von Bast und Kambium, von diophantischen Gleichungen und Barockstil. Und daneben trinken sie Milch wie ein Bauernjunge und säbeln am Landjäger wie ein Stickerknechtlein und deuten auf die Rote Wand und die Zimbalspitze im Österreichischen wie ein Schweizer Alpenklübler. Es sind einfach Prachtsburschen. Sie kennen bereits Hebbel und Grillparzer und haben in St. Gallen Moissi als Hamlet gesehen. Es ist entzückend, mit ihnen zu plaudern, auf deren weichen Gesichtern noch so viele Hoffnungen als Flaumhärchen sprossen. Lasset einen tapferen Schnurrbart, aber auch eine tapfere Lebenshoffnung auswachsen, ihr Menschen der Zukunft! Dann hat es keine Not ums neue Jahrhundert.

Jetzt dunkelt es, und in den wunderbarsten Übergängen von Rot in Purpur und Violett und Samtbraun wird der Tag zur Nacht. Wir treten hinaus. Im Süden und Osten verdämmern die Gebirge, ein weisslicher Nebel steigt aus dem Rheintal, zwischen den Hügeln im Westen und Norden glitzern aus abenddunklen Dörfern die ersten Lichter auf. Grau und weit dehnt sich dahinter die Hochebene gegen Zürich und Schaffhausen. Nur der Bodensee leuchtet noch in einem sonderbaren Himmelsglanz auf. Über ihm geht es in die fernen deutschen Gebiete hinaus. Eine ungeheure Welt und doch noch viel ungeheurer der Himmel darüber. Gelbe Sterne schwimmen auf. Die Erde wird beinahe schwarz und, über den Hag gen Norden gelehnt, sagt der alte Tubäkler zu mir, es ist das erste Wort, das er spricht: «Dünkt euch nicht auch, wir stehen auf dem Giebel der Welt, zu alleroberst? Und alles ist unter uns, schier wie unter Herrgotts Sohlen? Und sollt man nicht glauben, dass schon die ganze Welt zu Bett gegangen sei und schlafe, so still ist’s?»

Mit klugen, sinnenden Philosophenäuglein, wie man sie öfter an alten Bauern wahrnimmt, funkelte das dürre, aber behende Männlein nach allen Seiten.

Ja, wahrhaft, eine Stille schwebte aus allen Tiefen herauf, jetzt, abends um acht Uhr, als schlummerte die Menschheit schon. Es flüsterte nur etwas Leises von ferne her. Waren es die heimspringenden Studentlein, war es der Wind oder war es wirklich wie aus einem unendlichen Schlafsaal das friedliche Atmen der Völker, der Völker, die nur gescheit und gut und selig heutzutage sind, wenn sie schlafen?

Fisch, Chrigel

Flieg doch mit den Nazis!

Heutzutage, und schon gar nicht in der Nacht, kann man sich auf nichts mehr verlassen. Und nichts, was gerade noch wichtig in der Küchenschrankvitrine protzte, wird ewig so edel bleiben. Sobald der Wecker rhabarbert, kann schon alles anders sein, ganz anders, überanderstens. Zum Beispiel die Börsenkurse. Die Zugsabfahrtszeiten. Die Anzahl Blätter meiner Topfpflanze. Atomkriege über Nacht? Kein Problem. Afrikanische Stammesgenozide vorm Vier-Uhr-Tee? Durchaus. Saure Milch im Morgenkaffee? Passiertpassiert. Ich kenne sogar jemanden, den hat die Steuerverwaltung schlicht und mehrfach vergessen. Der hat nie dicke Formulare gekriegt zum Ausfüllen, der hat nie was bezahlt. Doch er lebt, fröhlich unfreiwillig steuerbefreit. Manchmal frage ich mich, ob er wirklich lebt. Oder ob ich ihn steueramthassend taggeträumt habe. Oder ob er einem meiner geographisch-reisekulturell-währungsspezifischen Nachtträume entsprungen ist.

Ich lüge nicht. Ich träume i m m e r von Reisen, Währungen und Fluggesellschaften. Manchmal von der Arbeit. Ich könnte nun diese Träume aufschreiben, einem Psychotherapeuten damit günstige Lektüre verschaffen und ihm erst noch krankenkassentechnisch seine Andreas Vollenweider- und Dodo Hug-CD finanzieren. Mag ich aber nicht, nichts da, schnackelfackel. Am Morgen wird zuerst laut gefurzt.

Kürzlich hatte ich einen Traum – und ich schwöre, dass ich weder allzu schlafbetrunken noch traumbesoffen war –, da musste ich von Amerika zurück nach Europa fliegen, was auch gut geklappt hat. Mindestens bis Bayern, das allerdings nördlich von Frankreich lag. Die Flughafenkerle wollten dichtmachen, nur ich allein stand blöd beim Aschenbecher rum und fragte jemanden nach einer Verbindung nach Basel. Der sagte, lässig aus der Zigaretten-ansteck-Feuerzeug-in-Hosensack-zurück-Drehung heraus: «Flieg doch mit den Nazis! Die haben immer Materialtransport um diese Zeit.»

Mit den Nazis also. Tatsächlich duckte sich auf der Piste ein dunkelbrauner, wulstiger, gedrungener Riesenbomber, wie man sie aus verwackelten sowjetischen Afghanistan-Reportagen kennt. Ich dachte mir: «Na denn, politisch korrekt ist das ja nicht, aber wenn ich so heimkomm…». Da rhabarberte der Wecker und die Nazis flogen ohne mich nach Basel. Als ich so niedergereist auf der geliebten Matratze lag und Nationaltrainer Regen ans Scheibchen trommelte, wollte ich nicht recht in die kaffeeduftlose Realität zurückkehren. Ich dachte eine Weile träumend an den Traum zurück – einmal mit den Nazis fliegen, und das 1997! –, schüttelte dann eine Socke vom Lager und kam zu folgender, schiessschartenscharfer Erkenntnis: Raubgold, Judengold, Nazigold, das sind gar unkorrekte Bezeichnungen!

Tatsächlich haben die Nazis den Juden das Judengold geraubt, also ginge Raubgold oder Nazigold locker durch die Zeitungssuppe. Aber, da furglert der frühmorgendliche Besserwisserkurt, wenn das Gold dann in der Schweiz landete – als Sicherheit für Waffenlieferungen an die Nazis –, warum heisst das Gold nicht Ostfrontpanzerhaubitzengold oder Russlandfeldzugpatronenbeschaffungsgold oder gar …, na. Niemand ist bisher auf die Idee gekommen, das Raub-,  Juden- und Nazigold ganz schlicht ‹Schweizergold› zu nennen. Und wer noch einen Mikrobenarschbackenspalt klüger ist, wird sich fragen, woher die Juden denn das Gold hatten. Na? Von den Sibiriern, von den Südafrikanern, von den Mayas gar? Wo, bei Rommels Trommel, kommt das Judennaziraubschweizergold eigentlich her? Und wohin ging es, wenn nicht in die Zahnfüllungen zentralafrikanischer Dik­tatorensöhne, wenn nicht in die Schuhbändelösen philippinischer Diktatoren­gattinnen? Wohin, woher, die alten Fragen. Doch wem kann man schon vertrauen. Mir auf jeden Fall nicht. Ich glaube nicht an die Menschheit, warum sollte ich also an die Müllabfuhr, an Zahnärzte, die Nationalbank oder an bewaffnete, israelische Siedler glauben, die ihre Hardcore-Auslegung religiöser Geographiekunde dazu benutzten, armes goldloses palästinensisches Gesindel samt staubiger ­Wackelbaracken in die Wüste zu pimpern?

Ja, die Vergangenheit, sie hat sich freigebuddelt und ihren Weg durch die Kanalisationsrohre der helvetischen Geschichtstoilettendeckelzuhalter gefunden. […]

Kürzlich war ich traumhalber in Albanien. Zum zweiten Mal übrigens. Beim ersten Mal jedoch waren noch die Kommunisten am rumtiranen und alles war gar kärglich rostend eingerichtet. Sturzdeprimierend. Kürzlich aber, eben im Traum, hatten die Albaner recht schön aufgeräumt im Land. Meine Aufgabe war es, eine Schweinehälfte die unfair steile und lange Leiter des Hafenquais hinaufzubuckeln. Meinen primitiven albanischen Freunden konnte ich natürlich schlecht von meinem Rückenschaden erzählen, denn diese industrienationenbürospezifische Krankheit interessiert diese plumpen Affen nicht. Ihre braungebrannten Oberkörper bedeuteten mir familienehrenhalber verdammtnochmal die Schweinehälfte hinaufzutragen. Nun, wie Träume so sind, sie bringen nach Jahren der Abwesenheit in einem geträumten Land doch immer wieder die gleichen Figuren ins Spiel zurück. Bei mir war es ein irrer junger Mann, der im kommunistischen Albanientraum noch ein Junge war. Er wartete am Ende der Quaimauerleiter und fuchtelte mit einem Messer rum. Ich dachte mir, mühsam das Gleichgewicht auf der steilen Leiter haltend: «Bitte nein, nicht d e r schon wieder!» Denn im kommunistischen Traum hatte er mich aufschreddern wollen, und nur seine pädagogisch geschulten Eltern hielten ihn davon ab. Aber, die Geschichte arbeitet und aus jugendlichen Irren werden erwachsene Irre. Er hatte begriffen, dass er keine schweinehälftenschleppenden Traumtouristen aufschreddern darf. Also fuchtelte er nur blöd rum, so in der Art «also wenn ich schon wieder mal in deinem Traum auftauche, kann ich ja nicht so tun, als wäre in Albanien nun a l l e s gesund und vernünftig, oder?». Recht hat er. Ich brachte meine Schweinehälfte auf den wohlbestückten, florierenden Markt (tatsächlich waren exotische Blumen der Renner) und meine albanischen Freunde reichten mir ein Bier. Es schmeckte ganz unalbanisch gut.

Natürlich war ich noch nie in Albanien und ein Rassist bin ich keiner. Doch wem kann man schon vertrauen. Der PTT allerdings mehrheitlich schon. Wenn jemand blöd im Beobachter rummeckert, dass sein A-Brief von S-chanf/GR nach Chancy voir Genève/GE schon wieder zwei Tage gebraucht habe, dann soll er mal die Juden fragen, wie lange sie schon auf die beschlagnahmten Zahngoldfüllungen warten. Eben. Darum gibt’s ja die Geschichte. Damit sich alle schön lang und blöd beschwerend darüber aufregen können, dass es anders gekommen ist, als sie es sich sowieso nie überlegt haben.

Allen anderen geschichtsneurotischen Unschuldshornochsen und -kühen empfehle ich die Beobachtung momentaner Greueltaten, Ungerechtigkeiten, Horrorbilder und was der steinzeitliche Herrgott sonst noch auf dem Planeten installiert hat. Wenn denn die Gottesfürchtigen auch ihre Institution mal genauer durchleuchtet haben werden, wird es vielleicht einen ‹Ombudsmann für Gott› geben, der schön gerecht die Aktenhefter füllt. Bis dahin schlage ich vor, kollektiv endlich die Schnauze zu halten. Sonst könnte es passieren, dass die Nation vor lauter «Unschuldig! Unschuldig!»-Geschrei über dem Bratwurstgrill tot zusammenbricht und sich die Flügel für’n Himmelsflug irreparabel zerzäuselt.

Also, «Geschichte der Erde, Kapitel Menschheit, Teil 101, Unschuldsszene Schweiz, Klappe die zweitausendeinhundertvierte: Ruhe!» Und fünfzig Jahre Pause.

Fischli, Alfred

Anna Koch

Zwischenspiel vor dem VI. Akt
(Vorhang schwarz. Auf der Vorderbühne eine Bank und dahinter ein Bildstöcklein. Anna kommt wie ein gehetztes Wild mit einem kleinen Bündel und mit aufgelösten Haaren. Man hört in der Ferne friedlich Aveläuten, zwischenhinein ganz leise die Melodie des Anna Koch-Jodels.)

Nann: (am Ende ihrer Kraft) Jo, jo lüütid no, ehr Glöggli. – Ii khör eu nomme lang. – Wie han i mer die Flucht anderscht vorgstöllt. – I ha em Sinn kha, em Vorarlberg ene möglichscht sang- ond klanglos z veschwinde. Ond etz bin i wider of ägnem Bode. – Ond e ke Freud weer i je wider erlebe! Vefeemt bin i, en Usgstoossni. Es schücht me vor me sölber. – Ond denn de Zuesproch, wo meer de Geischtlich z Rankwil ene ggee het. Er chönn mi nüd loosspreche, het er gsäät. Zescht mös i mi sölber go aazääge. (Lacht wie irr) Ha, ha, ha, ha! De het ring säge. Er moss de Chopf nüd anehäbe. – Ond gliich; denn wär alls emol döre. Lang chas dereweg nomme goh. I bi etz denn fetig ond mi Chraft lot noe. (Verzweifelnd) Wär i gad i seb Bronnebett ini – oder in Rhii ini gsprunge. – Aber de Bisch, min Bisch! Wie gsieht de efangs uus. I cha em nomme i d Auge luege. Ond wenn er mii aalueget, as wie e aagschosses Reh, denn meen i, i möss i di gaaz Wölt usi rüefe: Ii bis gsee, lönd ehn hee, er ischt ooscholdig. – (Erschauernd) Los, wies lofted. – Ischt daas ooheemelig. Mer fangts a föche. Abe wohee söll i? Wo gets för mi en Uusweg? – Jesses, was wingget (1) ase? (Schluchzend) Herrgott, so hölf mer doch, sös bin i gaaz velore. Aber er het för mi ke Ziit meh, i ha jo för ehn au nie gkha. (Bestimmt) Etz gets för mi gad no ees: Mi go aazääge. Denn ischt de Bisch wider frei. Was s denn mit meer machid, seb wäss i scho. Steebe! Steebe! Eso jung – vo Henkershand – die Schand! (Der Wind wird zusehends stärker. Es dunkelt immer mehr.)

(1) wingge nicht festsitzen, hier schwanken. (Red.)

Forster, Carol

Verschluckte Leute

Immer wieder hat es mich in den Alpstein gezogen diesen Sommer. Kleine, feine Wanderungen, längere Märsche und auch ein paar Mordstouren mit Mordsmuskelkater danach. Gerade jetzt, Anfang Herbst, ist das Licht unvergleichlich. Das Grün ist so satt und hebt sich deutlich, aber sanft vom Grau und Braun der Berge ab. Die Luft ist klar, und wenn der Himmel auch noch blau ist, dann ist es da oben wirklich zum Jauchzen. Ich habe nur ein einziges Problem in den Bergen. Ich bin nicht schwindelfrei. In höheren Gefilden sind dann immer diese Stahlseile gespannt, an denen man sich festhalten kann. Ohne diese Hilfen wäre ich verloren. […] Als Kind musste ich jedes Wochenende in den Alpstein und bin damals, ohne mit der Wimper zu zucken, über den Lisengrat spaziert. Das muss das Alter sein, dass es mich so runterzieht jetzt – und ich an gewissen Stellen ziemlich verkrampft den Wänden entlang schleiche.

Der Alpstein ist bekanntlich nicht zu unterschätzen. Mehrere Personen, die irgendwann nicht von ihren Wanderungen zurückkehrten, werden noch immer vermisst. Als ich letztes Mal über den Chreialpfirst Richtung Zwinglipass unterwegs war, hätte der Berg auch mich beinahe verschluckt. Glücklicherweise war ich schon fast vorbei, als ich es wahrnahm: ein Loch! Wiese, Steine, Schrattenkalk überall, und direkt neben mir, mitten in der Wiese, ein Karstloch von fast zwei Metern Durchmesser. Vereinfacht gesagt sind diese Löcher Entwässerungskanäle, die das Wasser der Karstoberfläche durch das Innere des Gebirges zur Quelle führen. Mir wurde dann gesagt, dass es hier viele solche Löcher gebe und dass die Wegmacher in jedes Loch runterschauen, ob da nicht irgendwo verschluckte Leute hockten. Richtig mulmig und unheimlich fand ich das. Aber ich konnte es dann doch nicht lassen, einen Blick in den Berg zu riskieren, runterzuschauen. Es ging einfach nur runter, immer weiter und dunkler, unergründlich. Mit Herzklopfen wanderte ich weiter.

Ich musste die ganze Zeit an diese Löcher denken, bis ich im Tal unten war. Dass es den Bergen vielleicht manchmal einfach zu viel ist, wenn diese Horden von Wanderern auf ihnen herumtrampeln und die Spitzen ihrer Wanderstöcke in die Erde bohren und in den Fels hacken, dass es vielleicht sogar wehtut und dass sich dann diese Löcher auftun, um hin und wieder einen solch unbequemen Wandergesellen zu fressen. Und plötzlich war mir sonnenklar, weshalb wir früher immer die roten Socken zu den Knickerbockern tragen mussten.

Frei, Bozena

Gedichte

hier

der siebenkirchenplatz
lässt sich durch sieben teilen
lässt sich zusammenrollen
schicken per post
hat ein fast unlesbares gesicht
zertretene falten
und seine erkenntnis
HIER sind den sehnsüchtigen entflogen
ihre zarten schmetterlinge
manche männer erbauten hernach
zitadellen
warfen hart um sich
mit stein
dann beruhigten sie sich wieder
um den platz zu bepflastern
mit fäusten und geballten seelen
HIER flatterten umher
mit flacher herzlichkeit
die ledernen siedler
knieten müde, starben
heut ist so leicht begehbar
der platz
kreuz und quer
pflanzer und säer
Iiessen sich ausjäten
HIER steigen alle aus
an der endhaltesteile

 

grenzfluss

bleibt in mir sein kaltes ufer
das schauen hinüber
halsschmale sehnsucht fliesst in mir
leise
stromauf

finger schneiden wasserbrote
in bunte scheiben
trauer kannte ich früher nicht
doch ich trug sie bereits als kind
in der feuchten tasche

täglich geschehen in mir
fischaufgänge
täglich scheinen
glitschige sonnen
silbrig
und reissend

 

allgemeine frauen

reinigen mit vorsatz
erde auch
das allgemeine
wischen ab
gloria und gott
zugleich stricken fleissig ihre himmelsrichtungen
endlos schutzhelme, kolonnen
bis fäden reissen
bis ein könig kommt
bis die krone glänzt, der mantel gehäkelt
streicheln männer sanft und haare
niemals satt
sich hinneigen täglich anders
lieben wollen nachts bleiben
allseitig allgemein dick wie der winterpullover
zart wie strumpfhose
mit maschen
für den grossfang
oder kleindefinitionen

Frei, Coralie

Die Unbekannte im Ozean

Sie ist wirklich unbekannt. Auf fast allen Weltkarten, grossen oder weniger wichtigen, sucht man sie vergebens.

Die Unbekannte im Ozean, das ist die Insel Anjouan. Ein Tourist mit der Seele eines Poeten nannte sie zärtlich die ‹Perle der Komoren›; seine wahren Beweggründe kenne ich aber nicht. Sie gehört zum Archipel der Komoren. Vier Inseln, früheres französisches Übersee-Territorium, drei davon sind heute unabhängig:

Grande Comore hat die Ehre, auf allen geografischen Karten aufgeführt zu werden. Sie erfreut sich einer florierenden Wirtschaft, und durch den Tourismus ist sie weltweit populär geworden. Die Hauptstadt Maroni ist zugleich auch jene des neuen Staates: R.F.I.C. (Föderale Islamische Republik der Komoren).

Mohéli, ‹die Kartoffel› (so benannt nach ihrer geografischen Form), erleidet ein ähnliches Schicksal wie Anjouan … (davon später). Es ist die kleinste der drei. Bescheiden, weniger gebildet und ruhiger.

Mayotte dagegen, der ich den Übernamen ‹die Vorsichtige› gegeben habe, ist sicher die Einzige, die weiss, wohin sie geht. Nach einer Volksabstimmung während der Unabhängigkeitserklärung der Komoren 1975 hat diese bisher diskrete Insel sich für die Zugehörigkeit zum französischen Territorium entschieden. Seither hat sie nicht aufgehört, lauthals den Status eines französischen Departments zu erreichen – im gleichen Stil wie andere französische Inseln: Antillen, Saint-Pierre-et-Miquelon, La Réunion … aber das ist eine andere Geschichte, auf die ich hier nicht näher eingehen will.

Die Unbekannte im Ozean, das bist auch du, hübsche kleine Fatima. Gerade mal zwanzig Frühlinge jung mit einem engelhaften Lächeln und mit deinen sechs Kindern, die du allein aufziehst. Dein eifriger Mann, Berufsoldat der französischen Armee, ist immerzu auf Reisen auf der ganzen Welt …

Auch du, meine liebe Nichte Roukia, die du sozusagen vergewaltigt wurdest am Abend deiner Hochzeit, von deinem Ehemann, der vierzig Jahre älter war als du. Mit dem Einverständnis deiner Mutter und ihrer Artgenossinnen, die sich glücklich schätzten, dasselbe Schicksal erlitten zu haben. Dein grosszügiger Gatte belohnte deine Schreie, deinen Schmerz, dein Leiden und deine Kapitulation reichlich; die vielen Pfunde geschenkten Goldes öffneten dir den Zugang in die Schwesternschaft der stolzen Anjouanesinnen, den weiblichen Bewohnern von Anjouan, deiner Insel.

Auch ihr seid es: Karim, Mahmud, Salim, Männer Anjouans, die ihr die Traditionen erduldet wie ein Verhängnis …

Und ich bin es, Marie Coralie, Tochter des Badjini, Moina Djini (kleine Djini.) Anjouan ist meine Insel. Sie sah mich zur Welt kommen, sah mich gross werden, hat mich belehrt.

Anjouan, das bin ich.

Ich bin die Unbekannte im Ozean.

Eines Tages habe ich sie verlassen. Ich wollte die Nabelschnur durchtrennen, wollte sie vergessen. Ich wollte, dass man mich vergisst, ich wollte mich vergessen …

Darum bin ich unbekannt geworden, und unbekannt werde ich bleiben. Immer. Für alle. Solange ich beharrlich vor meiner Insel fliehe, vor mir selber fliehe …

Fricker, H.R.

Nothing to declare

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Topographie–Fotographie

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Zur Landsgemeinde

Mein Mann bestreikte am 26.4.81 zum ersten Mal die Landsgemeinde, um damit seine Solidarität mit den «ausgeschlossenen» appenzellischen Frauen zu zeigen. Er wird diesen Streik aufgeben, sobald Frauen und Männer gemeinsam an der Landsgemeinde das Stimm- und Wahlrecht ausüben dürfen. Danke!

Ida S.


Appenzeller Zeitung 1981, 100 (1. Mai). S. 9.

 

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Froehling, Simon

Lange Nächte Tag

Ich war aufgestanden in der Spiegelnacht. War aufgestanden, weil ich mich nicht verbrennen wollte, wie mir das schon oft passiert war, nachdem ich bereits während der ersten Begegnung alle meine Wünsche und Sehnsüchte über eine neue Bekanntschaft gestülpt hatte, so dass diese nicht anders konnte, als mich nur Tage später zu enttäuschen.
Wenn ich nicht aufgestanden wäre –
Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, poltert Vater durch meinen Kindskopf.
Aber ich war.
Und Jirka hatte.
Jirka hatte Sex gehabt.
Es sagt sich so leicht.
Jirka hatte, und ich habe es mir immer und immer wieder ausgemalt in den wenigen Minuten, seit ich Bescheid weiss, und bis jedes vorgestellte, möglichst grell kolorierte Detail sich eingebrannt hat in mein Hirn, bis meine Phantasie so fix war und absolut in ihrer Ausformung, dass ich einen Schritt zurückmachen und das Tableau hätte anschauen können, wie man ein gerahmtes Bild anschaut in einer Galerie, von dem man nicht sicher ist, ob seine Anziehungskraft gerade in der Verstörung liegt.

Der Computer schaltet auf Schlaf.
Ich muss aufs Klo, sagst du.
Ich fasse dich am Arm, halte dich zurück.
Der Bildschirm wird schwarz.
Warum hast du –
Ich weiss nicht, was sagen, und rede deshalb drauflos:
Wie konntest du mich nicht anrufen? Hast du wenigstens geheult, hast du dich bitte mehrmals im Klo eingesperrt bei der Arbeit, um zu heulen und dir zu überlegen, wie du es mir schonend beibringen kannst?
Es hat einen Namen, sagst du und bringst ihn doch nicht über die Lippen.

Weshalb erst jetzt?
Du weichst mir aus, sagst lediglich, ich müsse mitkommen zum Arzt.
Wir haben einen Termin. Morgen um acht.
Ich beisse auf die Zähne, um dich nicht anzuschreien. Nur langsam entspannt sich mein Kiefer wieder.
Du hast es mir eine Woche lang verschwiegen, obwohl ich es höchstwahrscheinlich auch –
obwohl wir die ganze Zeit –
Es hat einen Namen!

Die drei Buchstaben stehen zwischen uns, gross und zu sperrig, um sie alle auf einmal in den Mund zu nehmen. Wir müssen sie einzeln rund lutschen und einbetten in andere Worte, damit die spitzen Enden und Winkel der zwei Konsonanten und des überhaupt nicht weichen Vokals uns nicht den Gaumen zerfleischen. Wir hangeln uns das Alphabet entlang, am H vorbei und auch am I. Unter P finden wir das erste Wort, das wir aussprechen können: positiv.
Wir wühlen weiter, Q, R, S, T, U – V wie Virus.
Erschrocken blättern wir zurück. Unter P finden wir ein weiteres Wort: Plage.
Wir müssen nicht lachen, aber plötzlich fällt die Spannung zwischen uns ab.
Ich kann nicht wütend sein auf dich, obwohl ich wütend sein müsste, weiss ich – auf dich und was du dir und mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auch mir angetan hast. Was passiert war, wie du sagst, als hätte es wenig mit dir zu tun, ja, als seist du ferngesteuert gewesen in jener teuflischen Nacht.

Doktor Feller hat dir, zusammen mit dem Rezept für die Medikamente, vorläufig nur für einen Monat ausgestellt, man müsse die Nebenwirkungen genau beobachten und möglicherweise die Kombination ändern, einen Brief mitgegeben, worin alles steht, was du zu beachten hast.
Ich will den Brief nicht sehen.
Für einen Monat Medikamente werden deiner Krankenkasse über zweitausend Franken in Rechnung gestellt. Abzüglich Selbstbehalt. Du wagst es nicht, die Kosten auf ein durchschnittliches Restleben hochzurechnen, obwohl du von Doktor Feller weisst, dass eine normale Lebenserwartung durchaus realistisch ist mit den Medikamenten – ausser, du entwickelst Resistenzen. Die Plage ist zur chronischen Krankheit mutiert. Handhabbar, war das Wort, das der Arzt gebraucht hatte.
Handhabbar der Nachtschweiss und der Durchfall, handhabbar das entzündete Zahnfleisch und die kleine Warze, die an deiner Unterlippe gesprossen ist, genau auf der Naht, wo die Lippe in Haut übergeht.
Doktor Feller, bei dessen Name mir immer der Sensenmann in den Sinn kommt, wird sie dir nächste Woche wegätzen.

Ich muss wirklich dringend aufs Klo, sagst du und nimmst meine Hand von deinem Arm.
Ich schaue dir nach.

Fröhlich, Kurt

Die Galeere am Säntis

Die Galeere glitt. Langsam, aber sie glitt. Gezogen, geschoben, gezerrt. Die Ochsen blieben dampfend stehen, mussten ausgewechselt werden. Seile mussten geflickt, da eine Lärche gefällt, dort ein Stein weggehebelt werden. Wer wollte all die Mühen beschreiben, die es kostete, sie Stück um Stück, den Hang hinauf, vorwärtszubringen, in Richtung des Passes. Verschiedene Techniken wurden entwickelt, um den massigen Schiffskörper zu ziehen, zu wenden und auszubalancieren.

Elf Tage dauerte der Aufstieg zum Pass. An dem Mittag, als sie ihn erreichten, brach die Sonne durch das Gewölk. Es schien, als sei das Schiff die goldene Mitte in einem weiten Kranz eisiger und verschneiter Gipfel. Stolz schauten die Menschen zurück und mit leuchtenden Augen in das glitzernde, sanft abfallende Tal, welches vor ihnen lag.

Am nächsten Morgen wurden unter zuversichtlichen Rufen die Keile gelöst. Mit Bremsen und Ziehen gelangte die Galeere nach gut zwei Wochen in ein breites, sonniges Tal. Hübsche Dörfer lagen auf Sonnenterrassen. Von überall her kamen die Menschen, um das Wunder zu bestaunen, um mitzuhelfen: Da wurden für eine kleine Strecke zwei frische Pferde gebracht, dort kam eine Schar Jugendlicher mit einem Strick, bereit, zuzupacken. Die Kunde vom Erscheinen des goldenen Schiffes breitete sich wie ein Lauffeuer aus. […]

Den ganzen März verbrachten sie damit, die Galeere durch das breite Tal flussabwärts zu ziehen. Wenn diesem Wasser auch bestimmt war, einmal noch weit grössere Schiffe dem Meere zuzutragen, so hätte man auf dem Rinnsal im Oberlauf kaum einen einzelnen Baumstamm flössen können. Anfang April hatte der Zug Chur, eine grössere Stadt am Rheinknie, passiert.

Ausschnaufen konnte der Tross aber noch nicht. Die untere Hälfte des Tales nämlich, der direkte Weg zum See, war zurzeit unpassierbar. Die weiten Sümpfe verunmöglichten ein Vorankommen abseits von Wasser und Strasse. Diese jedoch beherrschten räuberische Ritter aus dem Montafon. Die einzige Möglichkeit sie zu umgehen, war der Weg über eine Bergkette. Und so zogen die tüchtigen Männer und Frauen die Galeere die Schutthänge am Bergfuss hoch, welche glücklicherweise noch immer verschneit waren. Vor ihnen ragten die steilen Felsen der Gebirgsflanke in den Himmel. Jeder hätte angesichts dieser Hindernisse aufgegeben. Nicht so diese von ihrem Glauben getriebenen, endzeitorientierten Menschen. Mit Zuversicht kämpften sie gegen den Unglauben, der sie beschleichen wollte: Unmöglich! Die Hänge waren kein Problem. Sie kannten die Kniffe. Diese Felsen indessen ragten beinahe senkrecht in den wolkenverhangenen Himmel.

Hatte dieser Himmel Erbarmen mit diesen Menschen? Sie gelangten in ein am Felsfuss gelegenes Dorf. Alles lag verlassen, still, dem Verfall übergeben da. Kein Mensch hatte die letzte Pestwelle überlebt. In der Abendsonne zeigte sich die Schönheit dieses Dorfes. Die zwei Dutzend Häuser und Ställe waren aus Rundhölzern gefügt, alt und vom Wetter gezeichnet, aber fest und solid. Ein kleines Kirchhaus war an einen steinernen Burgfried angebaut, der ihm als Kirchturm diente. Mehrere eisüberwölbte Brunnen spendeten Wasser. Bald würde der Schnee weggeschmolzen sein und rund ums Dorf von der Bise geschützte Wiesen freigeben. Man war sich rasch einig. Hier wollten die Flüchtlinge bleiben. (1) Frauen, Kinder, alte und kranke Leute sollten die Häuser beziehen. Die andern würden helfen, die Galeere über den Bergkamm zu bringen.

Man feierte, dass man eine neue Heimat gefunden hatte. Das Kirchlein wurde gereinigt und – da man nicht wusste, wie sein Schutzpatron hiess – der heiligen Veronika geweiht. Filippo entschied, dass in einem sehr feierlichen Akt das Schweisstuch aus dem Schrein hervorgeholt und in einer Prozession um und in die Kirche getragen wurde. Dort schnitt Filippo, der Laienbruder, ohne Zögern und Zittern eine Ecke ab und übergab sie der kleinen Gemeinde. Diesen einfachen Leuten, die vor dem Tod geflohen waren, mit Glaubenskraft eine goldene Galeere über die Alpen geschoben hatten, erschien dieses Geschenk wie ein Stück des erlösenden Himmels, der sich zu ihnen hernieder gesenkt hatte.

In der Nacht nach dem Fest kam mit raschem Schritt ein riesenhafter Mann vom Berg her ins wieder belebte Dorf. Sein imposanter Körper war mit einem Kleid aus Pelzen, Stechpalmenzweigen und bunten Flickentüchern eingehüllt. Eine schwarze schreckliche Holzmaske mit einem Ochsenhorn hatte er über die Stirn hochgeschoben. Seine Haut war nur um weniges heller als die Maske. Beim Gehen stützte er sich auf einen armdicken Wanderstab, wohl der Spitz einer jungen Tanne. Die Leute im Dorf begrüssten ihn ehrerbietig und luden ihn zum Essen und Übernachten ein, was er gerne annahm. Er setzte sich aber weder auf den ihm angebotenen Stuhl, noch legte er sich nachts auf den für ihn bereitgelegten Strohsack. Er sei unterwegs ins Rheintal hinunter, wo in wenigen Tagen der Brauch des Eierlesens (2) abgehalten werde. Da brauche es jeweils solche wie ihn, meinte er unter dröhnendem Lachen. Freundlich erkundigte er sich nach dem Woher der Leute, die sich im verlassenen Dorf niederzulassen gedachten. Als er das letzte Mal hier vorbeigekommen sei, seien die Bewohner gerade weggezogen.

Das Schiff beachtete der Riese nur am Rande, fragte auch nicht weiter danach, ganz so, als sei er sich solche Dinge gewohnt. Er erzählte, dass er eben von Konstanz her komme: «Es ist unglaublich, was sich gegenwärtig in der Christenheit zuträgt. Das Konzil tagt noch immer in Konstanz. Nun haben sie aber nicht mehr zwei Päpste, sondern drei. Und einen der wenigen Aufrechten, Jan Hus, wollen sie einladen, damit er seine Thesen vertrete. Der Kaiser hat ihm freies Geleit zugesichert, aber ich traue ihnen nicht. Ich würde mich nicht wundern, wenn nach seinen Büchern auch er selbst auf dem Scheiterhaufen landet.» Das Gespräch dauerte die halbe Nacht.

Am Morgen erklärte der riesenhafte Fremde, er wolle helfen, das Schiff über den Bergkamm zu bringen, denn er glaube nicht, dass sie das mit ihren bisherigen Mitteln schafften.

Man brach gemeinsam auf und nahm die unglaublich steile Wegstrecke in Angriff. Es schien wie ein Wunder: Die Galeere hatte kaum Gewicht! Es war nicht viel anders, als würde man ein paar Säcke Mehl über die Felswege hinaufbewegen. Man war bald oben. Die Saxerlücke, die zu erreichen unmöglich geschienen hatte, war erstiegen.
Wie eine Schaukel kippte der steil zum Himmel zeigende Bug über den schmalen Kamm, bis der Bugspriet zum tief unten liegenden, schmalen See zeigte. Auch das Hinunterziehen des Schiffes ging glatt vonstatten. Nachdem sie einen eher bequemen Hang überwunden hatten, kehrte der Riese zur Saxerlücke (3) zurück, um seinen eigenen Weg dort fortzusetzen. Filippo konnte dem rasch Davoneilenden nur noch ein herzliches Dankeschön nachrufen.

«Wer war das?» Alle standen sie beieinander und wunderten sich. Hatte der Riese solche Kräfte besessen? Man rätselte über die Natur des Helfers. «Das muss Arlecchino, der Wilde Mann, selber gewesen sein», meinte einer der Umstehenden. «Oder Odin», sagte ein zweiter. «Es soll hier herum Menschen geben, die einst weit aus dem Osten gekommen sind und die so gross werden», erklärte ein anderer. Wieder einer vermutete: «Vielleicht war das der Ewige Jude, der soll sich auch nie hinsetzen». «Vielleicht war es das Tuch, das dieses neue Wunder vollbracht hatte, und gar nicht er?» In diesem Augenblick verschwand die grosse Gestalt hinter dem Grat.

In Konstanz tagte die 112. Sitzung des Konzils. Während die Debatte andauerte, wünschte ein Kardinal, die drei amtierenden Päpste (4) kurz im Münster zu sprechen, er hätte eine wichtige, geheime Meldung zu erstatten, die es notwendig mache, dass die drei mächtigen Gegner, die noch nie alleine zusammengetroffen waren, das Protokoll verlassen und seiner Bitte Folge leisten würden.

Mit einer kleinen Sicherheitsgarde trafen die drei Päpste am angegebenen Ort ein. Der Kardinal war in Begleitung eines Offiziers der römischen Garde zugegen und sprach: «Meine Herren, ich bitte, mir dieses ungewöhnliche Begehren zu verzeihen, aber ich bin der Überzeugung, die Situation verlangt es, da Ungewöhnliches, ja, sagen wir ruhig, Unvorstellbares sich zu ereignen scheint. Bitte hört den Bericht dieses Mannes.»

«Eure Heiligkeiten», begann der Offizier, etwas unsicher, ob diese Anrede auch bei drei Päpsten die richtige sei, «als Offizier der Garde komme ich eben aus Rom zurück. In jenen Bergen, die sich hinter diesem See erheben, habe ich Unglaubliches gesehen: Ein heiliger Mann und eine heilige Frau, Filippo und Veronika mit Namen, sind dabei, ein Wunder zu vollbringen. Sie schaffen eine goldene venezianische Galeere über die Gebirge, ganz so, als handle es sich dabei nicht um Berge und Täler, sondern um Wellenkämme und Wellentäler. Niemand weiss Genaueres über ihr Vorhaben. Aber sie haben mächtigen Einfluss auf die Menschen, denen sie begegnen. Viele haben sich ihnen angeschlossen. Von einigen hört man sagen, das Schiff sei die neue Arche.»

Die Päpste hatten dem Bericht mit wachsender Unruhe gelauscht. Einer von ihnen fragte: «Hat Er diese Galeere mit eigenen Augen gesehen?» «Ich habe sie gesehen», der Offizier verneigte sich, «von weitem nur, aber es ist ein Wunder. Mitten in der Felswand hing sie, ein grosses goldenes Schiff. Und es glitt scheinbar mühelos langsam aber stetig höher. Jeder einzelne meiner Soldaten hat es gesehen und kann es bestätigen. Es hat meinen Soldaten mächtigen Eindruck gemacht. Es würde mich nicht wundern, wenn dieses Wunderschiff auf dem Weg hierher wäre.»

Die drei Päpste zogen sich einen Augenblick ins Dunkle der Kirche zurück, besprachen sich und verliessen daraufhin das Münster, jeder mit seinem Gefolge durch eine andere Türe. Der Kardinal erteilte dem Offizier folgende Order: «Die drei Päpste befehlen dir einstimmig, diese Galeere schnellstens ausfindig zu machen und oben in den Bergen zu beseitigen. Niemand soll von ihrem Verschwinden Zeugnis ablegen können. Es kann sich bei diesem Schiff nur um einen Spuk des Teufels handeln, und nichts ist gefährlicher, gerade jetzt, wo die Christenheit um ihre Einheit, die Reinheit der Lehre und um die Würde des kirchlichen Lebens hier auf Erden ringt, als sich vom Teufel ins Handwerk pfuschen zu lassen. Nun, Er hat den Befehl gehört!» «Ich weiss, was ich zu tun habe! Bitte segnet mich und meinen Auftrag!»

Nachdem der grosse Fremde die Galeere verlassen hatte, entstand eine gewisse Unruhe unter den Männern. Der Grund war leicht zu erraten: Es zog sie in ihr neues Dorf zurück, zu ihren Familien, zum Aufbau ihrer neuen Existenz. Leichten Herzens und voller Zuversicht entliessen Filippo und Veronika ihre Helfer, überzeugt, dass, waren sie mit ihrem Schiff bis hierher gekommen, dieses auch irgendwie weitergelangen würde.

Es war ein herzlicher Abschied, um Mittag herum, die Sonne schien für ein, zwei Stunden ins enge Tal hinunter und liess das Gold der Galeere grossartig aufleuchten. Die beiden Zurückgebliebenen setzten sich unweit des Schiffes auf einen aus dem Schnee ragenden Stein. Sie sah wunderschön aus, ihre Galeere. Unter ihnen lag die zugefrorene Fläche des Sees, dahinter ragten steil die ewigen Berge auf. (5)

«Weisst du», sagte Filippo, «so stelle ich es mir vor: Es wird Abend sein, die untergehende Sonne wird unser Schiff in seiner ganzen Pracht aufleuchten lassen. Das Segel ist gesetzt und wir steuern auf Konstanz zu. Sie werden ans Ufer treten, alle die Kirchenmänner, sie werden unser Schiff erblicken, wie es von den Bergen her auf sie zusteuert. Auf das Segel nähen wir das Schweisstuch der Veronika. Diesem Bild des Glaubens wird sich niemand verschliessen können, der ein fühlendes Herz in seiner Brust hat. Die endlose Verwirrung wird ein Ende haben, genau wie all das unnötige Leiden der Menschen, Jan Hus wird nicht auf den Scheiterhaufen gebunden. Man wird vom Wunder von Konstanz reden. Unser Schiff aber wird an ihnen vorübergleiten. Wir werden unseren Weg fortsetzen nach Köln.» «Du bist ein Träumer, Filippo», seufzte Veronika, «und dafür liebe ich dich. Wenn du aber von einem fühlenden Herzen sprichst – wie steht es um dein Herz? Weisst du auch, was ich fühle?»

Sie blickten sich an, zuerst vergruben sie ihre Köpfe in den Schultern des anderen, dann pochte ein Herz am Herzen des andern. Die lange zurückgehaltene Flut ihrer Gefühle brach los. «Du meine Heilige», flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr. «Filippo, mein Heiliger!», antwortete Veronika lächelnd. Als wäre ein Wildbach losgebrochen und risse alles mit, was ihm im Wege lag: Stämme krachten, Steine rollten, ein Schrei aus Veronikas Mund: «Filippo! Die Galeere!»

Krachend, quietschend und rumpelnd rutschte die Galeere übers halbgefrorene Schneefeld, sie schlug auf Felsen, neigte sich nach links und nach rechts, ein kantiger Fels riss ihre Seite auf. In rauschender Fahrt stach sie ins dünne Eis des Sees, das weitherum in Stücke brach, glitt noch etwas weiter hinaus, das Eis zerteilend, verlangsamte ihre Fahrt, bis sie stillzustehen schien und langsam im Bergsee versank.

Die Sonne hatte das Tal längst verlassen, Filippo und Veronika standen noch immer am Ufer des Sees und versuchten zu fassen, was geschehen war. «War das der Sinn aller Anstrengung», sprach endlich Filippo, «dass unsere Galeere in diesem Bergsee, am Ende der Welt, sang- und klanglos versinkt?» «Wenn ich das wüsste, mein Liebster», antwortete Veronika, «kann denn so viel Mühe tatsächlich sinnlos sein?» «Jedenfalls wird sich das Wunder von Konstanz nicht ereignen», meinte er. «Ach Filippo, was ist das für eine Welt, die nur noch mit Wundern in Ordnung gebracht werden kann …»

«Vielleicht, Filippo, ist es einfacher als man denkt», Veronika sah ihn schelmisch an, «Wunder braucht es, wo die Liebe fehlt.» «Na ja», meinte er, «dann brauchen wir ja wohl keines.» Sie waren noch nicht weg vom Ort, wo ihre Galeere am Grund des Bergsees lag.

Plötzlich hörten sie das Klingen von Glöcklein und Schellen. Eine tanzende Gruppe von wüsten Gestalten näherte sich ihnen, mit Reisig, Tannzapfen und Schneckenhäusern herausgeputzt, mit Schellen und Treicheln behangen. (6) Die Gestalten umtanzten die beiden, sangen einen fremdländisch tönenden leisen Gesang hinter ihren Masken, schüttelten ihre Glocken. Es tönte von Ferne wie die Musik, die Filippo in Avignon vor dem Tympanon gehört hatte.

Die Tanzenden hoben Filippo und Veronika auf ihre Schultern. Tanzend und läutend verschwanden sie mit den beiden talwärts.

Die Soldaten der Päpste suchten die Galeere umsonst. In Leermondnächten aber ist seither jeweils der Mast der Galeere zu sehen, wie er aus dem See ragt. Zwei kleine Lichtwesen umspielen ihn. Auch soll dabei Gesang zu hören sein, schön wie Engelchöre.

1 Wahrscheinlich die Ortschaft Sax. Falls die Flüchtlinge in Sax bleiben konnten, profitierten sie wohl von unklaren Besitzverhältnissen oder von einem Machtvakuum zwischen dem Kaiserreich, den Habsburgern und den Grafen von Werdenberg-Heiligenberg. Sax wurde später bei einem Brand beinahe vollständig zerstört.
2 Heute noch in Oberriet begangener Brauch zum Frühlingsanfang.
3 Bereits die Boten des Kaisers benutzten den Weg über die Saxerlücke, nachdem der Herzog von Schwaben
den Fürstabt von St. Gallen damit beauftragt hatte, einen sicheren Weg vom Bodensee in den Süden zu finden. Richel der Läufer war der bekannteste der Führer durch dieses Gebiet. (Vgl. Grubenmann, hier S. 406–408).
4 Benedikt XIII., Gregor XII. und Johannes XXIII.
5 Fälensee am Säntis, auf ca. 1400 Metern Höhe gelegen, unterirdischer Abfluss.
6 Es handelt sich hier offensichtlich um sog. ‹wüste Chläuse›, noch heute im Appenzellischen zu bestimmten Gelegenheiten unterwegs.

Fuchs, Mäddel

Unterwegs mit Arthur Zünd

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Zum ersten Mal bin ich Arthur im schneereichen Winter 1963 begegnet. Ich war als frisch gebackener Kantonsschüler auf dem Heimweg von Gais nach Trogen. Auf einem Weg, der den meinen kreuzte, schwebte wie von Geisterhand geführt ein gelbes unbekanntes Ding über dem Schnee. Es war ein strahlender Tag, ich wollte Wissenschaftler werden und hatte damals noch grenzenloses Vertrauen in die empirische Forschung, wusste also: Es gibt eine Erklärung für alles. Forschen Geistes und zögerlichen Schrittes machte ich mich auf, dieses Phänomen zu ergründen. So ganz gewöhnlich war es schon nicht, was ich an der Kreuzung antraf. Ein kleiner Mann stand da, sogar noch etwas kleiner als ich. Er erschien mir uralt, und er trug eine riesige gelbe Chrenze auf dem Rücken. Diese Chrenze überragte ihn um mindestens 20 Zentimeter, genau jene, die über den hohen Schneemauern zu schweben schienen. Ganz geheuer war mir die Erscheinung dieses kleinen Mannes nicht, aber er lachte und strahlte, wie ich es noch nie gesehen hatte, und er redete drauflos. Vom Gesagten verstand ich nicht besonders viel; immerhin so viel hatte ich aufgeschnappt, dass er Arthur Zünd hiess und, das war besonders erfreulich, dass er süsse Backwaren verkaufte. Hatte ich Geld in der Tasche, so verwandelte es sich sowieso in Süssigkeiten. Ich hatte Geld, die Verwandlung konnte beginnen.

Völlig erstaunt schaute ich zu, wie der kleine Mann die Beine spreizte und, einem Limbotänzer gleich, ganz langsam in die Knie ging, bis die Chrenze am Boden stand. Der Plastiküberwurf wurde aufgeklappt – der obere Leichtholzbehälter war leer. Ob meiner sichtlichen Enttäuschung bebte der kleine Mann vor Lachen, als er den Behälter heraushob. Darunter kam – nun, ich weiss nicht mehr, was zum Vorschein kam. Doch in dieser Erzählung lasse ich mich ein Birnbrot kaufen. Auf die Frage nach dem Preis antwortete der kleine Mann mit völlig wirren Zahlen: «Anderhalbe föfesibezg», lachte laut und strahlte dabei.

Damals wusste ich noch nicht, dass dies Arthurs Standardantwort auf Preisanfragen war. Ein geflügeltes Wort, das er bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten anwandte und über welches er ein ganzes Leben lang lachen konnte.

Das Abzählen des Retourgeldes dauerte seine Zeit, das machte nichts. Keiner von uns beiden war in Eile.

Die Chrenze wurde sorgfältig zugedeckt und musste nun wieder geschultert werden. Der kleine Mann spreizte wieder die Beine und ging ganz einfach umgekehrt vor als beim Abstellen, aber genau gleich langsam. Doch diesmal erschien mir alles noch viel akrobatischer. Staunend sah ich zu, wie er es fertig brachte, tatsächlich mit geschulterter Chrenze dazustehen. Ich hatte damals noch keine Ahnung von Physik, heute weiss ich immerhin so viel, dass die Art, wie Arthur seine Chrenze hob, allen Gesetzen terrestrischer Physik widersprach.

Wir verabschiedeten uns, und beide zogen glücklich von dannen.

Der kleine Mann hatte etwas Süsses verkauft und ich etwas Süsses gekauft. Das Birnbrot hat die ersten Häuser von Trogen nicht mehr erlebt.

Gahse, Zsuzsanna

Zu Füssen des Hochhamms

Als ich vor einigen Wochen mit Hans hergereist kam, standen wir gegen Mittag vor dem Kirchportal. Wir schauten zu der geschlossenen Häuserreihe hinüber, zu den Holzfassaden, und Hans sagte, dass es sich bei diesen Häusern wahrscheinlich um die bekannten Appenzeller Strick-Bauten handle. Um Holzstrickware sozusagen, die zum alten guten Wissen gehört und ja nicht in Vergessenheit geraten sollte.

Städtische Häuser, dachte ich. Eine ehemals werdende Stadt, die dann nicht weiter geworden war.

Jedenfalls standen wir vor dem Kirchportal, als unten auf der Strasse ein Kleinbus hielt. Sieben Personen stiegen aus, sieben Mal silbrige Haare. Die Leute, Frauen und Männer, streckten sich und Tränen flossen, beinahe zumindest. Sie kamen über die Stufen zu uns herauf und erzählten, dass sie alle aus Toronto gekommen seien. Eben erst angekommen, am Zürcher Flughafen. Sie hätten sich den Wagen gemietet, um sich hier in der Gegend umzuschauen. Denn zwei von ihnen stammten aus Schönengrund, die anderen aus Heiden und Trogen, und sie alle waren seit Jahrzehnten nicht mehr in der alten Heimat. Der Mann aus Schönengrund räusperte sich und zeigte zu einem Fenster hinauf. Da wurde ich geboren, sagte er. Später zeigte seine Frau ihr Elternhaus, vor allem aber schaute sie ständig in die Höhe, schüttelte den Kopf und meinte schliesslich, dass man ihr nicht zu glauben brauche, aber es sei vor allem das Licht, das hiesige Licht, das sie auf Anhieb wiedererkenne. Als gäbe es dieses bestimmte Licht auf der gesamten Welt nicht noch einmal.

Toronto und Schönengrund. Das sind zwei entgegengesetzte Lebensmöglichkeiten.

Die sieben Silberhaarigen schwiegen zwischendurch, sie schluckten, legten die Arme einander um die Schultern, und sie blieben bei uns stehen. Sie wollten noch weiter erzählen, und die Schönengrunderin wiederholte, wie erstaunt sie über das Licht sei, über ihr grundeigenes Licht.

Mehr oder minder zufällig sassen wir nachher gemeinsam beim Mittagessen. Die sieben erzählten ein wenig von ihrer Jugend, nicht viel, sie waren noch ganz benommen von der wieder gewonnenen Umgebung. Sie waren ja erst einige Stunden vorher gelandet, man könnte sagen, meinte einer von ihnen, dass sie noch nicht wirklich gelandet seien, und schon seien sie hier, auf dem Land.

Tja, was ist eine Stadt? Fünfzig Häuser können bereits eine Stadt sein. Ich sagte, Herisau beispielsweise sei wirklich eine Stadt, obwohl ich mir vorstellen könnte, dass sich dort die meisten Leute kennen und einander sogar begrüssen.

Die Sieben aus Toronto nickten und lächelten. Ich erzählte ihnen, dass ich in Herisau einmal einen Mann in der Nähe der Bibliothek gesehen habe, einen Rothaarigen, von einigen Jugendlichen umringt. Während ich ihm zuschaute, erklärte mir eine Passantin, dass man den Mann täglich sehen könne, den kenne jeder. Die Schüler oder die Schülerinnen erwarten ihn geradezu, und sie stellen ihm die vertracktesten Rechenaufgaben, fragen ihn nach der Wurzel aus vierhundertzwanzigtausend oder lassen ihn komplizierte Zahlen potenzieren.

Dann geht der Rothaarige ein wenig auf und ab, schnippt mit dem rechten Daumennagel am Mittelfinger, er schnippt unentwegt, am Mittelfinger fehlt schon die Haut, vorgebeugt geht er mit seinen Rechnungen los, liefert immer die richtigen Lösungen, und man sieht ihm an, dass er ausser seinen Zahlen nichts braucht. Sein Kopf funktioniert, das mag er, und er mag seine jungen Begleiter.

In Schönengrund würde der Rothaarige vereinsamen, vielleicht sogar verrückt werden. Kaum einer würde ihn brauchen. In Toronto hingegen würde man ihn übersehen, wer weiss!

Die Grösse einer Stadt sei eine Frage für sich, sagte der Mann aus Trogen. «So das ist eine Frage, you know», sagte er.

«Herisau einerseits, Toronto andererseits, daneben Schönengrund und daneben das alte Athen, das ist spannend», rief Hans und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, als wollte er zu einer Rede ausholen, aber er sagte nur: «Das kleine Athen, die erste Grossstadt, die erste wirkliche Stadt.»

Und dann flogen die Stadtnamen hin und her. Toronto, Istanbul, New York, das ewige London, Rio! Petersburg ist grösser als Rom, Bukarest hat mehr Einwohner als Wien, die Fläche von London ist doppelt so gross wie Toronto und Toronto beinahe dreimal so gross wie Appenzell Ausserrhoden.

Sagen wir nun, sagten wir, Schönengrund wäre ein hübscher kleiner Stadtbezirk der neuen Megametropole Appenzell. Hier, in einer schönen Zone der Riesenstadt, ginge man durch baumbesetzte Alleen und zwischen Hochhäusern mit zehn oder zwanzig Stockwerken, man stiege zum Hochhamm hinauf, wo natürlich weitere Hochhäuser stünden, und in einem dieser Bauten wäre das berühmte Terrassenkaffee Hochhamm, von wo aus man nicht nur bis nach Alt-Herisau und Alt-St. Gallen sehen könnte – natürlich nur bei entsprechend klarer Sicht –, sondern bis nach Alt-Bregenz, also zum Stadtbezirk Bregenz. Weit und breit nichts als schöne und weniger schöne hohe Häuser, ein endloses Häusermeer, dazwischen erstaunliche Brücken, erstaunlich hohe Wolkenkratzer, architektonisch bewundernswerte, schwindelerregend hohe Türme – und mitten im Häusermeer der hohe Kopf des Säntis, wie ein Zuckerhut. Irgendwo allerdings, am Rand der Riesenmetropole, gäbe es auch sogenannt marginale Viertel und bei etwas Missgeschick sogar die unvermeidlichen Favelas.

Auf diese Vorstellung, die wir gleich wieder verscheuchten, tranken wir einen Schluck Wein mit den silbernen Sieben, und der Mann aus Trogen fragte bedächtig, er frage sich selbst, ob er in einer derartigen Stadtgegend glücklich wäre.

Dann dachten alle nach. Es entstand eine lange Pause. Und da ich solche Pausen manchmal erschreckend finde, als hätte ich eine Kluft vor mir, sagte ich:

«Glückliche Leute haben den Vorzug: Sie sind gesünder. Weil sie gesünder sind, sind sie glücklicher, und deshalb sind sie wiederum gesünder und damit glücklicher. Glückliche Leute haben ein besseres Gedächtnis und wie von selbst angenehme Umgangsformen, womit sie dann gefallen, und dadurch sind sie glücklicher. Sie fühlen sich mitten in der Welt, inmitten der Welt, und das steigert ihre Lebensfreude. Vereinfacht aber sollte ich sagen: Glückliche Leute sind glücklicher.»

Wie auch immer. Es ist schön in dieser Gegend, und der Ortsname hier ist, wie gesagt, treffend.

Aber es geht halt um Land kontra Stadt. Gegenwärtig entwickelt sich alles in Richtung Stadt, in Richtung Megastadt, wo alles zur Verfügung steht und wo man einander nicht zu grüssen braucht, man kommt sowohl freundlich als auch unfreundlich aneinander vorbei. Und es heisst, dass in den grossen Städten meist mehr Kultur anzutreffen sei als auf dem Lande, wo eher nur Bäume oder Obst kultiviert werden. Aber es ist gut zu wissen, dass hier Raum genug für eine Metropole wäre, und es ist gut, dass sie nicht vorhanden ist, derzeit. Es könnte einmal durchaus eine Trendwende geben. Dann würden alle die Stadtflucht ergreifen, Tausende kämen aus den Städten herangefahren, hierher, in der Meinung, im Grunde nur hier glücklich zu sein, in Schönengrund, weil hier niemand am Rande sein kann. Unten im Grund wird niemand am Rand sein. Das leuchtet ein. Nur würde bei dem Massenandrang nichts mehr leuchten, so dass die Leute wieder abziehen müssten, und was ihnen bliebe, wäre die Sehnsucht hierher zurück.

Ganz, Heinrich Rudolf

Appenzell, das Land

Der Kaien, Wirtshaus Gupf

Der Regen hatte sich verzogen, der Himmel aufgeheitert und während die Wirtstochter nach den Bauern sah, die in der vordern Gaststube einen Liter nach dem andern ausjassten, warf ich einen Blick durch die Fenster auf den steilen Hang des Rossbüchels, hinter dem sich der Bodensee ausbreitet und dessen Fläche man verfolgen kann bis hinunter nach Konstanz, wo sie sich in den Überlinger- und Untersee teilt. Man sah jenseits des Sees die Zeppelinwerft, Friedrichshafen, Lindau und Tettnang, auf das die Sonnenstrahlen, wie von einem Reflektor geworfen, fielen; dann schaute ich auf den nahen Thurgau hinunter, in den die Appenzeller vor fünfhundert Jahren ihre Waffen getragen haben, damals, als sie noch mehr an beutebringende Kriegszüge als ans Liter-Ausspielen dachten.

Es war ruhig hier oben und ich habe mich gefreut, dass hier ein gemütliches Gasthaus ohne five o’clock tea und ohne Kurkapelle stand. Die Familie des Wirts hatte sich eben zum einfachen Vesperessen niedergesetzt und statt der Kurmusik fingen die Bauern zu jodeln an. Als ich meine Zeche beglichen hatte und mich zum Aufbruch anschickte, gab mir das Töchterlein des Wirts mit einem freundlichen «Aaaadie! Bald wieder!» das Geleite bis zur Haustüre. Noch eine Weile schaute ich dem Treiben einiger Kinder zu, die sich auf dem Platze vor dem Hause mit Schaukeln und Wettspielen vergnügten, und schlug dann den Fahrweg ein, der hinunterführt zum Dorfe Rehetobel, von dem von hier aus nur der spitze Kirchturm und einige Häuser zu sehen waren. Ich musste stille stehen und hinüberschauen zum blauen Säntis, zum Gäbris, zu den Dörfern Speicher und Trogen, die an dunklen Hängen klebten und hinter denen die Hügel des Hinterlandes, der Speer, der Glärnisch, die beiden Mythen, Rigi und Pilatus den fernen Horizont abschlossen und ich begriff Pfarrer W.F. Bion, der, als er in Rehetobel amtete, von der Hügellandschaft einen so überwältigenden Eindruck bekam, dass er singen musste:

Appezellerländli, du bischt so tonnders nett!
Lief’ i z’Fetze d’Strömpf ond Schue, gieng i wo-n-i wett;
So e Ländli fönd i niene,
Wo-n-i ane chomm, i g’siehne,
Dass me üebt viel Pfeff ond List,
Ond’s do besser ischt.

Giger, Andreas

A. ist überall

A. ist überall
Wo die Sicht frei ist,
weit zu schweifen
und zu verweilen
beim Geheimnis der Nähe –
da liegt A.

Wo die Gedanken Raum haben,
in Würde zu reifen,
sich zu vertiefen
und auszubreiten –
da liegt A.

 

Wildnis
Der Bär aus den wilden Wäldern
ist längst weg.
Pferdestärken haben auch hier
schon Räder.

Doch Gülle stinkt noch immer.

Von der Liste der bedrohten Arten
kommt die beruhigende Mitteilung,
der innere Bär
sei noch nicht ausgestorben
und würde in A.
besonders gern gesichtet.

 

Durchbrüche
Wie man
mit zäher Geduld
und ein wenig Hilfe
von der Schwerkraft
durch harte Felswälle
bricht,
lernt man von den
Bächen in A.

Der Durchbruch
zur Pilzkopffrisurenmode
geschah in A.
früher als in
Liverpool.

 

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Gisi, Paul

Aline

In den Disteln
im Sande
in den Mauerritzen
in den Platanenkronen
im Maquis von Erdbeerbäumen
lieben sich Wirbelwespen
zwitschert der Girlitz
wiederholt die Steinohreule
ihren eintönigen Ruf –
in Fliederbüschen
schlagen Grasmücken
ihren Wohnsitz auf
Tausende von entzückenden Insekten
sammeln jagen und bauen –
kleine Aline
schau
auch ich baue dir ein Nest

 

Durch schlickende Stille
des nächtlichen Hafens
pfeift ein junger Matrose –
du kleines Mädchen komm
wir schlendern
verspielt umarmt
zum Bistro
am kleinen Platz
mit den grossen Platanen –
unter diesen Sternen
ist alles gut

Glauser, Friedrich

Krock & Co.

Warum war man nachgiebig gewesen? Warum hatte man Frau und Tochter den Willen gelassen? Jetzt stand man da und sollte womöglich die Verantwortung auf sich nehmen, weil man eigenmächtig gehandelt hatte und die Leiche nicht im Gärtlein geblieben war, hinterm Haus, dort, wo sie aufgefunden worden war …
Der Tote lag auf dem weissgescheuerten Tisch im Vorkeller des Hotels ‹zum Hirschen›, und über das helle Holz schlängelte sich ein schmaler Streifen Blut. Langsam fielen die Tropfen auf den Zementboden – es klang wie das Ticken einer altersmüden Wanduhr.
Der Tote: Ein junger Mann, sehr gross, sehr schlank, bekleidet mit einem dunkelblauen Polohemd, aus dessen kurzen Ärmeln die Arme ragten, lang und blond behaart, während die Beine in hellgrauen Flanellhosen steckten.
Und neben seinem Kopfe lag das Mordinstrument. Kein Messer, kein Revolver … Eine ungewöhnliche, eine noch nie gesehene Waffe: die Speiche eines Velorades, an einem Ende spitz zugefeilt. Sie war nicht leicht zu entdecken gewesen, denn sie hatte im Körper des Toten gesteckt und kaum aus der Haut herausgeragt. Erst als Studer mit der flachen Hand über den Rücken der Leiche gefahren war, hatte er sie fühlen können. Fast senkrecht war sie in den Körper gestossen worden, dicht unter dem linken Schulterblatt, und nirgends herausgekommen – weder an der Brust noch am Bauch. Wie viele lebenswichtige Organe dieser Spiess durchbohrt hatte, würde der Arzt erst bei der Leichenöffnung feststellen können …
So wenig ragte das stumpfe Ende aus dem Rücken heraus, dass es eine Zange gebraucht hatte, um die Mordwaffe aus der Wunde zu ziehen.
Doch – um eine erste Frage aufzuwerfen – wie war der Mörder mit diesem Spiess umgegangen? Es musste doch ein Griff vorhanden gewesen sein – im Augenblick, da der Stich ausgeführt worden war. Hatte man ihn abgeschraubt? Nachher? Es schien fast so, denn eine kaum sichtbare, spiralig verlaufende Linie war in den stumpfen Teil eingeschnitten … Mechanikerarbeit, ohne Zweifel!
Wachtmeister Studer, von der Berner Fahndungspolizei, hätte ums Leben gerne eine Brissago angezündet, aber das ging nicht an, hier, gerade neben dem Toten. So blieb nichts anderes übrig, als hin und her zu laufen im schmalen und kurzen Raum, den eine Birne, baumelnd an einem staubigen Draht, mit einem grausam hellen Licht überschüttete.
Und dazu dem Albert Vorträge zu halten …
Jedes dieser Selbstgespräche begann mit der Feststellung: «Lue Bärtu! Worum, zum Tüüfu, hei mr uff d’Wybervölcher g’lost!»
Albert Guhl, ein kräftiger, breitschultriger Bursche, siebenundzwanzigjährig, Korporal an der Thurgauer Kantonspolizei und in Arbon stationiert, hatte heute Studers Tochter geheiratet.
– Hätte man, fuhr der Berner Wachtmeister zu fragen fort, die Hochzeit nicht gerade so gut in Bern feiern können? Nein, es hatte müssen durchgestiert werden, dass sie in Arbon stattfand. «Weil deine Mutter eine alte Frau ist und sich vor dem Reisen fürchtet? Gut, das ist ein Grund! Ein stichhaltiger?»
Albert Guhl schwieg. Und Studer hob seine mächtigen Schultern – die Hände machten die Bewegung mit und fielen dann klatschend gegen seine Oberschenkel …
«Und ietz?» fragte er weiter. Langsam näherte er sich dem Tisch, bückte sich und sah dem Toten ins Gesicht …
Ein unangenehmes Gesicht! Die Nase lang und gebogen, wie ein Geierschnabel, zwei Furchen gruben sich ein von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln, die fleischigen Lippen waren geschürzt, entblössten die Zähne – und es sah aus, als lächle der Tote mit all seinen Goldplomben. Und der Blick, bevor dem Toten die Augen zugedrückt worden waren! Studer erinnerte sich an ihn: geladen mit Hohn, im Tode noch!
Sah es nicht aus, als wolle sich der Ermordete lustig machen über die Überlebenden? Kaum hatte der Wachtmeister diese Frage gedacht, stellte er sie laut. Und Albert, der Schwiegersohn, nickte, nickte – aber er tat den Mund nicht auf.
Ob er das Reden verlernt habe, wollte Studer wissen.
Albert sah auf, schüttelte den Kopf, und dann sagte er, bescheiden, ohne jeglichen Vorwurf:
«Wir hätten ihn liegenlassen sollen, Vatter.»
«Liegenlassen! … Liegenlassen! …» Studer ahmte gehässig den Tonfall des Jungen nach. «Liegenlassen! Damit die Bauern vom Dorf den Boden vertrampeln? Hä? Damit man gar keine Spuren mehr findet? Hä?»
«Spuren!» meinte Albert leise, mit viel versöhnlichem Respekt, der dem Wachtmeister wohltat. «Ich glaub, Vatter, dass man auf dem Boden nicht viel Spuren entdecken kann …»
– Weil er trocken sei wie-n-es Chäferfüdle? Hä? Das wolle der Junge wohl sagen? Dann solle er sich merken, dass ihm, dem Wachtmeister Studer («mir, nur em Wachtmeischter Studer», betonte er), die Aufklärung eines ähnlichen Falles gelungen war: da sei der Tote auf einem ebenso trockenen Boden gelegen – auf einem Waldboden! (Doch eigentlich war aller echte Ärger aus Studers Stimme verschwunden. – Der Wachtmeister tat nur so. Und Albert merkte dies ganz gut – er lächelte …) – Ganz recht! Auf einem Waldboden! Mit Tannennadeln drauf! wiederholte Studer und stiess seine Fäuste so tief in die Hosentaschen, dass in der plötzlichen Stille deutlich das Geräusch zerreissenden Stoffes zu hören war …
«Sauerei!» murmelte der Wachtmeister. – Nun werde er sein Portemonnaie verlieren … Und warum, seufzte er weiter, um der Tuusigsgottswille warum hatte man den Ausflug ausgerechnet nach diesem Schwarzenstein machen müssen?
«Aber Vatter!» sagte Albert. «Ihr habt doch selber den Hirschen zu Schwarzenstein vorgeschlagen!»
Studer brummte. Es stimmte, leider! Er hatte das Hotel vorgeschlagen. An der Mittagstafel in Arbon war von dem alten Brauch die Rede gewesen; am Hochzeitstag, hiess es, sei es Sitte, mit Kutschen irgendein Dörflein im Appenzellerland aufzusuchen … Und da war dem Wachtmeister eingefallen, dass in Schwarzenstein ein Schulschatz von ihm wirtete. Alte Liebe rostet nicht, sagt man, und somit waren nicht nur zwei Frauen (Studers Gattin und Tochter) am traurigen Ausgang des Festes schuld, sondern drei. Denn das Ibach Anni (jetzt hiess es übrigens Frau Anna Rechsteiner) musste man dazu zählen, das vor … – vierzig? – achtunddreissig? – kurz, vor vielen Jahren mit dem Studer Köbu in einem Dorfe des Emmentals zur Schule gegangen war …
Das arme Anni! Vor zehn Jahren hatte es den Karl Rechsteiner in St. Gallen zum Mann genommen, und das Ehepaar hatte dann das Hotel in Schwarzenstein gekauft, denn viele Feriengäste kamen im Sommer hier herauf. Zuerst war alles gut gegangen. Aber dann war der Mann krank geworden vor drei Jahren, und zwischendrin hatte er ins Südtirol fahren müssen – zur Kur.
«Auszehrung», sagte Dr. Salvisberg, der den Kranken behandelte.
Und wirklich, der Rechsteiner sah schlecht aus. Studer hatte ihm, begleitet vom Anni, am Nachmittag einen Besuch abgestattet, und seither wurde er das Bild des Mannes nicht los. Das Gesicht vor allem: glatt, spitz, die linke Hälfte kleiner als die rechte; die Hautfarbe … wie Lätt …
Ja, das Anni hatte es nicht leicht. Es hiess freundlich sein mit den Feriengästen, den kostbaren, damit sie übers Jahr nicht ausblieben! Denn sie brachten Geld ins Haus – und der kranke Rechsteiner brauchte viel! Für Arzt, Apotheke, Kuren.
Und nun dieser Mord! Er konnte die Feriengäste vertreiben – wer wohnt gern in einem Hotel, in dem ein Mord passiert ist? Ein solch geheimnisvoller noch? Für die Zeitungen war solch ein «sensationelles» Verbrechen ein gefundenes Fressen! Und so hatte denn das Anni den Wachtmeister um Beistand gebeten. Konnte man solch eine Bitte abschlagen? Besonders noch, wenn sie von einem Schulschatz kam?
Ja, das Anni! Schon in der Schule hatte das Meitschi viel Mut und Tapferkeit gezeigt. Und wacker war es geblieben. Keine Klage, nur eine schüchterne Bitte, nicht einmal das – eine Behauptung eher: Der Jakob werde schon alles richtig machen …
Wieder stand Studer neben dem Tisch und betrachtete den Toten … Kopfschüttelnd nahm er die sonderbare Waffe in die Hand, trat unter die Lampe und untersuchte sie dort eingehend.
Und plötzlich machte er seine erste Entdeckung.
«Bärtu!» rief er leise. Als der Schwiegersohn neben ihm stand, hielt Studer zwischen Daumen und Zeigefinger ein steifes graues Haar. «Lueg einisch!»
«Hm!» meinte Albert.
– Was er mit seinem «Hm» sagen wolle, erkundigte sich Studer gereizt. Ob die Thurgauer alle es vernäits Muul hätten? Was sei das für ein Haar?
«Kein Menschenhaar», sagte der Albert vorsichtig.
Der Wachtmeister schnaufte verächtlich.
– Dass es kein Menschenhaar sei, könne ein zweijähriges Büebli sehen. Aber von was für einem Tier denn? Geiss? Lamm? Küngel? Pferd? Kuh?
Das Haar, das der Wachtmeister noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, war dünn, steif und glänzend. Lang wie Studers Zeigefinger.
Albert meinte schüchtern, es sehe aus wie ein Hundehaar – worauf er zur Antwort erhielt, ein Polizist habe nicht zu raten, sondern er müsse seine Behauptung auch beweisen können. Wie er auf den Gedanken gekommen sei, es könne ein Hundehaar sein?
– Weil bei der Ankunft der Gesellschaft ein langhaariger Hund um die Beine der Pferde gesprungen sei, dessen Fell exakt diese Farbe gehabt habe. Ja, auch die Länge des Haares stimme …
Studer nickte, klopfte seinem Schwiegersohn auf die Schulter und meinte:
– Vielleicht werde doch noch etwas Rechtes aus ihm.

Graf, Sarah

Aussicht

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Nr. 3 aus der dreiteiligen Serie Durchsicht – Weitsicht – Aussicht.
Mischtechnik. 50 x 50 cm.
Kantonale Kunstsammlung Appenzell Ausserrhoden.

Grubenmann, Albert

Richel, der Läufer. Eine Sage

Es soll in jener Zeit gewesen sein, da zwischen Bregenz und Rätien vor den räuberischen Montfortern kein Warentransport, ja nicht einmal des Kaisers reitende Boten mehr ihres Lebens sicher gingen. Da soll vom Herzog von Schwaben an den fürstäbtischen Landesherrn der Vogtei St. Gallen die Aufforderung ergangen sein, für die kaiserlichen Boten einen sicheren Weg durch das Bergland der Rhoden zu finden. Von Konstanz herauf und von der Gossauer March bis nach Appenzell war dies keine besondere Aufgabe; schwieriger wurde es erst von hier nach dem oberen Rheintal. Also beauftragte er seinen Verwalter daselbst, und dieser liess die Rhodmeister von Schwende und Rüti zu sich kommen, damit sie ihm einen zuverlässigen und gebirgskundigen Mann nannten, der die Boten heil und sicher in die obere rheinische Niedere hinunter führen würde. Für die beiden Rhodmeister war die richtige Wahl hierfür rasch getroffen, denn es gab unter den Bergsennen, Säumern und Jägern keinen, der jeden Weg und Durchpass im Gebirge so sicher und gut kannte wie der Jäger Richel in Brülisau.

Kurze Zeit darnach erhielt dieser vom Rhodmeister Bescheid, dass er sich in den nächsten Tagen beim äbtischen Verwalter im Flecken draussen einzufinden habe; alles weitere werde er von diesem selbst erfahren.

Mit der ihm gewohnten Würde und Gelassenheit erklärte dieser Richel Sinn und Zweck der Aufgabe, die ihm nun übertragen werde. «Bedenke immer, dass es des Kaisers Boten sind, die du zu führen hast. Nicht welche Botschaft ihnen aufgetragen ist, sondern dass sie heil und sicher ihr Ziel erreichen, soll deine Sorge sein. Für deine Mühewalt aber soll dir der doppelte Lohn eines Säumers verabfolgt werden.»

Richel war des Angebotes gar wohl zufrieden und versprach dem Amtsmann in die Hand, das ihm aufgetragene Mandat gewissenhaft und zuverlässig auszuführen. Ja, den Weg nach der Saxerlücke und von dort zum Flecken Sax hinab, den kannte er wie seine Wamstasche. Er war wohl rauh und zu gewissen Zeiten sogar lebensgefährlich. Überdies spukte es zuweilen nachts an einigen Wegstellen und hinten am See. Doch was scherte ihn solches Nachtgelichter. Er hatte sich ja nicht um sie, sondern nur um seine Aufgabe zu kümmern.

Wochen kamen und gingen, und der kurze Bergfrühling neigte sich schon der Zeit der Sommersonnwende zu. Richel hatte sich mittlerweile gar gut in seine Aufgabe eingelebt. Mitunter hatte er die versiegelten und lederumhüllten Botschaften, die ein berittener Bote ihm überbrachte, selbst dem nächsten Boten in Sax gebracht. Oft aber hatte er besonderen Eilboten lediglich als Führer zu dienen und sie auf dem kürzesten Weg heil und sicher wieder in die Rheinebene hinunterzubringen.

Einmal aber, in einer mondhellen Sommernacht, hatte er ein sonderbares Erlebnis; er begegnete dem Totenzug. Gleich einer unendlichen Kette kamen sie die Widderalp herunter und gingen jetzt lautlos als graue Schatten an ihm vorüber. Ein leichtes Frösteln strich ihm längs des Rückens, denn verschiedene Gestalten glaubte er zu erkennen. Eigentlich erst nachdem der letzte der unheimlichen Schemen vorüber und gegen den See hinunter wieder verschwunden war, überkam ihn ein sonderbares Grauen. Es war nicht Furcht; es war mehr ein dunkles Gefühl der Befangenheit und Unkenntnis gegenüber diesen Schattenwesen, dieser Erscheinung aus der Geisterwelt.

Beim Sennen Chuered in Sämbtis klopfte er an die Hüttentür und bat um Einlass. Eine bleierne Schwere sass ihm in den Gliedern.

«Lass mich für den Rest der Nacht bei dir ausruhen; ich bin unsagbar müde.» Auf der Heubühne droben war Richel darauf sogleich in tiefsten Schlaf gefallen. Am anderen Morgen aber erzählte er Chuered beim Herdfeuer seine sonderbare Begegnung.

«Das sind die armen noch unerlösten Seelen der Abgestorbenen, die auf ihrer endlosen Wanderung deinen Heimweg gekreuzt haben. Doch nicht jeder, nur wenige Sterbliche können sie sehen. Mein Handbub ist ihnen unlängst auch in den Weg gelaufen und darob schier gestorben vor Schreck.»

Richel sah versonnen und wortkarg in die schwelende Glut.

«Ich möchte nur wissen, ob mein Zusammentreffen mit den Unerlösten ein Zufall ist oder für mich eine besondere Bedeutung hat. Jahre schon jage ich im Gebirge, und nie zuvor bin ich ihnen begegnet.»

«Vielleicht», brummte Chuered in den Bart. «Trug der letzte der Schatten nicht gar deinen Hut, oder hatte er den Gang deiner Mutter?» Doch Richel konnte hierüber nichts Bestimmtes aussagen, weil er zu wenig genau hingesehen hatte.

«Sollten dir die Verstorbenen je wieder begegnen, dann sieh nur auf den Letzten im Zug; trägt er dein Gewand, dann wisse, dass deine Stunden gezählt sind.»

Der Sommer ging vorüber, und es begann sich der Laseyerwald herbstlich zu verfärben. Verantwortungsbewusst war Richel seit jener denkwürdigen Nacht weiterhin seiner Aufgabe nachgekommen, und nie war beim äbtischen Verwalter über ihn eine Klage ergangen. Nur der Rhodmeister fand, dass er inzwischen verschlossen und noch stiller geworden war. Es konnte nicht sein, dass er Sorgen hätte, denn mit dem Beutel voll Taler, den er ihm demnächst als Abschluss überbringen würde, konnte Richel sich doch bestimmt durch den ganzen Winter verhalten.

Es war ein kühler, trüber Herbsttag, da Richel mit einem Eilboten den weiten Weg nach Sax unter die Füsse nahm. Ab Sämbtis wählte er den Weg über die Alp Furgglen. Doch immer dichter umhüllte sie der Nebel. Angestrengten Blickes stapfte er unmittelbar vor seinem Begleiter den ihm sonst so gewohnten Bergpfad hinan, bis er jegliche Richtung verloren hatte. Noch unschlüssig, nach welcher Seite er sich nun wenden sollte, blieb er stehen. Und dann kamen sie wieder heran, – aus der dichten Nebelwand heraus, die unseligen Schatten der Abgestorbenen, und gingen in langer Kette, kaum in Schrittweite, an ihnen vorüber. Wieder spürte Richel ein Schaudern über dem Rücken und wollte den Blick zur Seite richten. Doch da fiel ihm die Aussage des Sennen Chuered ein: « – – – dann sieh auf den Letzten im Zuge; trägt er dein Gewand, oder hat er den Gang deiner Mutter, dann wisse, dass deine Stunden gezählt sind.»

Und dann kam dieser Letzte. Seine Gesichtszüge konnte Richel in dem Nebel nicht erkennen; wohl aber den Hut und Lodenkittel. Versonnen setzte sich Richel ins nebelfeuchte Gras, denn wieder verspürte er eine bleierne Müdigkeit in den Gliedern. Doch da begann sich der Nebel leicht zu heben. Wortlos deutete er dem Weggefährten auf den wieder sichtbaren Pfad, und ebenso wortlos führte er ihn vollends hinunter nach Sax.

Da dort keine Botschaft, noch ein rückkehrender Läufer auf ihn wartete, sputete er sich anderentags schon in der Morgenfrühe, um möglichst schnell wieder daheim zu sein. Als Jäger kannte er die Tücken des Spätherbstwetters im Gebirge sattsam genug, und überdies würde er dem Amtsmann ankündigen, dass der Weg nun wirklich nicht mehr ratsam sei.

Wie der Rhodmeister schon drei Tage umsonst auf Richel gewartet hatte, schickte er einige wegkundige Burschen aus, die Strecke bis zur Lücke abzusuchen. Sie hatten nicht weit zu gehen. Im Aufstieg des Brüeltobels fanden sie ihn im Weggeröll liegen; er war tot.

Grubenmann, Ottilia

Spitalgeburt

Am Vorabend des ersten Mai erhielt ich Bericht, eine Erstgebärende, die schon vor einem Monat Alarm geschlagen hatte, habe endlich Blutspuren. Weil sie auch von Wehen sprach, lockte mich das an ihren Wohnort. Sie lief gespannt und steif umher, verkrampfte sich während ihrer angeblichen Wehen, wie wenn es bei ihr schon fortgeschritten wäre. Ich sagte ihr, dass diese Nacht bestimmt noch keine Geburt erfolgen werde und dass sie erst ins Spital gehen müsse, wenn die Wehen ernstlich zunähmen. Also war diese Nacht nichts los. Gegen halb sechs orientierte mich die Nachtschwester von Gais über das, was sich dort nachts ereignet hatte. Zwei Frauen waren eingetreten, wobei die erste der zweiten im Gebärzimmer Platz machen musste, was leicht geschehen konnte, denn die erste hatte nur unbedeutende Wehen.

Somit machte ich mich auf eine lange Wartezeit gefasst. Ich nahm ein Strickzeug mit, das ich während der Wehenpausen zu einem Knäuel aufziehen wollte. Die eine, des unnötigen Jammerns nicht müde werdend, vertröstete ich auf später, da ihr Muttermund noch vollständig geschlossen war. Er fühlte sich ungefähr so an wie die letzte zusammengezogene Runde beim Schlussabnehmen eines dicken Sportsockens. Der Kopf des Kindes stand ebenfalls noch hoch. Wollte man ihn von unten erreichen, musste man die Frau zum Pressen anhalten, sonst griff man ins Leere. Die Drittgebärende jedoch hatte eine Muttermundsöffnung in der Grösse von zwei Franken, und diese Öffnung war so weich, dass sie während des Untersuchs mühelos auf die Weite von fünf Franken gedehnt werden konnte. Dies gibt die Gewissheit, dass mit einer kleinen Unterstützung, manchmal schon mit einem Klistier oder mit ganz wenig Wehenmittel, die Geburt sofort in Gang kommt. Nach dem erfolglosen Klistier, das immerhin den Vorteil einer Darmentleerung hatte, nahm ich die Erlaubnis für ein Wehenmittel entgegen.

Nun zog ich neben dem Gebärbett, bis ich Wichtigeres zu tun bekam, mein graues Strickzeug auf, denn die wirksame Wehentätigkeit kam erst nach der zweiten Injektion in Gang. Zwischendurch wurde ich ans Telefon gerufen, wo ich einer Mutter Auskunft betreffend ihrer Stillschwierigkeiten geben musste. Meine Abwesenheit vom Gebärzimmer hatte nicht länger als fünf Minuten gedauert und schon zeigte die Leuchtkugel oberhalb der Tür auf Alarm. Die Frau wurde vom Blasensprung überrascht, weshalb sie geläutet hatte. Nun mussten noch die letzten Vorbereitungen zur Geburt getroffen werden, um dann erneut zu blinken. Diesmal der diensttuenden Schwester, damit sie beim Durchtritt des kindlichen Schädels mit der Metherginspritze in die Armvene bereit war.

Gleich begann die Frau mit der Austreibung. Beim dritten Pressweh trat der Kopf des Kindes durch, begleitet von einem leisen Stöhnen seiner Mutter, die entschuldigend sagte: «Jetzt werde ich noch wehleidig.» Es war eine Spontangeburt wie tausend andere, und doch ist es immer wieder bei jeder Frau ein anderes, manchmal sehr tief gehendes Erlebnis, das uns stets wieder das wunderbare Geschehen der Menschwerdung vor Augen führt. Das Kind war ein Mädchen. Als ich nach seinem Namen fragte, sagte die Bäuerin im Gedenken an ihr verstorbenes Kind wehmütig: «Wieder eine Maya», denn ihr letztes Mädchen war auf tragische Weise ums Leben gekommen.

Inzwischen war die andere Frau nach Hause verreist und auf Montag bestellt worden, falls die Geburt nicht vorher in Gang kommen würde.

Zu jener Frau, der ich prophezeit hatte, dass ihr Kind diese Nacht mit Sicherheit nicht komme, fuhr ich morgens um vier Uhr, nach getaner Arbeit im Spital. Nun war ihr Muttermund auf ein bis zwei Franken offen, der kindliche Schädel aber immer noch hochstehend. Ich hatte ein Zäpfchen zur Beruhigung mitgebracht und sagte ihr, dass ich mich daheim noch eine Weile hinlegen würde, um sie dann wieder zu kontrollieren. In Wirklichkeit gedachte ich, daheim zu schreiben, denn wenn man das Erlebte nicht sogleich zu Papier bringt, verwischen sich die Eindrücke und etliches geht vergessen. So fuhr ich, den frühen Sonntagmorgen geniessend, unserem Dorfe zu. Der Himmel war leicht bewölkt. Die Berge ergaben eine markante Silhouette, darüber ein Stück freier Himmel, dann wieder die schönen Wolken. Daheim angekommen, orientierte mich meine Mutter über einen Anruf. Ich bedauerte sehr, dass sie als alte Frau noch von abends bis morgens als Telefonistin dienen musste. Dann also doch noch für eineinhalb Stunden – gute Nacht!

Grunder, Paul

Cumuluswolke

Es war an einem herrlich schönen Julitag, als ich beschloss, eine der watteweissen Cumuluswolken zu besteigen.

Sie kennen sie, diese hoch aufgetürmten schneeweissen Wolken, die weit hinauf in den Himmel ragen wie Berge, Tausende von Metern hoch? Schaut man ihnen zu, wachsen sie langsam, türmen sich als quellendes Leben höher und höher, formen sich wie von Geisterhand zu Wesen und fahren wie riesige Schiffe von Horizont zu Horizont.

Das Schwierigste der Besteigung ist, überhaupt an den Fuss der ausgewählten Wolke zu gelangen, wo die Kletterei beginnen kann. Nichts leichter als das, werden Sie sagen, man bucht einen Flug mit dem Heissluftballon und im Nu ist man oben. Na, na, meine Damen und Herren, wenn Sie den Mount Everest besteigen wollen, fliegen Sie auch nicht mit dem Helikopter auf den Gipfel, sondern Sie besteigen die Felsen und erklimmen die Spitze sicher im Schweisse Ihres Angesichts und an der Flasche reinen Sauerstoffs, oder etwa nicht?

Und genauso ist es bei der Besteigung einer Cumuluswolke. Man muss sie erleben, erleiden und bezwingen. Aber, und das sage ich Ihnen nun aus Erfahrung: Erleben ja, aber erleiden keineswegs und bezwingen schon gar nicht. Die Besteigung einer Cumuluswolke ist einfach, sehr einfach und leicht, sehr leicht, wenn man weiss wie. Und da liegt der Haken.

Ich sehe Ihre ungläubigen Blicke und höre Ihre Gedanken, die sagen, ich wolle Ihnen einen Bären aufbinden. Ich verspreche Ihnen, das liegt mir fern. Jeder kann eine Cumuluswolke besteigen, jeder. Wie gesagt, es ist leicht und Sie wollen nun von mir noch wissen ob Sie Verpflegung mitnehmen müssen, Atemgeräte, Seile und Haken, Kletterschuhe und dicke Wollsachen.

Nichts von alledem, meine Damen und Herren. Das einzige, was wir müssen, ist die Schwere abwerfen und uns leicht, ganz leicht machen. Wir müssen uns sozusagen in Leichtigkeit verwandeln. Das, meine Lieben, fällt uns sehr schwer und Sie wissen selber warum. Viel Schweres tragen wir mit uns herum, und es stapelt sich auf uns wie ein Berg Wolldecken, der uns beinahe erstickt. Anstatt sie abzuwerfen, lassen wir uns andauernd noch mehr beladen, und Sie wären nicht die ersten, die unter der erdrückenden Last zusammenbrechen. Also kann es doch nur befreiend sein, die Kunst der Leichtigkeit zu erlernen, und wunderschön, Ihre Cumuluswolke zu besteigen. Die Kunst der Verwandlung in Leichtigkeit ist einfach, sehr einfach, wie ich Ihnen schon gesagt habe.

Sie kennen die Geschichte des Kalif Storch von Wilhelm Hauff? Dann wissen Sie, dass man sich drei Mal gegen Mekka verneigt, sich vorstellt, in was man verwandelt werden will, und laut und vernehmbar spricht «mutabor». Ich rate Ihnen jedoch ab, diese Methode anzuwenden, denn die Rückverwandlung ist äusserst schwierig, und ausserdem wird mit dem Zauberwort «mutabor», wie bekannt, auch das Erinnerungsvermögen ausgeschaltet, was fatale Folgen haben kann. Zweitens eignet sich «mutabor» nur zur Verwandlung in ein Tier. Es nützt daher auch nichts, wenn Sie sich einen Zettel in die Hosentaschen oder den Ausschnitt stecken, auf dem geschrieben steht «Ich bin ein Mensch», denn erstens hat ein Tier keine Hosentaschen, geschweige denn einen Ausschnitt, und letztlich können Sie als Tier gar nicht lesen.

Es bedarf also einer Methode, die uns die völlige Umwandlung in einen leichten Menschen ermöglicht. Unter einem leichten Menschen verstehe ich nun aber nicht das, was Sie sich vorstellen. Sie müssen auch nicht Ihre schweren Ohrgehänge ablegen oder die Hosentaschen leeren, meine Damen und Herren. Nein, meine Methode ist sehr viel einfacher und nachhaltiger, als Sie denken. Ich will Sie nicht mehr länger auf die Folter spannen, aber eine gewisse Einleitung ist schon notwendig und will ernsthaft bedacht werden, wenn wir anschliessend die Umwandlung so vollziehen, dass Sie sich nicht mehr in den Menschen zurückverwandeln wollen, der Sie heute zu sein scheinen.

Guggisberg, Anders

Gestammelte Werke 1 & 2

Beitrag von Lutz & Guggisberg

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Inkjetprint, Holz. Je 19,5 x 14 x 4,5 cm. Privatbesitz.

 

Gurtner, Othmar

Schlechtwetterfahrten

Der Altmann

Eine wilde Sturmnacht hat sich über die Berge gelegt und jauchzt um die Wette mit dem tollen Springinsfeld, dem Brülbach. Der Raum ist erfüllt vom Tosen und Rauschen: entblättert zittert der Wald, die Tannen am Berghang schlürfen und taumeln im rhythmischen Schwingen des nächtlichen Sanges. –

Einsam wandere ich durch weite Wiesen und herbstlichen Wald am glucksenden Bächlein entlang dem Brültobel zu. Über der Ebenalp hasten emsige Wölklein landaus und verdunkeln zeitweise die grosse blasse Mondscheibe. In breiten Streifen klettert das Licht am Kamor. Dazwischen kauern schwer die Schatten und werden mitsamt den finsteren Tannenkeilen zu drohend ausgereckten Gespensterarmen, die frech nach dem herrlichen Lichte am Grat greifen. Fast scheint die düstere Macht zu siegen; mehr und mehr hängt sich Wolke an Wolke – schon spannt sich ein wulstiger Kragen über den Alpstein, – ein Mantel mit unendlich getürmten Vorstössen, schwarzschleppenden Schleifen und Fransen. Aus schmalen Ritzen funkeln ein paar Blinzelsternlein gar schüchtern herab auf das sturmgepeitschte Bergland. – Jetzt hat das Brültobel all das verschlungen, – die Wolken, den Mond – und auch mich; nur der Bach rauscht im ewigen Takte sein Reiselied.

Im Tobel bin ich geschützt vor dem rauhen Föhnsturm. Doch ängstigt mich das hohle Sausen und treibt mich bergan, bis der Schweiss in Tropfen auf der Stirne steht. Hoch über der Schlucht kollern und poltern tausend koboldische Geister und johlen mir die Ohren voll mit ihrem nichtssagenden, einförmigen Schnauben, das doch so eindrucksvoll auf mich eindringt. Wohl suche ich es zu deuten. Doch kaum sind die Sinne darauf gerichtet, so flackert das tobende Raufen der neckischen Teufelchen zu erneuter heftiger Wallung auf, und im Taumel des Sturmes reisse auch ich mich zusammen und haste tappend den einsamen Holperweg bergwärts. Als Wohltat empfinden die erregten Gedanken das abwechslungsreiche Suchen des Weges; bald bin ich ein leichtlebiger Wandergesell, dann wieder ein Träumer, den Blick in das Dunkel gerichtet, – die Gedanken Gott weiss wo zerstreut …

Da rüttelt der Föhnsturm mich wach. Weg fliegen Gedanken und breitausgesponnene Träume. Hart fällt der Wind mich an und vermehrt mit seinem heissen Atem die Schrecken, die rings im stumpfen Dunkel kauern, und unsichtbar, doch geahnt, mit Riesentatzen zu wuchtigem Schlage ausholend, über mir schweben. Und jetzt – oh Schreck – kommt gar Leben ins Astwerk des Waldes. Das Schwingen und Biegen wellt sich von Baum zu Baum, und bald wähne ich Riesen zu sehen, bald hässliche Zwerge, und plötzlich, – eiskalt läuft’s mir über den Rücken – huii-sss – stösst ein wirbelndes dunkles Etwas vom Walde her auf mich zu. Schon fasse ich fester nach meinem Stock und starre entsetzt in das Dunkel, – da schnaubt es vorbei, streift hart meine Schulter und wirft mir kalten Schreck in die Glieder. Kaum wage ich umzublicken; und doch …, – da muss ich fast lachen, ein harmloses, dürres Stacheltännlein hat mich dermassen geängstigt, nur weil es vom Föhnsturm erfasst und im Wirbel an mir vorübergetragen wurde. – Schaurig öde und verlassen liegt die endlose Ebene der Sämptiseralp. Am schwarzen Bergsee entlang schleiche ich hinüber zu den Hüttendächern am Berghang. Ein schmaler Steg überbrückt den Bach. Mitten über dem Wasser sucht mich der Sturm mit ausgesuchter Tücke zu werfen, und wie ihm das nicht gelingt, bläst er seine Pausbacken leer, wütet und tobt, und presst sich mir in den Hals, so dass ich kaum Luft schnappen kann. Vorwärtsgebeugt renne ich gegen den Wind …

[…]

Ich sehe keinen [der drei Alpsteinseen]. Auf der Meglisalp wedeln zerzauste Drachenschwänze, und am Hundstein bäumt sich der wogende Leib. Und auch vom engen Felstal von Fählen zuckt ein gieriger Drache empor. Über der prallen Mauer der Freiheit stossen und fauchen die grauen Dämone und zischen mit dunstigem Brodem weithin über Grat und Tal. Auch im Toggenburg ein Gewühle und Rollen von buckligen, formlosen Massen. Rings Sturm und Toben, – inmitten der grauen Nebelschlacht der Altmann, ruhig und stark. Er ist der Lenker der Schlachten. Ihn umhüllt keine Wolke, und fest und sicher zügelt sein Felsarm das launische Aufbäumen der Tiefe.

Hartmann, Jakob

Das Vorspiel des Lebens

Nun zog der Herbst in mein Jugendland. Undurchdringliche graue Nebel lagen über dem See, auf dem die Nebelhörner heulten. Dieses Heulen tat mir weh, denn ich ahnte eine Gefahr, zwar nicht für mich, aber für andere Menschen, die auf den Schiffen das Nebelmeer durchfuhren. An manchen Tagen zerteilte sich gegen Mittag der dichte Schleier über dem See und der Landschaft, und von leuchtenden Sonnengeländen grüsste mein Wunderland zu dem entzückten Joggeli nach Felsberg herüber. O ihr lichtgetränkten Strandbilder, wie oft hat meine erwachende Seele sich gesonnt und belebt an der Überfülle von Schönheit und göttlicher Herrlichkeit, die sich da dem freudetrunkenen Auge offenbarte. Über den Steinbrüchen im Moos erhebt sich der Rossbüchel, später mit dem moderneren Namen ‹Fünfländerblick› belegt. Gegen die Mitternachtseite verbindet ein langer Dämmerstreifen badisches, württembergisches und bayrisches Land mit-
einander. Tief im Nordwesten beginnend, endet er beim Eiland der Stadt Lindau und strebt über dem Gebhardsberg weiter, um sich in den dunklen Forsten des Bregenzerwaldes zu verlieren. Als ich an einem dieser selten schönen und erhabenen Herbsttage diese Lande überschaute und meinen Blick über Hochmatt schweifen liess, sah ich ein Gewimmel mächtiger Gräte und Rücken, die einen gewaltigen Gebirgsstock emporhoben, der den fünf Ländern weithin seinen Gletscherfirn zeigte und wogiges Hügelland und strömende Bäche von sich ausstiess. Dieser Gebirgsstock unterbricht gegen Westen den Lauf der Bergeslinie des Alpsteins. Aus diesem fernen Bergland kam eines Abends ein rüstiger Fussgänger geschritten. Auf einem ‹Rääf› trug er ein kleines, bemaltes Komödli und erkundigte sich nach der Behausung des Deckers Heinrich Tanner. Nachdem er sie gefunden, stellte er die Bürde auf die Ofenbank, öffnete nach kurzer Begrüssung die beiden Schubladen und entnahm ihnen drei Paar Holzschuhe. Mir schenkte er einige hölzerne Kühe und der kleinen Schwester Elisa eine Holzpuppe und ein Bettstättlein; alle diese Dinge waren das Werk seiner Hände. Dieser kleine, besetzte Mann mit dem grauen Kranzbart und der ausrasierten Oberlippe war mein Grossvater väterlicherseits, der den weiten Weg aus seiner rauhen Bergheimat zu uns zu Fuss gemacht hatte. Trotz seinen 65 Jahren reichte das volle, gebleichte Lockenhaar bis an die Schläfe, nur sein Körper war von harter Arbeit vornüber gebeugt. Die Tanner waren ein zähes Geschlecht und geschickt zu mancher Hantierung und voll gesunden, sprühenden Witzes. Mein Grossvater erzählte, dass auf seinem Heimeli drei Kühe und zwei Geissen Atzung fänden, und dass er sich im Sommer mit Zimmerarbeit und im Winter mit Holzschuhmachen befasse. Daher nannte man ihn zu Hause den ‹Holzbodenruedi› und zufällig lag auch seine Behausung im Holzboden in der Gemeinde Schönengrund. Bevor er an diesem ersten Abend zu Bette ging, nahm er ein kleines, abgegriffenes Buch aus seiner inneren Westentasche, – die Weste war aus rotem Scharlach und hatte beidseitig silberne, achteckige Knöpfe –, und las aus dem Psalter eine seelische Stärkung vor, wie er es nannte. «David war der erste und grösste Dichter und er verstand es, wie kein zweiter, die Saiten und Stimmungen der Seele zu berühren», sagte der Grossvater. Zuletzt sprach er ein kurzes Gebet mit dem Schlusssatz: «Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» Drei Tage blieb der Grossvater bei uns, und als ich zutraulicher gegen ihn wurde, erzählte er manche Geschichte, die sich im Bereiche seiner Heimat zugetragen. Indessen rühmte er auch unser Land, der See und die Reben hatten es ihm besonders angetan. Er wusste es bisher nicht, dass es in unserem rauhen Bergland reife, blaue Trauben gebe, die man essen konnte, ohne an Essig oder Holzäpfel zu denken. Am letzten Nachmittage, ehe die Sonne zur Rüste ging, kam noch eine ersehnte Gelegenheit, dem guten Grossvater mein Wunderland zu zeigen. Die Nebel hatten es freigegeben, wie man einen Gefangenen freilässt, und ich führte meinen Vorfahr auf einen Aussichtspunkt, die See-Ebene, von den Felsbergern ‹Seebeli› genannt. Dort wies ich ihm die Herrlichkeiten, welche meine kindliche Phantasie mit Wonne und keimenden Hoffnungen erfüllten. Der Grossvater zündete, behaglich auf einer Beige gefällten Holzes sitzend, sein ‹Lindauerli› an, und ich ergriff die gute Stimmung und hob das Land meiner Sehnsucht zu schildern an. Beim Gebhardsberg mit seinen rotkahlen Felsen beginnend, wies ich auf die weissen Bauten von Friedrichshafen und Meersburg hin, dieser letztere Name allein genügte, um ein Märchenreich aufzubauen. Zum Schlusse meiner begeisterten Betrachtung zeigte ich dem teilnehmenden Grossvater einen weithin schimmernden Streifen Wassers, indem ich mit ausgestrecktem Arm auf jene blinkende Stelle hindeutete: «Grossvater, der Tobias hat gesagt, dort weit unten sei die Stadt Konstanz, und dort führe die silberne Strasse ans Ende der Welt.» Mein Grossvater war ob dieser Aussage erstaunt, indem er sagte: «Büblein, du weisst viel für dein Alter, aber so viel ich merken kann, muss das der Rhein sein, der dort aus dem Bodensee kommt und seinen Weg, um manche Klafter breiter geworden, allein weiter reist. Eine Strasse kann es nicht sein, einmal keine Landstrasse. Aber wart – der Tobias hat da ein Gleichnis gebraucht, er hat eine Wasserstrasse gemeint. Ja, dann hat er recht, dann führt sie ans Ende der Welt.» Indem ich dem lieben Grossvater in die milden, braunen Augen und in sein faltiges Gesicht sah, ahnte ich ein klein wenig von der Grösse und Erhabenheit dieser Wasserstrasse, die Länder und Meere miteinander verbindet. – Bald senkten sich düstere Abendschatten über die fernen Sonnengestade, finstere Nebelschwaden krochen drohenden Ungeheuern gleich, Wasserstrasse und See verhüllend, einher, und als ich, von Grossvater geführt, heimwärts zog, stöhnten die Nebelhörner, als lauerten Tod und Untergang in den Tiefen des Wassers.

Häusermann, Pascal

Übermalen des 
europäischen Protokolls

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Tafel 9 aus der 24-teiligen Serie Skizzen eines Gringos. Aquarelle und Tusche 
auf Xerokopie. 42 x 30 cm. Kantonale Kunstsammlung Appenzell Ausserrhoden.

Heer, Gottlieb Heinrich

Die Königin und 
der Landammann

Nun stand er da in der bergenden Ruhe dieses traulichen Raumes und war bereit, noch einmal Hortense Beauharnais zu sehn und zu sprechen. Er wusste, dass diese Einladung ein Abschied bedeutete, und er war auch darauf gefasst und bereitet. Wohl warf dieser Abschied gleich dem Abend ein paar schwere Schatten drohender und endgültiger Aufwühlung und Schmerzlichkeit über ihn hin; aber er wusste sich der ewigen Gesetzmässigkeit, die Abend auf Nachmittag und Nacht auf Abend folgen liess, nun zu beugen. Denn auch Hortense beugte sich ihr in ihrer Weise, das fühlte er stark, und darin einzig lagen ohne Zweifel die Deutung und auch die Not ihrer Entferntheit begründet.

Der Landammann riss sich gewaltsam los aus der Stille. Er trat an den Tisch und griff nach dem Degen, um ihn sich umzugürten. Aber in plötzlichem Erstaunen liess er ihn wieder fallen, indes er auf die Türe starrte, die in den Treppenflur hinausführte. Ihm war, er habe dort ein Pochen gehört. Im bestimmten Gefühl, einer Täuschung erlegen zu sein, schüttelte er den Kopf und langte erneut nach dem Degenknauf.

Aber da pochte es zum zweiten Male, verhalten und dennoch wie ein drängendes Mahnzeichen um Einlass begehrend. Der Landammann öffnete gespannt und ein wenig befremdet über die ungenehme, versäumende Störung die Türe.

Da sie jedoch nach innen aufknarrte, trat er mit einem Ruf der Überraschung einen Schritt zurück, als dürfe er seinen Augen nicht trauen. Eilig schob sich die stark verschleierte und vermummte Gestalt der Königin ins Gemach. Sie schloss die Türe rasch hinter sich und schlug nun ihre Schleier zurück.

«Hoheit!» rief Zellweger verblüfft und verständnisfern aus, als könne er ihr unerwartetes Erscheinen noch immer nicht fassen.

Hortense lächelte sichtlich verlegen und etwas ausser Atem. Sie war hastig die Treppen emporgestiegen und hatte sich von einer Magd des Landammanns Zimmer weisen lassen. Noch ehe sie jedoch ein Wort hervorbrachte, ergriff nun Zellweger ihre beiden Hände, noch stets erstaunt und doch im Gefühl einer unverhofften Freude. Er geleitete sie zum Lehnsessel am Fenster.

«Verzeihn Sie, Herr Landammann, dass ich Sie so unvermutet und zu ungelegner Stunde hier überrasche», sagte sie endlich sich beruhigend.

Zellweger beeilte sich, ihr zu versichern, Ihre Hoheit zu empfangen sei keine Stunde ungelegen. Er setzte sich ihr gegenüber und betrachtete sie besorgt.

«Ich hoffe, dass kein beängstigender Grund Sie zu mir führt», fragte er etwas unsicher und mit dem Blicke ihre seltsame Vermummung streifend.

Hortense lächelte erneut, indes sie nun ihr Haupt ganz von der Verschleierung befreite. Sie legte ihre Hand auf die Rechte Zellwegers, die ihr entgegentastete, und schaute ihn offen an. Ihre Augen kreisten schmerzlich erglänzend.

«Fürchten Sie nichts», begann sie langsam und sich ihm zuneigend. «Ich habe es mir lange, sehr lange überlegt, wie ich ungestört mit Ihnen sprechen könne. Arenenbergs Wände und Türen sind vor Lauschern nicht sicher, und was wir uns zu sagen haben, gehört uns allein. Deshalb kam ich zu Ihnen.»

Zellweger küsste dankend ihre Hand, die unter seinen Lippen leicht erbebte.

«Wir wollen miteinander reden wie zwei liebe alte Freunde», fuhr sie fort. «Das sind wir doch nun schon, nicht wahr, Herr Zellweger?» Sie schürzte den Mund, wie um Verstehn und Verzeihung flehend. Es schien ihr jetzt doch ein wenig Mühe zu schaffen, sich zu erschliessen. Ihr Blick irrte über die Behänge des Alkovens und in die Tiefe des Raumes.

«Ich hoffe, wir werden es bleiben, Hoheit», erwiderte Zellweger, den eine Beklemmung bedrängte. Er ahnte, was ihr auf dem Herzen und in der Seele lag, und er vermochte doch nicht von sich aus das Gespräch auf jene Dinge zu lenken, die sie wahrscheinlich rasch entlastet hätten. Zu sehr fühlte er in diesem Augenblicke seine Schuld an ihnen. Nach einem verhaltenen Schweigen fand Hortense wieder sichere Worte.

«Glauben Sie nicht, lieber Freund, dass ich Sie missverstanden hätte. Im Gegenteil, Ihre Werbung hat mich im tiefsten Herzen geehrt und gefreut …»

«Nehmen Sie sie als das, was sie ihrem Sinne nach bedeutet und einzig zu bedeuten vermag, Hoheit: als ein Zeichen einer grossen und in ihrer Grösse beinahe vermessenen Liebe …», fiel Zellweger ein, und er hob ergeben die Arme, als müsse die Gebärde das Wort und seine Gründe verdeutlichen, er habe gehandelt in Not und Zwang des Herzens.

Hortense richtete den Blick wieder ruhig und warm auf ihn. Ein bitterer Zug umschattete ihren Mund. Sie nickte bedeutungsvoll und um Nachsicht bittend:

«Deshalb eben quält es mich, Ihnen vielleicht weh tun zu müssen …»

«Die Liebe ist gross genug, um dieses Weh auch zu ertragen, Hortense!» versicherte der Landammann sich überwindend. Seine Stimme klang fest und überzeugend.

«Wäre ich als Frau befugt, nach meinem Sinne und nach meiner Neigung zu handeln, weiss Gott, ich hätte Ihre Hand dankbar und gerne ergriffen», sprach die Königin nun lebhafter weiter. Sie fühlte sich erleichtert im Bewusstsein, das Schwerste sei gesagt und verstanden.

«Aber mich binden Pflichten, Herr Landammann, und einzig diesen Pflichten weicht der verlockende Wunschtraum der Liebe. Nichts anderem, glauben Sie mir! Glauben Sie es dem Herzen, das Ihnen Ihre Gefühle erwidert und das Ihnen ewig dankbar bleibt für eine seltene und erlösend schöne Gabe … Aber ich bin nicht vom Schicksal begnadet, erlöst zu werden …»

Sie senkte den Kopf, und eine schillernde Feuchte umkroch ihre Augen. Der Landammann nahm ihn unwillkürlich zwischen seine Hände, um ihn zu halten. Über seine Finger quoll die helle Flut ihrer Locken. Er lächelte qualvoll betroffen: es war, als müsse er ihr nun zu Hilfe kommen gegen sich selbst.

Hortense kämpfte die augenblickliche Schwäche tapfer nieder. Sie löste leicht Zellwegers Hände von ihren Schläfen und hielt sie fest.

«Es sind die Pflichten der Mutter, die mir die Erfüllung eines ureigensten fraulichen Wunsches verbieten», sagte sie. «Mein Kind hat das einzige Anrecht auf mich, weil es mich braucht. Ihm sind vielleicht Wege vorgeschrieben, die ich ihm zu ebnen habe, weil andere sie ihm sonst versperren möchten. Ich muss mich dieser Aufgabe opfern. Mein Leben fordert das von mir. Wenn ich diese Forderung überhöre oder nicht erfülle, hat mein Leben seinen tiefen Sinn verloren, und ich stehe als Schuldige vor meinem göttlichen Schicksal …»

Hortenses Blick starrte an Zellweger vorbei in eine unsichtbare Ferne. Der Glanz ihrer graugrünen Augen bekam nun im Kerzengeflacker einen weithinstrebenden Strahlenkreis. Die mütterliche Sendung leuchtete klar aus ihm. Hortenses Gedanken schienen nur noch um die Gestalt ihres Sohnes sich zu schlingen und alles andere in ihr auszulöschen.

Der Landammann lauschte gespannt und ergriffen, ohne sie zu unterbrechen, was sie ihm anvertraute. Das sprach nicht mehr die Frau, die er liebte, nicht mehr der zarte spielende Mund, dem er einst glutvoll verfallen war, das sprach die von ihrer Aufgabe überzeugte und zu jedem Kampfeinsatz bereite mütterliche Königin: «Ich muss Louis auf alle Fälle den Weg zum Throne Frankreichs bereiten, den andere, Unberufene erstreben. Ist aber noch einmal ein Bonaparte dazu ausersehn, die Geschicke der Heimat zu leiten und über sie zu herrschen, so ist es mein Sohn! Diese Gewissheit lebt als heilige Überzeugung in mir. Noch sind die Möglichkeiten nicht abzusehn und auszuwägen; aber die Schicksale der Länder haben ihre eigenen, oft dunklen Werdegänge. Es gilt, sie zu verfolgen und wachen Sinnes sie zu begleiten, damit nicht im Augenblicke der Entscheidung das zupackende Werkzeug der ungeübten Hand entfällt …»

Der Landammann lauschte mit wachsendem Erstaunen, weniger über das, was er hörte, als über sich selbst … Wie aus einer fremdgewordenen Vergangenheit, die er längst abgeschlossen, dämmerte ihm die Erinnerung an eigene Worte herauf … Hortense Beauharnais ist eine gefährliche, eine politische Frau … Er schloss kurz die Augen, und er fühlte so doppelt heftig die Wärme, die von ihrer Hand in die seine hinüberströmte. Ihm war, er müsse sie zurückziehn, aber er brachte die Kraft dazu nicht auf. Er lauschte weiter diesen Worten, die ihn früher ganz ohne Frage in die feurigste Auflehnung, in die schroffste Abwehr getrieben hätten. Das wusste er, und er überdachte es auch; aber der Gedanke besass keine Macht mehr über ihn. Er prallte ab, wie unverstanden und fremd, und schien einem nicht mehr wirkenden Leben anzugehören. Es gab da eine tote Vergangenheit, eine Vergangenheit seltsamsten und kaum mehr erklärlichen Hasses, und die Liebe wandelte das Leben und den Menschen bis ins Tiefste um … Der Landammann begriff noch kaum, wie er das alles nun verstand, im Zwange des Blutes verstehn musste, was die Königin ihm eröffnete und warum es ihm als lebenswichtige Selbstverständlichkeit für sie erschien und notwendig im Werden und Vergehn der Dinge beschlossen.

Hefti, Jakob

Anna Koch, das Mädchen von Gonten

Fünfter Akt. Vierte Szene
(Kochs Stube.)
Erster Auftritt
(Wenn der Vorhang in die Höhe geht, ist die Bühne einen Moment leer.)
Nann: (Von draussen.) Mutter, Mutter, mach mir auf!
Frau Koch: (Mit einem Licht in der Hand.) Was ist das? Wer ruft noch zu so später Stunde?
Nann: Ich bins, Mutter, mach mir auf!
Frau Koch: Jesus Maria! (Öffnet.) Nann, du! Komm! Wie du mir Angst gemacht, als ich vernommen, du seiest vor zwei Tagen im Rathaus auf und davon. Ich glaubte schon, du hättest dir ein Leid angetan. Den ganzen Tag habe ich für dich gebetet, so angst war mir. Und noch heute meinte der Vater, du wärest leicht genug dazu.
Nann: Ach, Mutter, ich wollte, es wäre so, dann wäre alles vorbei.
Frau Koch: Kind, red’ nicht so schlecht, du bist ja jetzt daheim, und sie werden dich bald wieder frei lassen müssen. Warum bist du fort gesprungen?
Nann: Ach, Mutter, ich hielt es nicht mehr aus. Wie das all’ die Nächte mich quälte und folterte. Das einemal erschien ein wildes Tier, das mich mit glühenden Augen verschlingen wollte, dann wieder kam ein böser Mann, der über die Bettstatt hing und mich erwürgte. O, Mutter, das ist schrecklicher als der Tod. Und wenn ich darüber nachdachte, wie Bisch letzten Herbst, als ich ins Wasser springen wollte, mich zurückhielt und mich tröstete und nun als Dank solche Qualen ausstehen muss, da komme ich mir so schlecht und verworfen vor. Mutter, es ist furchtbar, wie sie ihn quälen und schlagen, und einmal haben sie ihn in den Bock gespannt. Des Nachts habe ich ihn oft so inständig beten gehört, dass er mich erbarmte, und ich meinte, ich müsse ihn erlösen.
Frau Koch: Und wo warst du jetzt die Tage.
Nann: Am ersten Tag ging ich nach Eggerstanden und übernachtete im Bären.
Frau Koch: Ums Himmelswillen!
Nann: Du musst nicht erschrecken, sie hatten mich nicht erkannt. Am Morgen ging ich fort, ehe sich jemand regte, und mit dem Tagesgrauen war ich am Rhein und fuhr hinüber ins Vorarlbergische. Im Rankweiler Kloster wollte ich mich absolvieren lassen und dann einen Dienst suchen. Aber der Pfarrer wies mich ab. Ich ging dann nach Feldkirch zu Bauer Hofer, von dem wir schon oft Vieh im Lehen hatten. Die Leute nahmen mich freundlich auf, und ich hätte dort bleiben können. Aber schon war mir wieder alle Lust vergangen, und ich kehrte um und eilte hieher.
Frau Koch: Du dummes Ding, warum bist du nicht dort geblieben. Jetzt wärest du allem los.
Nann: Ach, Mutter, ich hätte doch keine Ruhe gefunden. Und was der Hochwürden in Rankweil zu mir gesagt – es zwingt mich dazu – Mutter, ich muss hingehen und alles bekennen.
Frau Koch: Nann, bist du verrückt geworden! Du willst dich selber aufs Schafott liefern? Kind, Nann, diese Schande willst du uns antun?
Nann: Ha, Mutter, mir schauderts! – Nein, ich bekenne nicht.
Frau Koch: Kind, ich beschwöre dich, sprich so etwas nicht mehr aus. Wenn es jemand hört, dann bist du verloren.
Nann: Aber, Mutter, der Beichtstuhl! Ich bin nicht absolviert worden und werde es mein Leben lang nicht mit dieser Schuld. Und der Pfarrer sagte, wer ohne Absolution sterbe, der sei der Hölle verfallen.
Frau Koch: Sei nicht so närrisch, Kind, der Pfarrer glaubt das selber nicht. Ich selbst hörte einmal, wie er sagte, es sei ein Unrecht zu sagen, die Ausserrhödler werden verdammt, der liebe Gott werde das schon machen. Die Reformierten sündigen auch, beichten auch nicht und sterben auch ohne Absolution.
Nann: Und kommen nicht in die Hölle?
Frau Koch: Das weiss der Herrgott, wir nicht!
Nann: Wenn das wahr wäre, Mutter – aber Bisch, was wird mit ihm? Dann werden sie ihn köpfen, und das darf niemals geschehen, hörst du, Mutter, niemals.
Frau Koch: Es geschieht auch nicht! Sie dürfen ihn nicht köpfen, darüber darfst du beruhigt sein. Er hat ja nichts gestanden, gesehen hat es niemand, somit können sie ihm nichts beweisen.
Nann: Aber sie werden ihn gefangen halten. O, Mutter, du kannst nicht glauben, wie furchtbar sie ihn schon gequält haben.
Frau Koch: Das dürfen sie nicht länger, wenn er nicht gesteht.
Nann: O, die Herren wagen viel. Haben sie nicht Landammann Suter auch verurteilt und getötet ohne Geständnis.
Frau Koch: Das war damals etwas anderes, die Herren mussten Suter fürchten, den Gerersbuben aber nicht. Wenn sie nichts herausbringen, werden sie müde werden, sie werden sagen, die Lene müsse doch selber ins Wasser gefallen sein und lassen euch beide frei.
Nann: Das glaube ich niemals, Mutter! Sie wissen jetzt zu viel. (Weint.) Wenn du mir damals die Halskette gekauft hättest, wäre das alles nicht geschehen.
Frau Koch: Schweig jetzt davon, das lässt sich nicht mehr ändern; denk an die Zukunft. Dass du, nachdem die Flucht geglückt, wieder zurückkehrst, wird dich in den Augen der Herren entlasten. Du musst behaupten, du habest die Lene tot gefunden und den Bisch nur aus Angst angegeben. Dieser Ausgang wäre den Herren selber am liebsten. Glaubst du, es mache ihnen Freude, ein junges Mädchen zu töten? Ich komme morgen in aller Frühe mit dir und werde noch selber mit dem Weibel und dem Statthalter sprechen.
Nann: Ja, ja, Mutter, wenn das so leicht wäre, aber da drinnen, ob ich das niederringe, das mit so furchtbarer Gewalt in mir pocht. Ach, du glaubst gar nicht, wie schlecht ich mir vorkomme. O, wäre ich doch mit den Fluten des Rheines und läge im tiefsten Grunde des Bodensees – dann wäre alles vorbei.
Frau Koch: Kind, Nann, du sprichst schrecklich! Komm zur Ruhe, du bist erregt.
Nann: Ja, Mutter, – zur Ruhe – Ruhe –
(Der Vorhang fällt.)

Heim, Albert

Begleitwort zum Panorama 
des Säntis

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Nachdem ich im Jahre 1866 mein erstes Panorama vom Zürichberg, dann weiter: 1867 von der Grossen Mythe, 1868 vom Stätzerhorn und vom Pizzo Centrale, 1869 vom Ruchen-Glärnisch gezeichnet hatte, gelangte 1870 die Sektion St. Gallen des SAC mit dem Gesuche an mich, ein Panorama vom Säntis aufzunehmen. […] Im Oktober des gleichen Jahres weilte ich auf dem Säntis. Erst fand ich dort eine kleine Hütte mit Heulager. Der Bau des kleinen Gasthauses daneben ging rasch seinem Ende entgegen. Die Witterung war teilweise sehr gut. Ich zeichnete nach freiem Auge, sehr viel durch den Feldstecher, leider aber damals noch ohne eigentliche Vermessung, nur nach ‹Augenmass›. Keine Viertelstunde liess ich unbenützt. Oft konnte ich nur stückweise durch Nebellücken zeichnen. In den ersten Tagen November war ich zu etwa zwei Drittel vorangerückt. Wir waren in das neue Gasthäuschen umgezogen. Da waren eines Morgens Fensterläden und Türe eingeschneit und eingefroren. Es bedurfte langer Arbeit, bis wir uns befreien konnten. Günstige Witterung war für die nächsten Tage nicht zu erwarten. Der Winter war eingebrochen. Der Schnee fiel in Masse. Wir packten zusammen und flohen talwärts. Es war ein stellenweise schwieriges Waten. Erst im Juli 1871 konnte ich meine Arbeit wieder aufnehmen. In einigen Tagen war ich mit den Alpen fertig. Viel grössere Schwierigkeiten als das Gebirge bot das vorliegende Hügelland hinaus zum Bodensee und bis Schwarzwald und Jura. Bei hellem Wetter blieb dort alles in dunstigen Schleier gehüllt, meistens war keine Horizontlinie sichtbar. Wenn man auch teilweise Dörfer, Wiesen und Wälder unterscheiden konnte, verlor das Auge, das immer wieder von der Natur auf das Papier sehen musste, oft seine letzte Stelle in der Natur und musste wieder suchen, um fortzufahren. Aber endlich, bei einem vierten Besuch des Säntisgipfels, war der gewöhnliche Schleier über dem Tiefland verschwunden. Ich sah alles klar. Aber es wehte ein kalter Wind. Vom Gasthäuschen herauf trug mir die Meisterin jede Viertelstunde ein Becken mit warmem Wasser, so dass ich die Hände, die den Bleistift oft nicht mehr fühlen konnten, wieder zum Zeichnen erwärmte, und sie wickelte mich in Wolldecken ein. Es galt, an diesem Tage alles noch Fehlende von Lindau bis gegen den Hoherhonen fertig zu zeichnen, denn so günstig würde die Sicht vielleicht das ganze Jahr nicht mehr. Ich hatte nicht Zeit zum Essen. Man schob mir hie und da einen Bissen in den Mund. Es fing an zu dunkeln. Regenwolken zeigten sich. Ich zeichnete so schnell als möglich und wurde eben noch fertig. Nur die Horizontlinie des Jura blieb unsicher.

Im Ganzen weilte ich 1870 und 1871 in 4 Malen zusammen etwa 34 Tage auf dem Säntis. Davon waren etwa 10 Tage wirklich gut, so dass ich ohne Unterbruch arbeiten konnte. Etwa 15 Tage waren nur hie und da eine halbe Stunde brauchbar, und die übrige Zeit hüllte uns ständiger dichter Nebel ein. Solche Nebeltage benützte ich, um mich wieder gründlich von der steifen Haltung des Zeichnens zu erholen, indem ich beim Gasthausbau oder beim Herauftragen des Baumateriales vom Lagerplatz bei der Wagenlucke oder an der Wegverbesserung mithalf. Dadurch erwarb ich mir von Seiten des Hausmeisters Andreas Anton (‹Restoni›) Dörig den dauernden Beinamen ‹Chnechtli›, und ich nannte ihn Meister. Die Führer, die oft mit Touristen heraufkamen, hiessen mich den ‹Zächner Albert›, und so wurde es bald in ganz Innerrhoden gebräuchlich.

Ich habe die schönsten Erinnerungen von meinen Aufenthalten auf dem Säntis. Alles bot mir Freude. Freude boten mir die blütenreichen Pflänzchen, die ringsum in den Felsen nisteten. Freude die Tiere. Bald flog mir ein schönes Käferchen auf das Papier, ein andermal lief mir ein Schneehase über die Füsse. Gämsen kamen oft auf wenige Schritte an mich heran und betrachteten mich ruhig. Häufig zeigten sich Wiesel. Die Bergdohlen umspielten in gewandten Wendungen den Gipfel. Ich habe oft erfahren, dass man bei langem, ganz einsamem, ruhigem Stillsitzen, wie es meine Zeichnerarbeit verlangte, die schönsten Dinge erlebt. An andern Orten konnte ich unter solchen Umständen die Murmeltiere beobachten. Einmal ist mir eine Gämse über den Kopf gesprungen und hat mir den Hut abgeschlagen, junge Schneehühnchen verbargen sich unter dem neben mir liegenden Regenmantel, und ein Adler hat einmal versucht, durch seinen Flügelschlag mich über die Felswand zu werfen. Unter solchen Umständen hört man das in manchen Gebieten fast unaufhörliche Gepolter der abstürzenden Steine, belauscht die Akkorde der tosenden Wasser, hört die entfernten Lawinen.

Freude boten mir die Menschen, besonders die Eingebornen: der Meister, seine Schwester und seine Frau, der damalige Meglisalpwirt und dessen Hausgenossen. ‹Restoni› ist mir ein lieber Freund geworden. Mit allen Führern verkehrte ich gerne, und schliesslich sprach ich gut innerrhodisch.
Aber die grösste Freude war immer die Arbeit selbst. Sich in die herrlichen Bergformen versenken, ihre Anatomie herauslesen, ihren Charakter erfassen, sie in ihren Eigentümlichkeiten und Zusammenhängen mit einfachen, klaren Strichen darstellen, ihre Beleuchtungen beobachten, den einen Tag die Erscheinungen des Alpenglühens geniessen, den andern Nebelbilder mit komischen Schatten und farbigem Ring verfolgen: das alles war Arbeit und Lust. Dazwischen gab es mehrere Male gewaltige Gewitter, dass uns der Boden unter den Füssen erbebte.

Und nun ein Wort vom Zeichnen selbst.
Der Benützer des Panoramas soll jeden Gipfel, auch wenn er ihn ohne Zusammenhänge nur durch ein Wolkenloch sieht, auf dem Bilde erkennen können, unabhängig davon, in welcher zufälligen Beleuchtung er ihn sieht. Der Panoramazeichner soll also nicht Beleuchtungseffekte zeichnen, sondern Formen ohne momentane Beleuchtung. Er soll nicht künstlerische Wirkung suchen, sondern wissenschaftliche Darlegung. Zu dieser Objektivierung kann uns nicht die Flächenzeichnung, sondern nur die Linienzeichnung führen. Die Mannigfaltigkeit der Bergformen ist unendlich. Es gibt, auch nur die oberen Teile des Berges betrachtet, nicht zwei Gipfel, die zu verwechseln wären. Dieser ungeheuren Mannigfaltigkeit und Individualisierung soll auch das wissenschaftliche Bild gerecht werden. Der Zeichner muss jeden einzelnen Berg in den mannigfaltigsten Beleuchtungen sehen und studieren. Nicht um ihn in einer dieser Beleuchtungen darzustellen, denn der Benützer des Panoramas sieht ihn vielleicht in einer ganz anderen, wohl aber um den Berg in seiner ganzen Gestalt zu verstehen und seine Form dann unabhängig vom vorübergehenden Effekt darstellen zu können. Um so ein richtiges, stets gültiges Bild des Berges zu erhalten, dürfen wir nicht mit Schatten und Licht zeichnen, denn diese sind das Kind des Augenblickes. Aber Schatten und Licht, beobachtet in den verschiedensten Sonnenstellungen, lassen uns die Kanten und Furchen und die Profilform erkennen. und diese müssen wir als Linien zeichnen. Dabei gibt es je nach der Entfernung Linien erster, zweiter, dritter usw. Ordnung zu berücksichtigen und ihre Bedeutung für die Bergform durch die Strichstärke zu unterscheiden. Jede Linie in der von mir gesuchten und befolgten Zeichnungsart – dabei sehe ich von den vordersten Bergen ab – soll Bodenform bedeuten und beschreiben. Keine soll nur dem Beleuchtungseffekt, der Schattierung dienen. Die Bodenform bietet uns meistens genug Linien. So gewinnen wir das für jede Beleuchtung brauchbare Bild, in welchem man auch die Dinge sieht, die zeitweise im tiefen Schatten verborgen sind. In der Zeichnung der vordergrundlichen Berge freilich kommen wir ohne eine gewisse Schattierung kaum aus. Hier aber schadet diese auch nicht im Erkennen des Berges und stört nicht, sondern hilft der wirklichen Formdarstellung.

Um eine panoramatische Gebirgszeichnung zu prüfen, kann man folgenden Versuch machen: Man schneidet aus einem Papierblatt ein rundes Loch etwa von der Grösse einer kleineren Münze. Man legt das Papier auf das Bild. Ist das Bild gut gezeichnet, so wird ein Kenner der Berge sofort den Gipfel erkennen, der in dem Rahmen isoliert sichtbar ist. Auch abgesehen von der Umgebung soll im Bilde so gut wie in der Natur jeder Gipfel seine Individualität zeigen. Das Experiment kann also sowohl zur Prüfung des Zeichners als auch des Betrachters dienen.

Die plastische Wirkung der Einzelform und sogar das Bild der ungleichen Entfernungen kann man tatsächlich durch die blosse Linienstärke gewinnen. Man kann sie aber auch wesentlich verstärken und dadurch das Bild leichter erfassbar gestalten, wenn man die Linienzeichnung noch unterstützt durch einen glatten, neutralen Ton – ‹Schummerung›, nicht Schraffierung! Einen solchen Ton darf man auch bescheiden benützen zu Beleuchtungseffekten, zur Unterscheidung von Wald, Wiese und Fels. Ist nur die Linienzeichnung richtig und unabhängig vom Beleuchtungsmoment, so schadet eine zarte Schummerungsbeleuchtung nicht, bindet aber gut, was zusammengehört, und erleichtert das Erfassen der Form. Schon in der ersten Auflage des Säntispanoramas war ein solcher Schummerungston angewendet.

[…]

Ich will hier nicht auf eine Erläuterung der vom Säntis gebotenen Gebirgsansicht der Alpen und ihres Vorlandes eintreten. Darüber könnte man gar viel Merkwürdiges sagen. Ich will nur darauf hinweisen, dass der Säntis durch seine auf den Aussenrand der Alpen vorgeschobene Stellung und Höhe besonders begünstigt ist. Dazu ist seine Fernsicht doch noch mit unserem Blick und unserer Vorstellungskraft zu bewältigen, während das wunderbare Panorama vom Mont Blanc von Xaver Imfeld viel schwieriger zu erfassen und zu geniessen ist.

Hesse, Hermann

Reisebilder

Abfahrt

Der Untersee und unser kleines Dorf lag tief im dicken Herbstmorgennebel, als ich mit meinem Reisegefährten am flachen Ufer in den Kahn stieg. Wir ruderten dem Kompass nach rasch durch den milchig schimmernden Dunst über das dunkle, regungslose Wasser, und bald stieg mit spitzen Türmchen und langer Dächerflucht das gegenüberliegende Uferstädtchen undeutlich und verschlafen aus dem leis’ brodelnden Gewölk. Es war eine kühle Morgenstille in den sauberen Gassen, nur ein Bäckerladen hatte Licht brennen und wartete auf Zuspruch aus den behaglichen Häusern, die mit nebelfeuchten Erkern und geschlossenen Toren ohne Ungeduld den Tag erwarteten. Späte Dahlien, weisse und gelbe Buschastern blühten noch in einigen Gärten, und beim Bahnhof liessen ein paar Vogelbeerbäumchen ihre hellroten Fruchtbüschel leuchten.

Der Zug kam an und nahm uns mit, wir fuhren seelängs, doch ohne den See oder die schönen Hügel zu sehen, durch ein fremdes Nebelland und hatten nichts dagegen. Denn durch einen dichten Nebel der erwarteten Bergklarheit entgegenzureisen, ist ebenso ahnungsvoll schön und köstlich spannend, wie durch einen mächtigen Tunnel in ein fremdes Land einzufahren. Der Schaffner rief die Namen wohlbekannter Seedörfer, von denen wir nichts sahen, er rief Konstanz und Kreuzlingen und schliesslich Romanshorn und Arbon, und wären die Bahnhöfe und die einsteigenden Menschen nicht gewesen, so hätten wir vom Wechsel der Landschaft nichts bemerkt. So aber spürten wir ihn wohl.

Es ist merkwürdig: Wenn ich vom Untersee her weiter in die Ostschweiz hinein reise, habe ich stets das Gefühl, in ländlichere Gegenden zu kommen, obwohl eigentlich das Gegenteil wahr ist. Unsere Unterseedörfer sind so still wie möglich und schliesslich ist auch Konstanz keine Grossstadt, während von Arbon bis St. Gallen der Eindruck von Stadtnähe, Bahnverkehr und Industrie beständig zunimmt. Und doch erscheint es mir umgekehrt, und das liegt an den Menschen. Etwa von Romanshorn an fühlt man, dass andere Leute einsteigen, und diese Leute machen – Ausnahmen zugegeben – einen behaglichen und wohltuend phäakenhaften Eindruck. Sie steigen langsam ein, sie rufen noch auf der Treppe draussenstehenden Bekannten etwas zu und im Wagen grüssen sie und sind mit dem Schaffner oder mit den Reisenden schon im Gespräch, noch ehe sie Platz genommen haben.

So war es auch diesmal wieder. Ohne dass der Zug weniger rasch fuhr und obwohl Publikum und Land eigentlich keinen agrarischen Eindruck machten, fühlte man eine freundliche Verlangsamung des Tempos, lediglich auf Grund des Dialekts, der Gestalten, Gesichter und Gesten. Etwas Munteres und Lebensfrohes klang auf, aber ohne jede Hastigkeit. Zwischen den Rorschachern, St. Gallern und Rheintalern tauchten auch schon manche Appenzeller auf, und je mehr ihrer wurden, desto behaglicher und frohsinniger wurde es in unserem Wagen. Es dauerte nicht lange, so waren wir mit ins Gespräch gezogen und wurden über Herkunft und Reiseziel freundlich und ohne lästige Neugierde befragt. Scherze und gute Wünsche wurden uns nachgerufen, als der Zug schliesslich in St. Gallen hielt und alle auseinandergingen. Hier begannen wir uns die Weiterreise zu überlegen. Wir wollten ohne feste Route ein paar Tage schön verschlendern, und da gerade die Strassenbahn nach Trogen zur Abfahrt bereitstand, stiegen wir ein und fuhren in einem schönen, bequemen und hellen Wagen durch die Stadt und langsam bergauf.

Noch immer steckten wir tief in Nebeln, doch drang uns aus der Höhe schon wärmeres Licht und eine Ahnung von blassem Blau entgegen, und im Berganfahren erlebten wir das alte, freudige spannende Spiel, das Wogen und Verzagen der weissen Massen, das Auflachen und Versteckspielen eines blauen Stückleins Himmel, den Kampf der Sonne mit der Trübe und ihren stillen, herrlichen Sieg. Oben beim Vögelinsegg erreichten wir endgültig die klare Höhe, sahen einen glänzend blauen Mittagshimmel über herbstklare Fluren lachen und atmeten frische, durchsonnte Luft. Und nun fuhren wir rasch und fröhlich ins Appenzell hinein, durch ein reinliches und fröhliches Land mit lichten, vielfenstrigen sauberen Häusern und heiteren Menschen, bis zur Station Trogen, wo die Strassenbahn ein Ende hat und wo wir unsere Wanderschaft beginnen wollten.

Hohl, Ludwig

Bergfahrt

Erster Anstieg

Am Vormittag vollzieht sich der erste Anstieg durch den lichten Bergwald auf einem in Serpentinen angelegten Weg, über einen langen und steilen Hang, einen von Licht und Luft durchflossenen, der in Kühle noch und in erster Wärme steht zugleich. Voran geht Ull, hinterher der lange, hagere Johann, aber sie schreiten nicht auf dieselbe Art: gebückt wohl beide, der erste jedoch in etwas höherem Masse, mit geschmeidigeren, fast etwas nachlässigen Bewegungen: er ist ein guter Berggänger; der zweite dagegen hat nichts Geschmeidiges, er arbeitet mit Kraft, als ob er dem Berg harte Stösse versetzen müsse: ein schlechter Gänger.

Bald schon ist leichter Schweiss ausgebrochen; es drücken die Riemen der schweren Säcke, eine Stelle an den Schuhen, am Gürtel oder anderswo; bei dem gleichförmigen Geräusch der kratzenden Nagelschuhe, der Pickelspitze auf dem Gestein und rollenden Geschiebes, bei dem scheinbaren nicht Höherkommen, gleicht das mühselige Begehen des Wegs dem von vielen, von hundert anderen. Aus der Tiefe das Murmeln oder leise Tosen eines Bachs, bald kaum hörbar, bald vernehmlicher. Eine Stunde, zwei Stunden lang, mehr – und es scheint, der Aufstieg dauere ewig.

Aber auf einmal hat sich vieles geändert. Der Hang ist zu Ende, ist in eine Art breite Schulter übergegangen, die in rechtem Winkel zum Hang gegen die Gesamtflanke des Gebirges vorstösst, leicht ansteigend. Der spärliche Wald hat nun aufgehört; vor allem sind seine Laubbäume mehr und mehr durch Tannen ersetzt worden und diese stehen nur noch vereinzelt und von dürftiger Gestalt in Wiesen; man beginnt einzutreten in die Alpregion.

Schon haben sie tausend Meter unter sich gebracht. Eine weite Aussicht hatte sich eröffnet. Bei einer Quelle am Wege liessen sie sich nieder, einem kleinen Wässerlein, das über Felsen rann, inmitten eines breiten Rasenbandes, das der Weg querte, im Zickzack hinansteigend, dem Fuss einer grösseren und zusammenhängenden Felswand entgegen, die wenig weiter oben die Wiesenhänge ablöste. Die Wärme war nun gestiegen, Hang und Felsen strahlten eine eigentliche Hitze aus, kein Wind ging, und eine wunderbare Ruhe breitete sich über alles. Das Berggras ringsum, von herberem Grün, härter und zarter und weniger hoch als das fette Gras der Täler, lud zur Rast ein. Man blickte hinunter in den obern Teil des Seitentals, zu seinem kleinen Fluss und jenseits, wenig erhöht über ihm, einem wahrhaft träumenden Dörfchen; es sah so still, so rein aus, in so edler Friedlichkeit ruhend, wie keine Dörfer in Wirklichkeit sein können, wenn man schon Wirklichkeit jene Nähe nennen will, wo man mit einem Ding zusammen leben, es berühren kann. Und das Tönen des Baches oder kleinen Flusses – oder vielleicht noch verschiedener anderer Bäche – drang unaufhörlich, gedämpft und melodisch, aus der Tiefe herauf. Immer aber hier oben, neben den weichen, mit zarten Blumen geschmückten Rasenpolstern, die schönen, ewig ruhenden Felsen, die einen in bläulichen, schwärzlichen Schatten, die andern glitzernd, bebend fast unter der Gewalt der Mittagssonne, zitterndes Licht sendend.

«Wir haben Zeit genug; wir können hier eine oder zwei Stunden bleiben, wenn es uns gefällt.» Ull hatte seinen Rucksack geöffnet, zog einiges hervor. Johann hatte den Sack ebenfalls abgelegt, sass daneben und rührte sich nicht. Ull reichte ihm einen Becher des klaren Wassers, den er sofort leerte und zurückgab, und wieder rührte er sich nicht. «Willst du nichts zu dir nehmen?»

«Ich esse halt dann, wenn wir droben sind.»

«Wo droben? Was, zum Teufel, willst du damit sagen? Vielleicht in der Hütte – vielleicht morgen auf einem Gipfel?»

Ein Zucken mit der Schulter anstelle einer Antwort.

«Du weisst, dass für einen Bergsteiger viel davon abhängt, dass er sich nährt, und zwar von Anfang an.»
Er wollte noch hinzufügen: «Wenn du jetzt schon nichts issest, wirst du nicht durchhalten», behielt das aber für sich.

Es ist jedoch zu bemerken, dass Johann in seinem allgemeinen Leben ein starker Esser war trotz seiner Hagerkeit. In Paris in einem kleinen Restaurant bestellte er nicht selten zwei Menus auf einmal mit nur einem Gedeck; kaufte er sich am Nachmittag dreihundert Gramm Käse, den er in etwa zwanzig Würfel zerschnitt und im Nu vertilgte mit einer entsprechenden Menge Brot dazu. So hatte er am Vortage, als sie sich im Marktflecken verproviantierten, seine Augen auf Büchsen gerichtet, die ein Kilo Rindfleisch enthielten, und Ull riet ihm ab davon (weil solche Büchsen niemals in einem Mal aufzuessen und auch nicht aufzubewahren seien, also eine unnötige Belastung darstellten); nachher zeigte sich, dass er doch drei dieser Büchsen mitgeschmuggelt hatte. Wenn Johann einen Anfall von Melancholie hatte, was oft geschah, so pflegte dies keineswegs seine Fresslust zu vermindern, im Gegenteil. Und eben deshalb war Ull nun beunruhigt. Er versuchte es mit nochmaligem Zureden. Und wieder war die Antwort:

«Halt wenn wir oben sind.»

Dabei machte er eine hilflose Bewegung mit der Hand gegen das unermessliche, unüberblickbare Getürme der Bergflanke.

Von den hereinbrechenden Rändern

Wenn für irgend etwas, so gilt für sie, die Gesetze der besonderen, der subtilen, der scheinbar nebensächlichen (und von unserem Alltag aus gesehen wirklich nebensächlichen) Erscheinungen, das Wort: «Die Letzten werden die Ersten sein.»

Breit liegt unser Mittag um uns, die mittägliche Stadt in Schwere und Ausdehnung; am fernsten Rande der Himmel, als fast unnennbare Nuance, sitzt ein Wölkchen, man kann sagen, unwirklich; nur ‹Träumer› erspähen es: von dort her aber bricht es, das die jetzige breite Stunde ablösen wird, von dort her wird es brechen, das in kurzem stadtbeherrschende Gewitter. Es kommt, es wird nahen, es zerschmettert die Mitte.

Das menschliche Denken schreitet nicht so vor – und das nach und nach trotz aller Vergeudung dennoch ihm folgende menschliche Dasein schreitet nicht so vor –, dass aus dem heutigen Dicken, Breiten und Grossen, aus dem bewussten Allgemeinbesitz und aus dem, was anerkannt wird durch den ‹gesunden Menschenverstand› (womit etwas bezeichnet wird, das weder menschlich noch gesund noch verstehend ist), das Folgende käme, o nein! Die Mitte hat keine Kraft, sich zu erneuern, Herr Meier wird keine Kinder haben (was er freilich auch nicht nötig hat, da er selbst unsterblich ist, er, der ewige Hemmschuh; vor zweitausend Jahren war er schon so alt wie jetzt; er, dessen Funktion sich darauf beschränkt, die deutlichste Illustration zu sein jenes im menschlichen Bereich gewaltigen Gesetzes von der Vergeudung; er, das Fleisch und nicht der Sinn; Düsenflugzeuge – geschaffen durch Träumer, von denen der ärgste Leonardo war – sausen über seinen Kopf dahin und er merkt es nicht; beschäftigt mit seiner Lieblingsidee, dass, wie es immer war, so es sein soll: nie wird zum Beispiel die Menschheit eine Organisation zustande bringen, die die Möglichkeit des Krieges zwischen Nationen aufhebt: wir wissen das aus der Geschichte und brauchen nicht zu achten auf Träumer wie Kant und Napoleon und Einstein; der Mensch hat ja auch keinen Staat geschaffen, sondern wir leben noch wie die Horden von Neuguinea; und er fliegt nicht, da er dreitausend Jahre lang jedesmal herunterfiel; – er wird keine Kinder haben, braucht sie auch nicht, da er selbst unsterblich ist, Herr Meier, das ewige Loch und der breiige Abgrund). – Die Mitte hat keine Kraft, sich zu erneuern; das menschliche Entdecken schreitet nicht so vor, dass man vom Allgemeinen, dem von allen Gesehenen, ‹Wich­tigen› aus endlich zu den Randbereichen, den Nuancen gelangte, wo dann allmählich Verblassen und Auslöschen einträte; sondern umgekehrt: zuerst wird ein Neues gesehen in den Randbezirken, an den zerfasernden Orten der Nebenerscheinungen (einem niedlichen Dingelchen etwa, wie das Meer sie anschwemmt, kaum zu etwas gut, als dass die Kindlein damit spielen, Bernstein, von den Griechen Elektron genannt), des Subtilen, der unmerklichen Spannungen, des fast Unsichtbaren …, dort, wo der allgemeinen Meinung nach nur die ‹unpraktischen› und nebenhinausgeratenen Fachleute (wie z. B. Thales, als er sich mit der erwähnten farbigen Versteinerung abgab) sich beschäftigen können. Und dann … langsamer oder rascher, oft unmerklich und bisweilen auch in einem gewaltigen Ruck, schieben sich diese Nuancen-Entdeckungen in den Tag hinein, mehr und mehr der Mitte zu, beherrschen endlich die Welt.

Wäre ich verlegen um Beispiele? Verlegenheit kann hier höchstens daraus entstehen, dass der Beispiele zu viele sich herandrängen. Was war einst und was ist heute die schon erwähnte Angelegenheit der Elektrizität? Werden die Entdeckungen eines Planck, eines Einstein die Welt mehr verändert haben oder hundert Akademien und Landsgemeinden? Und der grosse Traum des Leonardo! (Man weiss, wie die Zeitgenossen sich über ihn äusserten: «Er ist ein guter Maler. Was er sonst im Dunkeln noch treiben mag –». Lächelnd, den Finger an der Stirn: «Er bildet sich ein, dass der Mensch sich in die Lüfte erheben könne! – Aber er ist ein grosser Künstler.»)

Wir gelangen nicht vom Allgemeinen zum Speziellen (abgesehen von untergeordneten Abschnitten), sondern (im Gesamten der Entwicklung) vom Speziellsten zum Allgemeinsten. Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein. «Seht, da kommt der Träumer her.» Morgen beherrscht er das Land. «Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist gesetzt worden zum Eckstein.»

Brot ist wichtig. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Die Fragestellung ist unvollständig: Das alte Brot wird ihm entzogen und er schafft neues.

Hätte man dieses Gesetz von den hereinbrechenden Rändern nicht immer sehen können, wenn man nur hätte beobachten wollen? – Die Sprache aber ist klüger: sie wagt es, wo es um Gebilde des Geistes, der Kunst sich handelt, von Schöpfung zu reden. Wo war dieses Wort sonst verwendet worden (an die Allüren heutiger Schneider, Haar- oder Tuchschneider, wird niemand denken wollen, sie haben mit Sprache nichts zu tun) als in der Geschichte von dem Anfang der Welt?

Hohler, Franz

Idyllen

Herisau

Das Casino ist ein gemeinnütziger Bau mit hohen Fenstern, 1838 erstellt und seither für kulturelle Zwecke benutzbar, beispielsweise spielt das Bernhard-Theater nächste Woche den Schwank ‹Der Pantoffelheld›, das Plakat verspricht Lachen! Lachen! Lachen! Auch der Jodlerklub probt hier, er ist gestern am Stammtisch gesessen; vor allem ist mir ein Mädchen mit aufgesteckten Haaren aufgefallen, von dem ich das Gefühl hatte, wenn es jodle, töne es ein bisschen gewürgt. Herisau ist keine Stadt, aber auch kein Dorf. Eine grössere ländliche Siedlung mit zentralen Funktionen gilt laut Schweizer Lexikon als ‹Flecken›. Trotzdem würde niemand die Frage stellen: Aus welchem Flecken kommen Sie?

Am Barometerstand von Herisau steht gleich neben der Höhenzahl eine Distanzentabelle, Paris 537 km, Berlin 640 km, Rom 665 km, Wien 535 km, Herisau ist ungefähr in der Mitte. Die Höhe über dem mittelländischen Meer ist mit 777 m angegeben. Die appenzellischen Hauptplätze haben immer etwas Piazzahaftes, obwohl viele Wirtschaften ‹Schäfli› heissen. Auch fällt einem auf, wie viele Fenster die Häuser haben, oft sind sogar die Aussenwände zwischen den Stockwerken nochmals in Form von Fenstern gebaut.

Wenn man in Herisau eine Anspielung auf Sau macht, wird man darauf hingewiesen, dass der Ort einen balkentragenden Bären im Wappen hat, wahrscheinlich ist es der, der dem Hl. Gallus geholfen hat, seine Zelle zu bauen. Für die Etymologie der Ortsnamen ist übrigens Professor Sonderegger zuständig, er hat sich mit zwei Bänden über die Orts- und Flurnamen des Kantons Appenzell habilitiert und hält seither in Zürich donnernd und knirschend Vorlesungen über altgermanische Probleme. Die Meglisalp muss einmal einem gewissen Megelin gehört haben. Der netteste Herisauer ist mit Abstand Herr Näf.

Hörler, Rolf

Litaneien, dazwischen ein Gedicht

Heitere Ratlosigkeit

O ihr Spatzenschwärme in den Weinbergen!
O ihr Geranien auf den Stubenbalkonen!
O ihr Goldfische in den Gartenteichen!
O ihr Teeblumen in den Steinbrüchen!
O ihr Wühlmäuse in den Rübenäckern!
O ihr Schnittlauchbüschel in den Blumenkistchen!
O ihr Vogelnester in den Flugschneisen!
O ihr Brennnesseln an den Schutthalden!
O ihr Druckfehler in den Wörterbüchern!
O ihr Lilien auf den Brachfeldern!
O ihr Wegwarten an den Holzwegen!
O Hopfen & Malz an ausgedörrten Stangen,
noch ist nicht alles verloren!

 

Manöverbeginn

No Woman No Cry
in der Appenzellerstube
des Restaurants ‹Falken›
in Heiden,
wo wir im Kampfanzug
vor einem kühlen Bier sitzen
und aus der Music-Box
den letzten Lagebericht
über die unmittelbar
bevorstehenden Manöver hören:
No Woman No Cry.
Die Serviertochter,
von uns Soldaten
Christkindlein genannt,
lässt das kühl,
und auch der silberne Falke
draussen auf dem Wirtshausschild
verfolgt ungerührt jede Bewegung.
No Woman No Cry.
Wenn wir im Kampfanzug
von unserem Bier aufstehen
und unser wohlvorbereitetes
Manöver beginnen,
wird er sich auf die Beute stürzen,
und wir werden ihn hören,
Christines leisen,
erschrockenen Schrei –
während in der Appenzellerstube
die Music-Box noch einmal
No Woman No Cry
zu spielen beginnt.

 

Pilzkunde

Ich suche die Poesie
dort
wo sie niemand vermutet,
in den Pilzbüchern
des Verbandes
schweizerischer Vereine für Pilzkunde
zum Beispiel.

Ich lese die Winke
für den Pilzsammler
und befolge sie aufs genauste,
halte also auch Abführmittel,
Aktivkohle, schwarzen Kaffee
und Alkohol bereit,
gehe mit mir in die Pilze
und kümmere mich einen Pfifferling
um das Kopfschütteln
gewisser Leute,
die nichts verstehen
von einem blattgrünlosen Dasein,
von einer unselbständigen Ernährungsweise,
von einem Leben
auf faulenden organischen Stoffen
oder von den Parasiten
auf oder in unseren Organismen.
Angesichts der über hunderttausend Arten,
von denen die gesamte Erde
bis an die Grenzen des Lebens
besiedelt ist,
vergeht mir selbst das Kopfschütteln
über das Kopfschütteln gewisser Leute.

Was ich finde
in den Pilzbüchern
des Verbandes
schweizerischer Vereine für Pilzkunde,
sind unverbrauchte Wörter,
die aneinandergereiht
zu Zauberformeln werden :
Wurzelrübling
Ochsenzunge
Ziegelgelber Schleimkopf
Gruben-Lorchel
Buchen-Klumpfuss
Mohrenkopf
Feinschuppiger Schneckling
Igelbovist
Beutel-Stäubling
Schwefelporling
Zinnoberfaseriger Rauhkopf
Graustieliger, verfärbender Täubling
Schuppigberingter Dickfuss
Schnürsporiger Saftling
Granatroter oder Grosser Saftling
Rasiger Anistrichterling
Fransiger Wulstling
Zirbenröhrling
Tonweisser Schüppling
Fleischbrauner Rötelritterling
Olivbrauner Milchling
Weinbrauner Schirmling

In meinen Händen
wird das Ungeniessbare
geniessbar,
und in meinem Munde
verwandelt sich
Essbares in Giftiges.
Ich rufe das Elend beim Namen
und schreibe eine Litanei
für die Ausgestossenen:
Gebrechlicher Täubling
Tränender Täubling
Blutroter Weintäubling
Frauen-Täubling
Vergilbender Täubling
Stink-Täubling

Bittet für uns!

Weisskeuliger Wasserkopf
Kegeliger Rauhkopf
Olivbrauner Rauhkopf
Zinnoberroter Hautkopf
Blutroter Hautkopf
Geruchloser, gelbfleischiger Schleimkopf
Bitterer oder Eingeknickter Schleimkopf

Bittet für uns!

Einsiedler Wulstling
Rötender Porling
Grauer Leistling
Gedrungener Fälbling
Sparriger Schüppling
Gefleckter Rübling
Waldfreund-Rübling
Traniger Graublattrübling

Bittet für uns!

Stinkmorchel
Herkules-Keule
Semmelstoppelpilz
Braunwarziger Hartbovist
Blauer Klumpfuss
Anis-Klumpfuss
Purpurfleckender Klumpfuss

Bittet für uns!

Gebuckelter Trichterling
Keulenfüssiger Trichterling
Kahler Krempling
Gallenröhrling
Schweinsohr
Trottoirchampignon
Schmarotzerröhrling
Dunkelblau anlaufender Röhrling
Gerberei-Schwärzling
Spitzbuckliger, nicht schwärzender Saftling
Kupferroter Gelbfuss
Derbkeuliger Dickfuss
Safranfleischiger Dickfuss
Schleimiger, rotanlaufender Dickfuss
Blaublättriger Schleimfuss

Bittet für uns!

Was gegen uns ist,
wir kennen es genau
und wissen,
woran wir zugrunde gehen.

Grosser Schmierling oder Kuhmaul
Gesäter Tintling
Knochentintling
Schopftintling
Voreilender Ackerling
Schwarzfussporling
Blutchampignon
Erdschieber
Grubiger Milchling
Kampfermilchling
Hasenbovist
Abgestutzte Keule
Zunderschwamm
Wurzelnder Fälbling
Schwarzer Langfüssler
Schmieriger oder brauner Ledertäubling
Schmucker Wirrblättling

Was ich finde
in den Pilzbüchern
des Verbandes
schweizerischer Vereine für Pilzkunde,
ist Unverbrauchtes,
das ohne Punkt und Komma auskommt
und keines Satzgefüges bedarf.
Zeitwortlos verwende ich
die niegehörten Namen
und gebe meine Ahnung
von einer Welt,
die niemand kennt,
an taube Ohren weiter.
Ausgehöhlt und unterwandert,
hätten wir allen Grund,
uns zu fürchten.
Ja,
es heisst das Fürchten
wieder lernen,
wie jener, der auszog
mit grimmigem Vorsatz.
Das Lachen,
so bitter es sein mag,
wird euch vergehen,
eingedenk dessen,
was euer wartet.
[…]

Eichhase
Hexenei
Semmelporling
Gefranster Erdstern
Elfenbeinröhrling
Samtfusskrempling
Veilchenblauer Schönkopf
Meergrüner Wulstling
Zedernholz-Täubling
Himmelblauer Stacheling
Rotüberfaserter Hautkopf
Nebelgrauer Trichterling
Sammetfüssiger Rübling
Krönchen-Träuschling
Lilastieliger oder zitronenblättriger Täubling
Erdigriechender Schleimkopf
Elfenbein-Schneckling
Grüne Erdzunge
[…]

Ich bin dort,
wo mich die Poesie
nicht vermutet,
in den Pilzbüchern
des Verbandes
schweizerischer Vereine für Pilzkunde
zum Beispiel.

Hörler, Rosie

De José ond s Annemariili

Guet dreiezwenzgi isch e’ gsee, de José vo Barcelona ode Pamplona, niemed het da so ganz gnau gwesst, vo fott isch e’ choo, uf seb het me sich veloo. Gschaffet het e’ ufem Bau, mit bruubrenntem Rogge ond die schwaze Locke vom Staub ganz grau. E Lache zom Veschmölze het e’ kaa, ond Auge wien e Reh, de Meedle het e’ de Chopf vedreiht ond s reihewiis mit hee. Jedere het e’ vo ‹Amor› vezöllt ond allne ‹Guapa› noo dröllt, ond wenn e’ emol ellee gsee isch, het e’ sin Toscht mit ‹Vino tinto› gstöllt.

Doch denn isch e’ a s Annemariili heregroote ond veroote, die Gschicht het nüd chöne guet choo. Si e Jumpfere mit grüene Auge wie de Seealpsee, het sich vesäh ond uf en iiloh. De escht Kuss a de Chölbi hönde de Tötschbahn, aabahnt het sich do nebis, dass chlepft ond tätscht. Ond em Annemariili eri Schwöschte het s gsäh ond sich deheem bim Vatte verätscht. De seb het tue wie en Wald voll Affe, dass sich die Meedl usgrechnet het möse en Spanie aagaffe! Denn de Vatte stolz uf Traditione, Schölleschötte, Roomzonne fresse ond Öberefahre! Z fescht stolz uf Traditione, ke Intresse am Neue, bruch me nüd, cha gad abfahre!

Wessed e’, de Appezölle het s geen loschtig, taanzt geen rond, abe wenn s em nüd passt, get s fadegrad eeni an Grend! De Appezölle macht geen Witz, lache isch gsond, abe s Lache isch vobei, wenn e’ nebis nüd chennt!

Doch es isch scho z spot gsee, de José het s Annemariili mit hee, ond me wös nüd globe, de José het ere gad au en Broote in Ofe gschobe. De Vatte het d Heugable gnoo ond isch dem Spanie vekoo, hönnenoo isch er em gsprunge ond de José notgedrunge, wie vo Äbese pesse devoo ond nie me hönnevöre choo.

Ond s Annemariili isch gsee, ellee mit rondem Buuch ond joo, es isch halt Bruuch, so eeni tuesch nüd hüüroote, au wenn sii sös enad no eebe aastendig isch groote. Ond s Annemariili isch ledig blebe, zwo nomme Jumpfere abe glich ellee, ond so het sii sich im Eelend gstürzt in Seealpsee.

Ond de See tuet ez wie eri grüene Auge glitzere ond funkle, jedes Mol am legschte Sonntig im Septembe bim Iidunkle. Denn wenn Chölbi isch im Doof, doo wo de José em Annemariili gmacht het de Hoof. Ond wem me liislig ond moxmüüslistölle isch, denn ghöt me denn: José oh José, wo bisch, wo bisch!?

Ilg, Paul

Das Menschlein Matthias

Die Einkehr zum Gupf

Die verwunschene Hütte unter dem bewimpelten Felskegel, ‹Gupf› genannt, lag schon im kühlen Abendschatten, während jenseits des Rickentobels das Licht noch verlockend auf allen Matten spielte und die niederen Berghäuschen mit den glühenden Scheiben aussahen wie trunken von Sonnenschein. Vor der Schwelle, nur mit Hemd und Hosen bekleidet, kauerte ein sauberer Knabe, der ein rostbraunes, schartiges Messer zückte, womit er das Gras zwischen den klobigen Pflastersteinen abtat. Das gemeine, mühselige Geschäft schien ihn fuchsteufelswild zu machen; er stocherte tückisch an dem Unkraut herum und wetzte die Klinge am Gestein, dass es knirschte. Die Augen mochte er bei dieser Arbeit schon gar nicht brauchen. Er starrte und horchte lieber hinab in das ‹Loch›, wo der Bach unterm Blätterdickicht von Tag zu Tag mächtiger rauschte, oder hinüber auf die jenseitigen Weiden, auf das von langer Winterhaft rammlige Vieh, dessen tolle Sprünge bei abgerissenem, windverwehtem Gebimmel den Beschauer wider Willen ergötzten. Auch den Hüterbuben konnte er erkennen. Der sprang und hüpfte wie ein Kobold zwischen den Kühen umher, schlug Purzelbäume vor Übermut, jodelte trotz einem erwachsenen Senn oder liess seinen schnurrigen Lockruf erschallen: «Choom wädli, wädli, wädli – hoi, Bläss, hoi, hoi!» Von Zeit zu Zeit schrie er aus Leibeskräften durch das Schallrohr der Hände: «Matthias Bö–hi a–bi–cho», worauf sich dann jedesmal über des Jäters Haupt ein kleiner Mädchenkopf am Fenster zeigte und mit ebenso durchdringender Stimme herrisch hinunterbot: «Cha nöd cho!»

Der Gerufene selbst gab keine Antwort, er stiess nur eine üble Verwünschung über Frida, das Bäschen, aus, die seine Knechtschaft so schadenfroh in die Welt hinauskreischte. Beinah hätte er einen Kotklumpen aufgehoben, um die äffische Fratze zu zeichnen. Das wäre dann für ihn auch nicht gut abgelaufen. Er musste den Zorn verbeissen. Bald blickte er nur noch durch Tränen hinüber, wo sich die vielen weissen und braunen Flecke der Herde im Goldiggrünen bewegten, oder hinunter ins Tal, wo die Häuser bis zum Giebel in ein Blütenmeer versunken schienen. Was mochte das für ein lieblicher Frühling sein unten im Trauben- und Kirschenland, zumal weiter vorn am See, von dem hinter Hügelrücken gerade noch ein flussbreites, alle Sehnsucht aufreizendes Band zu sehen war. Wenn dann gar noch ein Segelschiff drüber glitt, so hielt es das Herz in der Brust nicht mehr aus.

Matthias hauste wie ein Gefangener in dieser Bergeinsamkeit. Aber seine Gedanken konnten sie nicht in Ketten legen. Darum führte er, trotz seiner Jugend, ein richtiges Doppelleben. Zehnmal am Tage schreckten ihn scheltende Stimmen von heimlichen Talfahrten auf oder seine Hüterin fuhr ihm ungestüm in die Haare, um den Zwiespalt zu schlichten, Leib und Seele wieder ordentlich zu versammeln.

Wozu musste er jetzt Gras jäten, das doch gleich wieder nachwuchs? Er sollte bloss nicht in der Stube sein, nicht sehen und hören, was sie drinnen trieben und tuschelten. Alle waren sie wieder gegen ihn. Daraus konnte er am besten merken, dass ein Besonderes im Schwange war. […]


Matthias’ Mutter, ledige Fabriklerin aus der Stadt (im Roman ‹Treustadt›, eigentlich St. Gallen), kommt zu Besuch auf den Gupf (ob Rehetobel)


Die Mutter

An die Kinderlehre dachte keiner von den Buben. Der Grosse hatte noch nicht einmal zum Schein Schuhe angezogen, dagegen nichts vergessen, was zu einem ergiebigen Streifzug durch den Wald gehörte. Die Schleuder war mit neuen Zugstücken versehen, das Soldatenmesser geschliffen, auch die Zündholzbüchse geplündert, denn Feuer brauchte man allerwegen, sei’s um ein Wespen- oder Ameisennest anzustecken, einen Stoss dürrer Äste prasseln zu lassen oder einen weggeworfenen Stummel aufzurauchen Frau Angehr sah ihn beim Aufbruch scharf an und sagte ihm gleich auf den Kopf zu, dass er bloss wieder Flausen im Sinn habe und die Kirche schwänzen wolle, sonst würde er nicht barfuss ausrücken. Sie liess nicht nach, bis er Schuhe anhatte.

«Soll mir der Pfarrer deinetwegen noch einmal den Marsch blasen? Ich seh’s dem da»– sie wies auf Matthias – «gleich an, ob du drin gewesen bist. Wenn nicht, so mach dir keine Hoffnung aufs Mittagessen!»

Aber so gebieterisch sie auftrat, an dem furchtlosen Burschen prallte die Drohung wirkungslos ab. Konrad brummte sie böse an, er werde schon gehen; vor ihrer misstrauisch forschenden, kümmerlichen Miene lächerte es ihn aber wider Willen, so dass sie ihn vollends durchschaute und jammernd die Hände rang. Ja, mit echt mütterlichem Entsetzen gewahrte sie, wie er ihrer Gewalt mehr und mehr entschlüpfte und eigentlich nur noch in unkindlichen Eigenschaften mit ihr zusammenhing. Nicht umsonst hatte sie den dreisten, bärenhaften Jungen, dem mehr als die Hälfte des Mutterherzens gehörte, schon seit Jahren über ihre Pläne unterrichtet und an all ihren offenen oder versteckten Feldzügen zur Hebung des Hausstandes teilnehmen lassen. Konrad wusste genau, was der Vater verdiente, wieviel die Wirtschaft eintrug, was die Base Gritta ins Haus brachte. Noch mehr als die Mutter war er begeistert von der ‹Farm in Argentinien›, und sein jetziges Dasein deuchte ihn nur eine Art unvermeidlichen Fegfeuers zu einem fernen Paradies. Dies zu erreichen, scheute er keine Strapazen, da durfte die Mutter von ihm verlangen, was sie nur mochte.

Hingegen war’s kein gesegnetes Beginnen, wenn Frau Angehr, um die in ihm so früh entfachten herben Lebensgeister wieder einzudämmen, auf Erfüllung der christlichen Gebote drang, während sie selbst ihrer Habgier keinerlei Fesseln anlegte. Der Bursche merkte, worauf es ihr ankam. Sittliche, religiöse Kräfte traute er ihr keine zu. Nur vor des Vaters gebeugter Rechtschaffenheit, seinen kurzen, lärmscheuen Ermahnungen machte er zuweilen noch halt. Schenkte dieser ihm ein paar Batzen, so hielt er sie wert und hob sie dankbar auf, während er die mütterlichen Gaben oft leichtsinnig verpuffte und sich auch kein Gewissen daraus machte, die Alte gelegentlich ‹anzuschmieren›.

Die Drohung: «Gut, so sag ich’s dem Vater!», war – sehr zu ihrem eigenen Schmerz – die beste Waffe gegen den Grossen geworden, den sie nicht mehr wie Matthias in die Finger nehmen konnte.

Aber heute schlug auch diese nicht an. Kaum hundert Schritte oberhalb dem Hause erklärte Konrad dem zaudernden Begleiter: «Pfeifendeckel, ich hocke nicht hinein! Komm du, wir wollen krebsen im Loch und schauen, dass wir eine fette Forelle päckeln!»

Matthias zog es auch nicht mit Gewalt zur Kirche, um so mehr aber zum Guggisauer Bahnhof, wo er die Mutter nach der Kinderlehre abholen durfte. Das galt ihm jetzt mehr als alle Forellen und Krebse im Rickentobel. Er blickte bestürzt hinunter und sagte kläglich: «Ja, ich weiss schon … dann kommen wir zu spät an den Zug!»

Es ruckte und zuckte schon wieder verdächtig in dem Milchgesicht. Aber vor dem Grossen loszuheulen war das Allerschmählichste, was ihm widerfahren konnte. Dann durfte er tagelang nicht mehr neben ihm nach und von der Schule gehen, und ganz bodenlos klang dessen Verachtung, wenn er sagte: «Hotz, was bist du für ein minderer Fötzel und Leckerlischlecker!»

Zudem konnte er Konrad nicht leicht etwas abschlagen. Auf allen gemeinsamen Wegen, besonders bei Verfolgungen, Schülerschlachten, war ihm der Grosse ein starker Beschützer; es kam sogar vor, dass dieser der eigenen Mutter wütend entgegentrat, wenn nach seinem Gefühl Matthias eine ungerechte Strafe erlitt.

Aber wie sollte er ihm heute zu Willen sein? Was musste die Mutter denken, wenn sie bei der Ankunft zum Wagenfenster hinauswinkte und ihr Matthiesle gar nicht da war? Am Ende dachte sie, er sei krank, und bekam vor Angst Herzklopfen. […]

[Jetzt] begann eine andere Jagd, die sonst auch dem Kleinen nicht schlecht gefiel. Das war unten am Bach, da zogen beide Jacke und Schuhe aus und wickelten die Hosen auf, so hoch es nur ging. Das Wasser floss quellfrisch und klar auf goldbraunem Grund durch die dunkelgrüne Tobelnacht, in der nur vereinzelte Strahlen aufzuckten. Wildlaunige Libellen, träg gaukelnde Kaffeefalter, zickzackfrohe Wasserläufer huschten drüber hin, und wo der Bach Wirbel trieb, schwänzelte hier und da, nur scharfen Augen sichtbar, eine junge, leichtsinnige Forelle. Die alten, schweren, gewitzigten standen am Tage regungslos, wohlgeborgen in den Höhlungen des Uferrandes. Aber Konrad kannte ihre Verstecke; bäuchlings rutschte er an den Böschungen hin, und seine schnell zupackende Hand stiess immer wieder gierig in den Schlamm, wonach dann wohl etwa ein gespenstischer Schatten blitzschnell hinüberfuhr, das Wasser sich trübte und der Fischer lästerlich fluchte. Matthias musste das Missgeschick büssen. In einer halben Stunde war er zehnmal ein dummer Siech, ein fauler Leimsieder oder sonst ein landläufiges Übel, weil er, der gebückt im Wasser stand, um genau aufzupassen, den lebenden Pfeil weder fassen noch verfolgen konnte. «Dümmer als Tulpe!» war’s, wie er sich heut wieder anstellte. Am meisten ärgerte den Grossen das zaghafte Wimmern und Mahnen: «Jetzt ist’s aber Zeit! Wir müssen gehen, wir kommen zu spät!» Der Teufel mochte so Fische fangen. Er hatte vollkommen recht. Matthias war nicht nur ein täppischer, mit Blindheit geschlagener Handlanger, er krümmte sich und schrie dazu noch wie ein kleines Mädchen, wenn er auf spitze Steine trat oder ausrutschte. Ihm lag nur noch im Sinn, so schnell als möglich bergan zu stürmen und zu verhüten, dass die Mutter den traurigen Gedanken fasste, er sei ihr aus Lieblosigkeit nicht entgegengekommen.

«Da sieh, was du für ein sauberes Pflänzchen hast, dem ist es zu viel, dich von der Bahn abzuholen; er stromert lieber im Wald herum!» würde die Basgotte vielleicht zum Willkommen noch spotten.

Wenn die Enttäuschte aber vor Gram gleich wieder umkehrte? Und plötzlich stand Matthias auf dem Trockenen, las Schuhe, Rock und Hut zusammen und fing an, die Beine zu werfen, dass der Grosse vor Staunen über diese Gehorsamsverweigerung gar nicht vom Fleck kam.

«Lauf nur, du Narr!», rief er hinter ihm her. «Ich geh’ jetzt heimzu. ’s ist sowieso zwölfe vorbei!»

Der Flüchtling liess sich nicht beirren. Er stürmte schier besinnungslos aufwärts wie jener rühmliche Läufer von Glarus, der seinem im Grenzstreit mit Nachbarn liegenden Volk eine Bergspitze gewinnen wollte und seinen letzten Atemzug dransetzte. Die Schuhe trug er in der Hand, obgleich ihn Dornen und Äste stachen, kaum gab er acht, dass er nicht auf eine Schnecke, Kröte oder Blindschleiche trat. Was hiess eine Bergspitze gegen die Liebe der Mutter, die hier auf dem Spiele stand? Darum wollte er gar nicht begreifen, wie blutwenig Atem und Ausdauer in seinem Leibe war. Immer musste er wieder rasten, mühsam Luft holen; auch die Beine taten, als wollten sie keinen Schritt mehr weiter. Schwach zum Umsinken erreichte Matthias den Staffelweg nach Guggisau, von wo er nach unten und oben Ausschau halten konnte. War’s wirklich schon so spät? An den Tischen drunten sassen Leute, aber erkennen konnte er niemand. Viel sah er überhaupt nicht mehr. Die Erschöpfung raubte ihm zugleich Licht und Bewusstsein. Aus der tiefen Schwäche wuchs langsam ein bleierner Schlaf. Er lag mit zerstochenen Füssen unter einem Busch, hielt noch die Schuhe krampfhaft fest, denn der Traum machte schlüpfrige Forellen daraus, und die Backen glühten im Grünen wie reife Erdbeeren.

Aber ein guter Geist hatte das Bürschchen dahin gebettet, und schöner konnte Jakobs Traum von der Himmelsleiter auch nicht gewesen sein als Matthias’ Erwachen in den Armen der Mutter, die wahrhaftig in Sorge vom Gupf niederstieg und den Vermissten wie ein verwunschenes Prinzlein oder wie man eine schöne Blume pflückt, schlafend vom Boden aufhob.

Zuerst sah er nur den grünen Sonnenschirm, auch nicht anders als eine Märchenblume, am Wege schillern, dann spürte er einen erinnerungsvollen Duft, und endlich enthüllte sich das Mittagswunder so klipp und klar, dass er die ledernen Forellen sorglos fahren liess und ganz im Glück des Wiederfindens aufging.

«Nein, sag aber auch! Das sind mir ja heitere Boten, die unterwegs mir nichts, dir nichts gemütlich einschlafen und sich den Kuckuck drum kümmern, was aus den Gästen wird. Wohl, da kann ’s Heimweh auch nicht gross gewesen sein!» schmähte die Mutter zum Schein, nicht ahnend, welch heisse Quelle sie damit zutage förderte. Das aufgestaute Weh des Kindes riss bei diesen Worten alle Dämme ein und setzte lange jede Freude unter Wasser. Matthias hielt die Geliebte fest umklammert, als könnte sie ihm wieder entrissen werden, und heulte dazu schrill wie ein Sägewerk in ihre Röcke hinein: «Ich hab’ doch mit dem Ko–Konrad ins Loch müssen, Fo–Forellen fangen. Er hat mich ja nicht fortgelassen!», woraus die Überraschte sich alles weitere leicht erklären konnte. Brigitte Böhi war nicht taub für den Schmerz, der sie wie ein reissendes Tier anfiel und wahrlich nicht aus einem Löchlein pfiff. Eine Fahne im Sturm – so flatterte ihr Herz im Leib, mit auferweckten Sinnen lauschte sie dieser wilden Musik der Not, der Sehnsucht, der Liebe …

Hoch oben am Felsen standen die beiden in Mittagsglut … eine junge, lebensfrohe Mutter – ein hilfloses, verstossenes Kind: sie hatten sich eben gefunden, von Geisterhand zusammengeführt, hielten sich eng umschlungen und wussten nichts mehr von Himmel und Erde, Sonnenbrand und Stundenflug. Eine Fahne im Sturm, so flatterte das Mutterherz von den Schmerzenstönen der kindlichen Brust, und schwere Wolken der Schuld zogen über ihr hin. Oh, diese Not war nicht von heute, was alles hier überfloss, musste in Monden und Jahren erwachsen sein! Eine namenlose Not, nicht zu erfragen, mit Worten zu bezeugen, aber wühlend, brennend, lichterloh, eine, die zum Himmel schrie: «Mach Ende, Herr, mach Ende!» Sie schlug an die Pforte der Seele wie der Ruf eines Verfolgten in sternloser Nacht, und die Tore sprangen auf, ahnungsvolle Arme breiteten sich, das glühende Leid zu umfangen.

«Sei nur wieder still, du lieber armer Schlucker!» beschwichtigte das junge Weib, selig in der Wandlung des Gemüts, das bereit war, dem Kinde ganz zu geben, was des Kindes ist, und im Angesicht des weithin offenen Himmels, über all den blühenden Landen, blauenden Wassern den Schwur tat, künftig eine bessere Mutter zu sein.

Leuchtenden Auges nahm sie seinen zuckenden Lockenkopf in die Hände, hob ihn hoch und fragte innig leise: «Möchtest du für immer zu mir kommen, sag?»

Imhof, Eduard

Eine ungemütliche Panoramarevision

An einem Oktobernachmittag des Jahres 1927 nahm ich von Urnäsch aus den Weg zum Säntis unter die Füsse. Die Schwebebahn bestand damals noch nicht. Zweck meines Unternehmens: Zum achtzigsten Geburtstag des Geologen Albert Heim, des berühmten «alten Heim», plante der Schweizer Alpen-Club eine Herausgabe eines Jugendwerkes des Jubilars, des grossartigen Säntispanoramas aus dem Jahre 1871. Im Auftrage dieses Clubs sollte ich nun den etwa 430 cm langen Bildstreifen revidieren, darin, wenn nötig, Berge versetzen, Gipfelnamen kontrollieren und sie den Zungen moderner Sprachreiniger schmackhaft machen, die Höhenangaben den Ergebnissen neuester Landesvermessungen anpassen und Heims feingliedrige Zeichnung durch zusammenfassende Töne übersichtlicher gestalten. Die Wettermacher zu Zürich hatten für die kommenden Tage das Herannahen eines kräftigen Hochs prophezeit. Eine solch günstige Situation für meine Arbeit, wohl die letzte Möglichkeit vor Einbruch des Winters, musste genutzt werden.
So schritt ich denn frohen Mutes bergan, schenkte aber, jung und leichtsinnig, der Ungunst der vorgerückten Jahres- und Tageszeit keine weitere Beachtung. […] Ich befand mich übrigens in guter Gesellschaft meines treuesten Freundes, des Eispickels.

Oberhalb der Schwägalp führte der schmale Pfad steil, aber leicht und rasch hinauf durch die ‹Musfallen›. Dann aber, höher oben ‹in den Schnüren›, begann das Grausen. Die Wegspur auf abschüssigen, schmalen Rasenbändern über jähen Felsstufen verlor sich unter Steilflächen trügerischen Neuschnees. Schritt für Schritt, mit grösster Vorsicht, stapfte ich vorwärts. Es war bereits Nacht, als ich das ersehnte Tierwies Gasthaus erreichte. Hier aber wartete mir eine schwere Enttäuschung. Keine Türe, kein Fenster wollte sich öffnen. Ich trommelte mit meinem Pickelstock eine Höllensymphonie auf die Fensterläden. Alles vergeblich! Kein Lichtschimmer brachte Hoffnung. Alles blieb dunkel, verschlossen, verlassen! Freilich, solches hätte ich ja schon unten in Urnäsch erfahren können. So war ich genötigt, mich durchzukämpfen, hinauf zum Gipfel, zum Hause des Wetterwartes. Ich stapfte weiter durch die Finsternis. Starkes Schneetreiben hatte jede Spur des Weges völlig verwischt. Als Blinder folgte ich meiner eiskalten Nasenspitze, höher und höher in eine unsichtbare, unbekannte Einöde verschneiter Karren. Um ein Uhr in der Nacht steckte ich irgendwo im hintersten Felsenkessel unter dem Girenspitz, offenbar nicht mehr weit entfernt vom Einstieg zu der luftigen Felsentreppe, die hier zur Sommerszeit leicht zum Säntisgipfel hinaufführt. Wo und wie aber finde ich diesen Einstieg? Der Säntis ist jetzt nicht mehr der freundliebe Damenberg sommerlicher Familienwanderungen. Er hat sich verwandelt in einen grimmigen, schlechtgelaunten Himalajariesen. Wo überhaupt ist der Berg? Wo und wie komme ich wieder heraus aus dem sturmdurchtobten, nebelverhüllten nächtlichen Schnee- und Felsenkessel? Jetzt geht es auf Leben oder Tod. Es bleibt keine andere Wahl als ein Fluchtversuch zurück. Ich wühle mich durch metertiefen Neuschnee und perfide, versteckte Karrenlöcher abwärts, immer nur abwärts. Längst ist meine Aufstiegsspur vom Sturm verwischt. Bei einem Sturz in ein schneeverhülltes Karrenloch brechen zwar nicht meine Beine, wohl aber die Gläser meiner Touristenlaterne. Durch völlige Finsternis tappe ich weiter. Von Zeit zu Zeit krieche ich hinab in ein Karrenloch, wo windgeschützt, ein sekundenkurzes Aufflackern einer Streichholzflamme mir einen Blick auf Landkarte und Bussole ermöglicht.

Um vier Uhr morgens stehe ich wieder vor der verschlossenen Türe des Tierwies-Gasthauses. Acht Stunden sind es her, seit ich hier vorbeigekommen war. In letzter Verzweiflung hämmere ich wiederum an Türe und Fensterladen. Ich hämmere mir meine Fäuste wund. Und siehe da: Nach längerer Belagerung ward Licht. Die Haustüre knarrt. Zwei Arbeiter befanden sich im Hause. Spät am gestrigen Abend, erst nach meinem erstmaligen «Vorbeimarsch», waren sie von Unterwasser her hier eingetroffen, in der Absicht, an den folgenden Tagen Reparaturen vorzunehmen. Staunend, aber mit grosser Freundlichkeit führten sie den nächtlichen Schneemann in die warme Stube. Ich war gerettet.
Als ich am folgenden Vormittag vor die Haustüre trat, strahlte über dem Gebirge ein tiefblauer Himmel. Alles Gewölk war weggefegt. Ringsum glitzerte und funkelte eine verzauberte Welt. Ich stampfte nun mit neuem Mute, wenn auch nicht ohne Mühe, durch tiefen Neuschnee dem Gipfel zu. Meine nächtliche Abstiegsspur war bereits wieder völlig verwischt. An der Felsentreppe unter dem Gipfel war das Drahtseil auf seiner ganzen Länge von einem Eismantel umhüllt.
«Warum haben Sie gestern Nachmittag von Urnäsch aus nicht telefoniert und mir Ihr Kommen gemeldet? lch wäre Ihnen in der Nacht vom Gipfel her entgegengekommen, um Ihnen zu helfen!» So knurrte bei meiner Ankunft im Gipfel-Observatorium der wetterharte Wetterwart.
Es folgten herrliche Tage im Anblick der grossartigsten Gebirgsrundschau. Bei winterklarer Sicht inspizierte ich nun durch das Fernrohr alle die tausend Zacken und Zäcklein eines unermesslichen Horizontes, und ich tastete mit nadelscharfem Bleistift Albert Heims Bildstreifen ab. Zu flicken gab es nicht viel. Die Berge standen immer noch dort, wo sie der liebe Gott und der junge Panoramakünstler einst hingestellt hatten. Albert Heims Zeichnung erwies sich als ein Wunderwerk an Genauigkeit und Inhaltsreichtum. Er hatte sein Panorama seinerzeit selber in Stein gestochen, dabei aber mit seiner Nadel da und dort allzuspitz herumgestochert. Es galt nun, das verwirrend feinmaschige, dünnstrichelige Linien- und Strichgewebe etwas zusammenzufassen und durch gruppierende und distanzierende Grautöne in eine übersichtlichere, bildhaftere Form zu bringen.

Die stillen Abende in warmer Stube hinter dem Ofen verplauderte ich mit meinem freundlichen Gastgeber, dem trefflichen Wetterwart. Mit Wehmut erzählte er mir von seinem Vorgänger, der vor Jahren hier oben, im winterlichen Observatorium, einer ruchlosen Mörderhand zum Opfer gefallen war. Lieblicher aber als solche Berichte erklang eine Neuigkeit aus weiter Ferne; denn erstmals in meinem Leben vernahm ich hier oben durch den Äther eine Radiostimme: Aus Wien flötete eine Sängerin mir durch meinen Kopfhörer in die Ohren «Liebet euch, liebet euch; denn Gott schuf die Liebe für euch!»

Inauen, Johann

«Hilfe, ich verdurste!»

Der Abhang ist steil und abschüssig. Wir durchqueren nacheinander ‹überhängende› Grasborde, Felsstufen und Chenner. Seilsicherung und vor allem der Steinschlaghelm sind unabdinglich. Erst hören wir das jämmerliche Meckern der ‹Patientin›, dann sehen wir sie. Sie kann weder vor noch zurück und droht jeden Moment abzustürzen. Seit gestern befindet sie sich in dieser misslichen Lage und wartet auf Hilfe. Bestimmt plagen sie Verletzungen, aber auch Hunger und vor allem Durst. In der Nähe der Patientin angekommen, kostet es mich und meine Begleiter Sepp Dörig und Dani Rechsteiner einige Überwindung, sie mit Reepschnüren zu sichern und nach ihren Verletzungen zu schauen. Sie riecht – gelinde gesagt – nicht ganz gut, ist total verschwitzt und dreckig. Dani überwindet sich und hält ihr seinen Trinkbecher hin, sie schaut ihn treuherzig an. Rasch sind wir uns einig. Nur eine Bergung talwärts ist zweckmässig. Sepp und Dani knüpfen ihr mit Bandschlingen und Reepschnüren ein Gstältli. Sie verstehen ihr Handwerk – ich bekomme auf eindrückliche Art vor Augen geführt, wie man geschickt und zweckmässig improvisiert.

Dann geht die Talfahrt auch schon los. Sepp wird zusammen mit der Patientin hinuntergelassen, Dani und ich bedienen den Standplatz. «Etwas langsamer», verlangt Sepp, «ich bin jetzt in einem Überhang», und meldet kurz darauf, er sei auf dem Boden angelangt. Dani folgt nach, seilt sich selber ab. lch räume den Standplatz ab. Was sehe ich! Offenen Mundes staune ich: Sepp hat die Patientin quer auf seine Schultern genommen und trägt sie in Richtung Kleinhütten das Bord hinunter. Nie hätte ich Sepp so viel Kraft und auch Zimperlichkeit zugetraut. Als ich endlich eintreffe, sitzen Dani und Sepp schon bei einem Glas frischer Milch und einem Stück fein duftendem Käse. Ich strecke meinen beiden Helfern die Hand entgegen: «Gratulation! Ihr habt euch das Geissenrettungsbrevet mit Bravour verdient.» Beide strahlen. Diesen ungewöhnlichen Rettungseinsatz werden wir so schnell nicht vergessen. lm Stall nebenan verarztet der ‹Gschneet-Hans› seine verunfallte Geiss und versorgt sie mit einer Extraportion feinem Bergheu und frischem Quellwasser.

Inauen, Roland

Charesalb ond Chlausebickli

I d Stadt

Die Vorbereitungen zu diesem seltenen Grossereignis waren allerdings wenig nach unserem Geschmack: Gesicht und Hände sauber waschen, anständiges Hääss aalegge (1) und in jedem Fall auch Schuhe, denn in der Stadt – das war unsere fixe Vorstellung – war immer Sonntag. So gerne wir diesen hatten und die Stadtgoofe (2) um ihr Dauerglück beneideten, so ungern zwängten wir unsere Sommerfüsse in Schuhe. Das mit dem Waschen leuchtete uns einigermassen ein, wollten wir doch nicht auf den ersten Blick als Goofe vom Land erkannt werden. Spätestens bei der ersten Antwort, die wir einem Verkäufer oder einer Arztgehilfin zu geben hatten – von selbst hätten wir den Mund nicht geöffnet, waren wir aber enttarnt. Ein wissendes Lächeln huschte über deren Gesicht und machte uns verlegen und in der Folge unser Gesicht rot. Weshalb auch nur? Wir wussten es selbst nicht. Es lag an der Sprache. Ob wohl deshalb die Meedl (3) des Nachbars nach einem halben Lehrjahr in der Stadt frönt (4) redete?

Der Zockebolle (5) von der Arztgehilfin des Augenarztes vermochte mich halbwegs zu versöhnen. Sie war – glaube ich – die schönste Frau, die es gab: blonde, hochtoupierte Haare, ein Gesicht, gemalt wie ein Chlausebickli (6), dazu die weisse, kurze Arztgehilfinnenschürze. Und wie sie gerochen hat – auch die Schürze! Ich wagte kaum zu schnaufen. Das war Stadt. Nicht die kalten, hohen, steinernen Häuser. Auch nicht die Trottoirränder, über die wir regelmässig stolperten, schon gar nicht die Ungetüme von grünen Trollibussen, die uns zwar beeindruckten, aber auch irgendwie Angst machten.

Stadt war aber auch Liftfahren im Kleiderfrey – mit grossem Spiegel, braunroten Knöpfen und Zahlen und einem aufklappbaren Bänkli. Das Gefühl im Bauch beim Abfahren: fast wie Chölbi (7). In der Umkleidekabine etwas unwohl: Schaut auch wirklich niemand? Einkehren im Cafe Kränzlin, weil die Grossmutter dort einmal Mat (8) war. Plüsch und Polster, wohin man schaute und hockte. Unser altes Kanebee (9) daheim war wirklich alt!

Türen, die sich von selbst öffneten, waren auch Stadt. Und kamen wir wieder vorbei, öffneten sie sich sogar, auch wenn wir nicht hineingingen.

Um die Epa machten wir leider einen grossen Bogen: «Wir brauchen keinen Schmarre», war die Antwort auf unser Müede (10). Schade, denn: «i de Epa, i de Epa, do chaa me alles haa, fö föfesibezg Rappe en halbvestropfte Maa», sangen sie an jeder Losi (11) und wir auf dem Pausenplatz. Wir glaubten zwar nicht so recht daran, aber das Ladengestell mit diesen Männern hätten wir doch gerne gesehen.

Vielleicht gab es Trauben von einem Marktstand oder ein paar Marroni. Und fast jedes Mal traf man jemanden, der auch gerade in der Stadt war – und redete viel zu lange. Ein einziges Mal bogen wir blitzschnell in eine Seitenstrasse …

Auf dem Gaiserbahnhof roch es nach Charesalb (12), im Zug auch und nach kaltem Backrauch (13). Beim Riethüsli durfte man die Sprungschanze nicht verpassen, die man auch im Sommer sah. Die E-Tafel am Ende jeder Zahnradstrecke erinnerte mich an die E vom Augenarzt Müller – und an seine Arztgehilfin.

 

S Guetjohrhole (14)
Selbstverständlich ging man zu Fuss, manchmal zusammen mit Geschwistern. ln jungen Jahren war es – je nach Distanz zum Elternhaus – eine eigentliche Mutprobe. Zu selten kam man fort. Beim Anklopfen hämmerte das Herz. «Sei anständig», hiess es zu Hause, «säg schö tanke, und gegessen wird alles, was auf den Tisch kommt. Und vergiss auf gar keinen Fall, der Gotte e glöcksäligs neus Johr zu wünschen.» Im Treppenhaus dann die vertraute Geruchsmischung aus frisch geblochter (15) Bodenwichse und Lauberohr (16); je näher man jedoch der Küche kam, desto mehr dominierte die Fleischsuppe. Uns war gar nicht nach Suppe. ln der warmen, aber noch unbehaglichen Stube ging es ein wenig besser. Der Cousin war schon da. Zwar redete er nicht mit mir und ich nicht mit ihm, aber aus seinen knappen Antworten, die er dem Götti gab, merkte ich schnell, dass er noch schücher (17) war als ich. Zwischen dem Schweigen hörte man dürre Christbaumnadeln auf den glänzenden Inlaid (18) fallen. Das schlafende Christkind in seinem Chreppeli schien das nicht zu stören. Später traf das Gottenmädchen (19) aus Kau (20) ein. Auch sie war gewachsen. Manchmal mussten wir Rücken an Rücken zueinander stehen. Die Kommentare waren mir peinlich, weil ich immer der Längste und Dünnste war. «Der Vater ist halt auch ein Grosser! Und überhaupt tuet e e lengeri mee vättele (21).» «Nei, nei, om d Auge omm ischt e doch die baa Muette», meinte darauf Tante Marie. Wir nahmen es stillschweigend zur Kenntnis, alle Jahre wieder. Zu Hause schaute ich lange in den Spiegel. Das mit dem Vättele oder Müettele (22) verstand ich nicht. ln meinen Augen glich ich weder ihm noch ihr. Ein Goofegsicht (23) konnte doch nie einem Erwachsenengesicht gleichen. Das Ausfragen des Götti ging weiter. Tante Marie kochte. Aus der Küche hörte man das quietschende Geräusch des Passwits (24). Das war Musik! Hedepfelstock (25)! Unsere Antworten fielen eine Spur weniger karg aus. Von Gespräch jedoch keine Spur. «Gooscht geen i d Schuel?» (26) Nein zu sagen, wäre zwar wahr, aber unanständig gewesen. «I weli Klass gooscht?» Wer wollte es ihm verübeln, dass er es nicht mehr wusste, da wir ja am letzten Neujahr in der Tat in einer anderen Klasse gewesen waren. Die Zöpfe des Kauer Mädchens liessen mich nicht in Ruhe. Sie waren zu einem Rad um dessen Hinterkopf gewunden. Wie konnte man so altmodisch sein! Für diese kindliche Mischung aus Verachtung und Vebeemscht (27) schäme ich mich noch heute, zumal die damalige Kauer Frisur inzwischen von Topmodels und ukrainischen Politikerinnen getragen wird. Zu Tisch! Das Menü war bekannt – seit Jahren. An das Tischgebet kann ich mich nicht mehr erinnern. «Ja nicht mit vollem Mund reden.» «Die Hände auf den Tisch!» «De Tälle suube usebotze.» (28) ln welche Hand gehört schon wieder die Gabel? «Essid wacke Soppe, denn weerede chech.» (29) Wer wollte das nicht, aber unsere Gedanken waren bei dem, was nach der Suppe kam: Böchse-Buweeli ond Rüebli (30) und ein brauner Bratensaucensee mitten im Hedepfelstock.

 

(1) Hääss aalegge Kleider anziehen
(2) Stadtgoofe Stadtkinder
(3) Meedl Mädchen
(4) frönt fremd
(5) Zockebolle Bonbon
(6) Chlausebickli bunt bemalter Lebkuchen; beliebtes Patengeschenk in der Adventszeit
(7) Chölbi Kirchweih
(8) Mat Magd
(9) Kanebee Kanapee, Diwan
(10) müede quengeln
(11) Losi musikalische Unterhaltung, Tanz
(12) Charesalb Schmierfett
(13) Backrauch Tabakrauch
(14) Guetjohrhole Neujahrsbesuch von Patenkindern bei ihren Patinnen und Paten
(15) blochen bohnern, wienern, polieren
(16) Lauberohr Ablaufrohr eines Plumpsklos
(17) schüch scheu
(18) Inlaid Linoleum (Bodenbelag)
(19) Gottenmädchen Patenmädchen
(20) Kau damals abgelegene ländliche Gegend im Süden von Appenzell
(21) e tuet e lengeri mee vättele er gleicht immer mehr seinem Vater
(22) vättele oder müettele dem Vater oder der Mutter ähnlich sehen
(23) Goofegsicht Kindergesicht
(24) Passwit (Markenname nach dem französischen passe-vite) Passiergerät (Flotte Lotte)
(25) Hedepfelstock Kartoffelbrei
(26) Gooscht geen i d Schuel? Gehst du gerne zur Schule?
(27) Vebeemscht Erbarmen
(28) suube usebotze sauber leer essen
(29) chech stark
(30) Böchse-Buweeli ond Rüebli Erbsen und Karotten aus der Dose

Heuen war …

Heuen war …

• von einem Tag auf den andern Ferien. Wir gingen nicht, wir rannten heim. Endlich begann das richtige Leben – zumindest für gut zehn Wochen.
• zu Beginn blutunterlaufene Blootere (1) an den Händen – immer an denselben Stellen. Melkfett half auch nicht, aber hie und da ein Sugus (2).
• nach und nach dicke, zähe Fusssohlen und zwischen den Zehen Stompelöcher (3), die sauweh tun konnten. Am Abend Füssewaschen in Schmierseifenwasser. Aber sie wurden nicht sauber. Nie.
• die Hände voller Charesalb (4), weil beim Rabit (5) die Zapfenwelle klemmte.
• eine eigene Heugabel mit einem Stiel, den hundert Kinderhände vor mir blank geschliffen hatten.
• auf einem Bein stehen und am Gabelstiel sugle (6). Die Grossen hatten schliesslich ihre Backpfeife.
• zum Vesperessen im Schatten eines Ahorns lauwarmen Milchkaffee aus 
braunroten Bierflaschen mit Bügelverschlüssen trinken, die in Zeitungen eingewickelt waren und in einer schwarzen, schmalen Ledertasche lagen, die nach saurem Most und Leder roch – und nach Milchkaffee mit Frank Aroma (7).
• s Meescht neh (8). Auch das musste gelernt sein, denn es war gar nicht einfach, Heu oder Emd in beide Hände zu nehmen, ohne es überall zu vezattle. Dazu waren alle Muskeln der kleinen Hände und Unterarme gefordert. Ein Dichter müsste her, um diese elementare Tätigkeit genau zu beschreiben. Kein Halm ging verloren.
• zweifarbige Arme: unten schwarz und etwa ab der Mitte des Oberarms weiss.
• woobe, wende, je nach dem: öbereschöttle, medle ond zette, iireche, wider medle, schoche oder huenze, Medli cheere, Medli zette, Schoche oder Huenze vetue (aber erst wenn der Boden trocken war), wider wende, zemetue, reche, Ääfl mache, aalegge, d Bodi bönde, d Bodi aabzüche, reche, iiträge, d Bodi vetue, staampfe. (9) Und das war noch lange nicht alles.
• der immer selbe Spruch unseres Onkels, wenn unsere Kräfte nachliessen: de Reche fescht häbe ond wädli laufe. (10)
• der Bumeranzeschölferesirup (11) unserer Grossmutter – denn Durst hatten wir immer – und hie und da ein Sugus.
• d Heuläätere (12) uuf. Es gab zwei Sorten von Heuläätere-Sprotze (13): runde und flach-eckige. Die runden, rauen Sprossen passten so schön in die Fusshöhlen hinein und lösten im ganzen Körper einen Höhenrausch und die Vorfreude auf den Heustock aus.
• das explosionsartige Geräusch beim ruckartigen Lösen des Heuseil-Schlicks (14). Im nächsten Augenblick war der Knall vom Heu verschluckt und die Bodi (15) fiel fast lautlos auseinander.
• das bange Chlöckle am Glaas (16) (wenn’s abi ging, hätten wir am liebsten die Faust draufgehauen).
• die dunkelgrünen schwimmenden Mostflaschen der Grossen im Brunnentrog – und ein paar Heublumen dazu.
• vor lauter Müedi (17) das Putzen der Suguszähne vergessen.

1 Blootere Blasen
2 Sugus (Markenname) Fruchtcaramel
3 Stompelöcher kleine Wunden an den Fusssohlen
4 Charesalb Schmierfett
5 Rabit Rapid (Markenname), Einachser, Vielzweckmaschine
6 sugle saugen
7 Frank Aroma (Markenname) Kaffeeersatz
8 s Meescht neh von Hand kleine Heumaden, die durch das Rechen entstehen, zusammennehmen
9 Tätigkeiten beim Heuen und Heu eintragen
10 de Reche fescht häbe ond wädli laufe den Rechen fest halten und schnell laufen
11 Bumeranzeschölferesirup Orangenschalensirup
12 Heuläätere Heuleiter
13 Sprotze Sprossen
14 Schlick Knoten
15 Bodi Burde
16 Chlöckle am Glaas leichtes Klopfen am Barometer
17 Müedi Müdigkeit

Jaeggy, Fleur

Die seligen Jahre der Züchtigung

Fast drei Monate waren vergangen, das zweite Trimester näherte sich dem Ende, und ich hatte Frédérique im Stich gelassen. Jeden Abend wenn ich in meinem Bett lag und die Deutsche schlief, ihre Ohrringe schön auf dem Kissen drapiert, durchlief ich die Zeit mit Frédérique; sie und ich gingen spazieren, und manchmal sprach ich laut, ohne es zu merken. Ich nahm mir vor, am nächsten Morgen zu ihr zu gehen. Alles würde wieder so sein wie früher. Am nächsten Morgen gab ich meine Vorsätze auf. Wenn ich sie auf dem Gang traf, lächelte sie mir zu, ohne stehenzubleiben. Sie gab mir nicht einmal die Chance, mit ihr zu sprechen. Sie wich mir aus wie ein Schatten; wenn wir im selben Raum waren, gelang es mir nicht mehr, mit Micheline zu lachen, und ich hörte nicht auf, Frédérique anzustarren, in der Hoffnung auf eine Reaktion oder ein Zeichen. Aber sie liess sich nicht beirren.

Frédérique hat mich in diesen Monaten nie gesucht. Eher war ich es, die versuchte, mich mit meinen Greisenhänden an ihr festzuklammern. Eines Tages kam die Nachricht, dass ihr Vater gestorben sei. Und dass Frédérique abreisen werde. An dem Tag geriet ich in Panik. Es war etwas Unwiderrufliches. Ich rannte in ihr Zimmer. Sie sprach sehr freundlich zu mir, sie werde zur Beerdigung ihres Vaters fahren und nicht mehr ins Bausler-Institut zurückkehren. Ich begleitete sie zu dem kleinen Bahnhof von Teufen. Warm war es, der Himmel war blau, in der Ferne verschleierte ein Dunst die Unendlichkeit. Die Landschaft war berückend. Es war drei Uhr nachmittags. Sie sprach kaum, sie ging schnell. Ich hatte Angst, ich ging hinter ihr und lief immer wieder, um sie einzuholen.

Ich erklärte mich, erklärte ihr meine Liebe. Mehr als an sie wandte ich mich an die Landschaft. Der Zug wirkte wie ein Spielzeug, er fuhr ab. Ne sois pas triste. Sie hatte mir noch ein Briefchen in die Hand gedrückt. Ich hatte das Wichtigste in meinem Leben verloren, der Himmel war immer noch blau, ungerührt, alles sehnte sich nach Frieden und Glück, die Landschaft war idyllisch, wie die idyllische und verzweifelte Jugend. Die Landschaft schien uns zu schützen, die kleinen weissen Appenzeller Häuser, den Brunnen, die Inschrift ‹Töchterinstitut›, es schien ein von den menschlichen Deformationen unberührter Ort. Ist es möglich, sich in einer Idylle verloren zu fühlen? Eine Katastrophenstimmung breitete sich über die Landschaft. Das Unwiederbringliche traf mich an einem der schönsten und klarsten Tage des Jahres. Ich hatte Frédérique verloren. Ich nahm ihr das Versprechen ab, mir zu schreiben. Sie gab es mir, aber ich spürte, dass sie es nicht halten würde. Ich schrieb ihr sofort einen leidenschaftlichen Brief, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagte. Ich wartete auf eine Antwort. Ich spürte, dass sie mir nie schreiben wurde. Das passte nicht zu ihr. Frédérique verschwindet.

Und so war es, sie ist verschwunden. Ich kehrte ins Internat zurück und verbrachte die Zeit damit zu leiden, was auch eine Form des Zeitvertreibs ist. Ich las das Briefchen, das sie mir am Bahnhof gegeben hatte, zwei kleine karierte Blätter, sieben Zentimeter lang. Auf der papiernen Wand schlief ihre Handschrift wie auf einem Grabstein. Ich hatte schon begonnen, ihre Schrift nachzuahmen, ich übte geduldig, bis ich die Perfektion perfektionierte, in der Strenge der Falschheit. Ich las die Blätter wie ein Ornament. Wellen. Sie sprach von metaphysischen Dingen, nicht eine einzige Andeutung unserer Freundschaft. Diese Ermahnung, dieser Betrug, dieser anonyme Ton, ökumenisch und klösterlich, eignete sich für jeden. In der letzten Zeile umarmte sie mich herzlich: eine förmliche Redewendung, eine tote Geste. Wir haben einander nie umarmt, auch von Zuneigung war zwischen uns nie die Rede. Ihr Brief war in gewisser Weise eine Predigt, sie sprach mir bestimmte Qualitäten zu und zugleich einen gewissen Hang zur Zerstörung. Ich bewahrte die zwei Blätter weder wie eine Reliquie auf, noch zerriss ich sie im ruhelosen, düsteren Frühling, um sie ins Nichts zu streuen. Eine Zeitlang trug ich sie in einer Tasche mit mir herum, dann zerknitterten sie, das Papier wurde mürbe und zerfiel, die Tinte verblasste. Frédériques Worte gingen ihrer Beerdigung entgegen. Manche Worte konnten wir mit einem Kreuz und einer Karteikarte markieren.

Kämpf, Matto

Wie es mir im Appenzell erging

Ich schlug den Weg gegen Süden ein. Beim Einbruch der Dämmerung legte ich mich auf eine Wiese und trank ein paar Tropfen Gletschermilch. Darauf sank ich in tiefen Schlaf. Als ich die Augen wieder öffnete, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Ich hörte piepsende Stimmen. Ich drehte den Kopf und sah Zwerge. Sie waren kaum so gross wie ein Finger und hüpften aufgeregt um mich herum. Die Zwerge hatten mich mit Seilen an den Boden gefesselt. Sie schrien auf, als ich mich vergeblich aufzurichten versuchte. Die Zwerge waren seltsam gekleidet. Sie trugen gelbe Hosen, weisse Strümpfe und rote Westen. Auf ihren Zwergenköpfen hatten sie flache schwarze Hüte. Nun trat ihr Anführer hervor. Er hiess Rondom und bezeichnete mich als bösen Zauberer. Ich sei in schlechter Absicht in ihr Zwergenland gekommen, welches Sönd Wöllkomm hiess. Sie hätten beobachtet, wie ich vor dem Einschlafen ein verhextes Elixier getrunken habe. Daraufhin hätte ich derart laut geschnarcht, dass es den Schauderbaren Fladenbiber von Hundwil schier aus dessen unendlichem Schlaf gerissen habe. Rondom forderte die Zwerge auf, sich zu versammeln und ihre Hände in die Hosentaschen zu stecken. Sie berieten sich und kamen überein, mein Elixier im Lodernden Feuer von Schwellbrunn zu vernichten. Ich musste lachen, was ich auch tat. Ich sagte, da liege ein Irrtum vor. «Schweig, du Zauberflegel», schrie Rondom. Es fanden sich schliesslich einundzwanzig Gefährten, die das Wagnis eingehen wollten, mir mein Fläschchen zu rauben. Sie hiessen Oonack, Gröz, Tösöll, Fenz, Gföll, Vöörig, Ooflood, Holöck, Schwäädlig, Läädliich, Ooleiig, Gotzli, Noodlig, Vööteler, Föchelig, Ääpfoch, Oogföll, Wölzgott, Töbeli, Fidibus und Bläss. Sie begannen ihren Aufstieg hinter meinem Kopf und kletterten an meinen Haaren empor. Sie trippelten vorsichtig über meine Stirn und meine Wangen und rutschten dann vom Kinn den Hals hinunter. Ich musste dafür sorgen, dass sie nicht an meine Gletschermilch herankamen. Ich versuchte mich zu drehen, doch die Zwerge hatten mich gut vertäut. Zum Glück gelangte ich mit meiner Hand an Pirmins Kruzifix in der Hosentasche. Mit der Dornenkrone Jesu konnte ich ein Seil durchwetzen und mich befreien. Die einundzwanzig Gefährten standen entsetzt auf meinem Bauch und sprangen ins Gras. Alle Zwerge machten sich aus dem Staub und ich zog weiter Richtung Süden.

Kaspar, Praxedis

Anderes weiss ich nicht als die Wahrheit

Aber jetzt möchte ich vom Anfang reden. Es stimmt, dass Johann im Alter von elf Jahren als Verdingbub von zuhause weg musste. Später hat er mir einmal einen Brief über diese Zeit geschrieben. Das war unerhört, nie hätte man geglaubt, dass er ein Verdingbub wäre. Leider ist dieser Brief verschwunden. Ja, ich bin halt aufgewachsen mit diesem Bub. Er war mein nächster Bruder, und ich habe immer auf ihn aufgepasst. Nach ihm ist alleweil wieder ein Kind dazugekommen, und so musste mein Bruder in der vierten Klasse zu fremden Leuten.

Meine Mutter hatte zu viele Kinder. Da war nicht alles normal mit unserer Mutter, das hab ich erst in späteren Jahren gemerkt. Zu viele Kinder hatte sie und zuviel Temperament. Ich bin jedenfalls mehr am Vater gehangen und am Johann. Ich hatte nicht viel Schönes in meiner Kindheit. Schon in der zweiten Klasse musste ich waschen und putzen und fegen. Ich erinnere mich gut, wie einmal eine Tante aus St. Gallen zu Besuch kam. Du verlangst zu viel von diesem Kind, hat sie zu meiner Mutter gesagt. Auf dem Steinboden vor dem Haus hab ich die Windeln reiben und waschen müssen. Gefroren und gefroren hab ich dabei. Blasengeschichten hab ich bekommen von der Nässe und Kälte. Das, was ich sage, ist die pure Wahrheit. Anderes weiss ich nicht als die Wahrheit.

Wie damals der dritte Bub zur Welt gekommen ist, hab ich zur Mutter gesagt, jetzt geh ich fort. Ich halte das nicht mehr aus. Es hat ja nur mehr Arbeit bedeutet für mich. Und heute ist es dieser dritte Bruder, der mich alle paar Wochen besucht.

Als ich dann zwanzig war, am Tag vor dem Heiligen Abend, hat in St. Gallen die Scheidung meiner Eltern stattgefunden. Wir haben damals schon in der Stadt gewohnt, weil mein Vater eine Stelle im Restaurant Schützengarten gefunden hat.

Ich hatte immer gute Zeugnisse, aber die höhere Schule konnte ich nicht besuchen, weil es hundert Franken gekostet hätte. Wir aber haben von hundert Franken im Monat gelebt, die ganze Familie. Mein Vater hat für die Bauern Holz gespaltet, noch im hohen Alter hat er ihnen die Kühe versorgt. Als wir klein waren, damals in Appenzell, war er Hilfsarbeiter beim Bauamt. Im Winter hat er Schnee geschaufelt, im Sommer hat er beim Heuen geholfen und Strassen ausgebessert. Wir waren sehr arm. Das Fürsorgeamt hat uns helfen müssen. Als die Eltern dann geschieden wurden, konnten nur die zwei Jüngsten zuhause bleiben, die andern Kinder sind ins Waisenhaus gekommen. Der Johann und ich waren damals schon weg von zuhause. Ich bin mit vierzehn Jahren nach St. Gallen gekommen, als Mädchen für alles in ein Restaurant. Die Wirtin hat dafür gesorgt, dass ich noch eine Weile zur Schule konnte, eine Haushaltungsschule. Johann war zehn oder elf, als er fort musste, nach Ausserrhoden zu einem Bauern. Für ihn war es schon damals aus mit der Schule.

Ich will mich nicht versündigen, aber über meine Mutter kann ich nichts Gutes sagen. Sie hat mich auch nicht gern gehabt, weil sie meinetwegen hat heiraten müssen. Aber ich habe mich nie mit jemandem ausgesprochen darüber. Keinem Menschen habe ich etwas gesagt. Sie aber hat nach der Scheidung schlecht über meinen Vater geredet, der ja trotz allem viel für uns Kinder getan hat. Das war nicht recht von ihr. Jetzt aber ist sie nicht mehr da, und meine Geschwister wären gewiss nicht einverstanden mit dem, was ich da sage. Aber die Leute dürfen ruhig wissen, was mit mir und meinem Bruder los war. Und wenn mein Mann noch lebte – er wäre bestimmt nicht zufrieden damit, dass ich jetzt so deutlich rede. Für meine Mutter aber hab ich bis zu ihrem Tod gesorgt. Ich habe damals in der Fremde schön Geld verdient und sie damit unterstützt, jeden Monat habe ich ihr Geld heimgeschickt. Und auch für meinen Bruder habe ich das Leben lang gesorgt, ich hatte ganze Beigen von Einzahlungsscheinen.

Ja, jetzt muss ich meinen Kropf doch einmal leeren.

In jener Zeit, als mein Bruder Johann von zuhause fort musste, hab ich gar nichts mehr über ihn erfahren. Lange Jahre habe ich nichts mehr von ihm gehört, habe nicht gewusst, wo er war. Mit einundzwanzig Jahren ist er in die Fremdenlegion gegangen, da musste er für drei Jahre unterschreiben. Zuvor ist er von einem Bauern zum andern gezogen im Unterland, im Toggenburg, im Rheintal. In die Rekrutenschule ist er nicht gegangen, dafür haben sie ihn eingesperrt. Wie lang, weiss ich nicht.

Auf die Frage, was für ein Kind Johann war, muss ich sagen, er war ein wunderschöner, lustiger Knabe mit blondem Kraushaar, riesigen blauen Augen und roten Backen. Als ich sechs Jahre alt war, gab es ein grosses Trachtenfest in Appenzell, da hat der Vater uns ein Wägeli mit Heu beladen, einen Rechen und eine Gabel dazugegeben. Mir haben sie eine Tracht angezogen und mich fein gemacht. Aber alle Leute sind stehengeblieben und haben meinen Bruder angestaunt und gesagt, jetzt seht mal, dieses herzige Büebli. Für mich hatte niemand Augen. Mein Bruder aber konnte die Leute anhimmeln mit seinem blauen Blick.

Oh, auch daran erinnere ich mich: Ich war sieben oder acht Jahre alt. Da hat meine Mutter auf einer Gant vom Konkursamt etwa hundert Herrenhüte gekauft. Damit ist sie vors Rathaus gezogen, hat einen Bretterstand aufgestellt und wollte die Hüte den Bauern andrehen. Drei, vier Stück hat sie wohl verkauft an jenem Tag, mehr nicht. Am nächsten Morgen hat sie zu mir gesagt, du hast doch schulfrei heute, Toni, geh und pack die Hüte in eine Chrätze. Lauf damit nach Gonten zu den Bauern, sag einen Gruss von der Mutter, und sie sollen dir einen Hut abkaufen.

Die Chrätze war grösser als ich. Den Johann hab ich mitgenommen, er war vielleicht vier damals. Hand in Hand sind wir also losgezogen, beide waren wir barfuss. Ich glaube, an die zwanzig Hüte hat sie uns eingepackt, lauter Herrenhüte. Schliesslich waren wir bei der Sägerei in Gontenbad angelangt. Das alles läuft jetzt vor meinen Augen ab wie ein Film: Wir sind ins Haus gegangen, haben Grüezi gesagt, einen Gruss von der Mutter, und da sind die Hüte. Ja Kind, wer bist du denn, haben sie gefragt. Ich bin die Medel vom Bölere-Johann, und da sind Hüte zum Kaufen, hab ich gesagt. Da hat der Bauer gelacht, er könne gewiss keinen Hut brauchen. Oben in der Kammer liege ein ganz neuer Plüschhut, auch den brauche er nicht. Und da ist er doch in die Kammer hochgestiegen, hat den Hut geholt und ihn oben auf die Chrätze gelegt. Wir könnten diesen Hut gleich mitverkaufen. Da hatten wir also noch einen mehr. Darauf sind wir ein Stücklein weitergelaufen. Nach einer Weile haben wir uns ans Wiesenbord gehockt zum Ausruhen. Du, sagt da der Johann nach ein paar Minuten, ich glaube, wir müssen gehen. Die Zeit läuft. Da hab ich angefangen zu heulen, denn wir hatten noch keinen einzigen Hut verkauft. In diesem Augenblick ist eine Hochzeit vorbeigekommen mit vier Pferden und einer Kutsche. Da haben wir geschrieen, wünsch Glück, wünsch Glück, und sie haben uns Zuckerbollen zugeworfen.

Wir sind weitermarschiert. Nach einer Weile hat mich der Johann gefragt, du, Toni, was bedeutet das, wenn man eine Hochzeit sieht. Das bedeutet, sag ich, dass sie heiraten.

Nach einer Weile sind wir wieder zu einem Hof gekommen, da sassen die Frauen draussen im Kreis und haben gestickt. Je, bist du eine herzige Medel, haben sie gesagt. Was hast du denn da in deiner grossen Chrätze? Herrenhüte haben wir, sag ich, die hat die Mutter ergantet, und wir müssen sie verkaufen. Zwei Franken hat sie bezahlt, und wir müssen drei haben dafür. Alle drei Frauen haben uns einen Hut abgekauft. Die eine hat ihn gleich aufgesetzt, hat gelacht und gesagt, den kann ich auch tragen, da merkt kein Mensch, dass es ein Herrenhut ist. Ich muss nur ein anderes Band aufnähen.

Und weiter sind wir gelaufen, bis wir in Gonten waren. Da sag ich, komm, Johann, jetzt gehen wir in den Bären, da sitzen immer soviele Männer beieinander. Ich frag einfach die Wirtin, ob ich die Hüte zeigen darf. Ja sowieso, sagt die Wirtin, zeig du die Hüte nur. Und geht ruhig auch in den Saal, dort haben wir eine Hochzeit. Kannst deine Hüte auch dort zeigen. Da sage ich zum Johann, komm, denen sagen wir ein Sprüchlein auf und drehen ihnen die Hüte an. Das war natürlich wieder die gleiche Hochzeit, die wir unterwegs getroffen hatten, und sie haben uns auch gleich wiedererkannt. Wie wir den Saal betreten haben, fingen sie an zu klatschen. Die haben gemeint, wir führen ein Theater auf zu ihren Ehren. Was hast du denn da in deiner Chrätze, haben sie gefragt. Herrenhüte hab ich zu verkaufen, sag ich, meine Mutter hat sie ergantet. Wir geben sie für drei Franken das Stück. Da haben alle die Hüte anprobiert. Männer und Frauen haben sich die Dinger aufgesetzt und hatten ihre Gaudi damit. Alle haben sie schliesslich einen Hut gekauft, auch die drei Schwestern Gmünder vom Sönderli, die immer gesungen haben auf Hochzeiten. Später einmal ist eines der Fräulein Gmünder zu uns ins Dorf gekommen und hat mich in der Schule besucht. Dabei hat sie zur Nonne, die unsere Lehrerin war, gesagt, sie solle auch gut sein zu mir. Ich habe dieses Fräulein Gmünder noch heute vor Augen.

Etwa zwei Stunden hat der Handel im Bären gedauert, dann waren alle Hüte weg. Ganz gewiss haben sie aus lauter Bedauern mit uns gekauft. Eine der Frauen wollte wissen, ob ich denn die Bewilligung bekommen hätte, die Hüte zu verkaufen. Aber natürlich hab ich die Bewilligung, sag ich, die Mutter hat es doch erlaubt. Zum Schluss hat Johann ein Verslein aufgesagt, wie am Schnürchen hat er deklamiert, bi gar en sunnige Maa, s Füürli cha mer nütz ahaa … Bevor wir gingen, ist der Bräutigam gekommen und hat mir geholfen, das Geld nachzuzählen. Es hat auf den Franken gestimmt. Da ist die Sängerin, das Fräulein Gmünder, dazugekommen und hat gesagt, jetzt müsst ihr aber noch für das Sprüchlein einkassieren. Sie hat uns einen Teller gebracht, und ich hab den Johann damit in die Runde geschickt. Ich hätte mich geschämt. Dabei sind noch einmal sieben Franken zusammengekommen. Das war vor fünfundsiebzig Jahren ein Riesenhaufen Geld. Nachher haben wir allen Adieu gesagt. Ich bin zur Braut hingegangen, habe mich bedankt und gesagt, ich wünsche ihr Glück und viele Kinder. Da haben alle gelacht. Und die Grossmütter haben geweint.

Da haben wir also unsere leere Chrätze gebuckelt und sind schnurstracks in die Bäckerei gegenüber gegangen. Dort haben wir für alle Geschwister Nussgipfel gekauft. Wir selber haben jedes zwei gegessen. Und dann noch einmal zwei. Zum Heimfahren haben wir den Zug genommen, und der Johann wollte unbedingt dort sitzen, wo die gepolsterten Bänke waren. Also haben wir uns auf die Polster gesetzt, das war damals die zweite Klasse. Ein Billett hatten wir nicht lösen können, weil der Schalter geschlossen war. Wir würden die Fahrkarte im Zug lösen, dachten wir. Da kommt der Kondukteur und schreit uns an. Raus da, ihr Gofen, was macht ihr mit eueren Nussgipfeln für eine Sauerei. Und wisst ihr, dass das siebzig Rappen kostet hier drin? Da hab ich ihm das Geld hingestreckt, und er hat mir die Fahrkarten gegeben. In Appenzell, sagte er noch, verlangt ihr Schaufel und Besen, und dann putzt ihr eure Sauerei zusammen, verstanden. Natürlich hatten wir ein bisschen Unordnung gemacht mit unseren frischen Nussgipfeln.

Es war eine Riesenfreude, wie wir schliesslich heimgekommen sind mit dem vielen Geld und den Nussgipfeln für alle. Aber den Erlös vom Sprüchlein haben wir der Mutter nicht herausgerückt. Das sei unser Geld, haben wir gesagt und haben es behalten. Du lieber Himmel, wie wir uns gewehrt haben für dieses Geld. Mutter hatte keine Chance gegen Johann und mich. Das blieb unser Geld, das haben wir aufbewahrt wie lauteres Gold.

So war mein Bruder der Kamerad meiner Kindheit. Was ihm gefehlt hat, ist die Liebe. Darum ist er geworden, wie er war. Später habe ich eine Zeit lang jeden Kontakt zu ihm verloren. Ich wusste nicht, wo er war; er ahnte nicht, dass ich inzwischen geheiratet hatte. Später hat er mich manchmal angerufen, oft kurz hintereinander, dann wieder lange nicht. Von sich hat er nie viel erzählt, manchmal nur hat er gesagt, ich hab keine Schuhe, ich hab keine Kleider mehr. Da habe ich ihm Sachen von meinem Mann geschickt, dorthin, wo er regelmässig vorbeikam. Er hatte ja nie eine eigene Adresse.

Meist hat Johann bei den Bauern gearbeitet, und oft genug haben sie ihn ausgenutzt. Er hat geheuet und geholzt und das Vieh besorgt und hat bloss mitessen dürfen zum Lohn. Geschlafen hat er kaum je im Bauernhaus, immer draussen im Stadel auf Stroh. Oft haben sie ihn mit dem Lohn vertröstet und später doch nicht bezahlt.

Keller, Andrea Maria

Gedichte

MUT

wagst du es
die hässlichen kröten
in dir zu küssen
immer
und immer wieder
unbeirrt

bis sie sich
allmählich
verwandeln
oder auch nicht

 

LAUFPASS

ich schenke dir
den laufpass der liebe

geh und folge den spuren der sehnsucht
die ich dir nicht erfüllen kann

geh und dreh dich nicht um
bevor du nicht weit genug weg bist
denn ich stehe versteinert und weine

geh und lass erblühen
was in dir angesät

möge der segen des himmels wie ein zelt
über dir sein und über allen
die dir begegnen

nimm den pass und lauf
die grenzwächter winken freundlich

 

ERDKUNDE

zu den bodenschätzen
des inneren landes
gehören die wörter
mit verbindungsstollen
nach überall

und in stillgelegten gruben
findet sich manchmal
jahrzehnte nach der schürfung
auf dem grund noch
ein schweigender satz

 

TOT GESCHWIEGEN

hinter glockenbimmeln und jauchzern
weiter getragen
gereicht von schweigen zu schweigen
das schwere, dunkle
von ahnen zu ahnen zu uns

und dann und wann
geht einer unter
stösst auf ein riff
da die last zu schwer ward
auf dem seelenkahn

die sprache
zu schwach, zu leicht
zu ungehobelt, rauh und viel zu brüchig
um die unrast aus den tiefen
namenlosen gründen aufzuwiegen

die glut
so viele menschenleben
lang gehütet, gehortet, versteckt
und stumm dem kind vererbt
sie ward zu heiss

von geburt an bürde
und bemüht
nicht zur last zu fallen
der mutter nicht, dem vater nicht
der welt – niemandem

in diesem land
dieser zelle am fuss
der dreifaltigen alpsteinzüge
steht am anfang nicht das wort
es werden taten gesetzt

ein schrei
von zeit
zu zeit
in der wörtergrube
eines herzens erstickt

 

Der Kanton Appenzell Innerrhoden
hat seit vielen Jahren die höchste Suizidrate
in der Schweiz.

Keller, David

Der erzwungene Schlaf

Sein Kopf liegt auf der Tischplatte. Das harte und kalte Holz presst sich an seinen harten und kalten Schädel. Und dazwischen liegen seine Gedanken, in diesem unmöglich kleinen Raum zwischen zwei Kälten, zwei Härten. Doch gleichzeitig machen sich einzelne Geistesmoleküle frei und sausen weg in das irgendwie Umgebende, als ob sich seine Welt in diese Reibung zwischen Holz und Schädel zusammengezogen hätte. Er weiss, dass zu gehen richtig gewesen ist. All die Gespräche, die unnützen Wörter, die wie Papierflieger von aufgesetzt lächelnden Mündern zu anderen hin- und hergeflogen sind. Er hat es nicht ertragen. Ihm blieben die Flieger in der Kehle stecken und knüllten sich dort zu kleinen Bällchen zusammen, die ihn beinahe erstickt hätten. Es ist ihm nicht ganz gegenwärtig, wie lange er schliesslich geblieben ist. Zwanzig Minuten oder etwas mehr … vielleicht eine halbe Stunde. Und es hat ihn Überwindung gekostet, die Muskeln seiner Beine in Bewegung zu setzen und zu gehen, denn es ist ihm jetzt, zwischen harter Materie eingeklemmt, bewusst, dass man eigentlich so etwas nicht machen darf. Und als er auf dem Weg nach draussen auch noch Paul getroffen und sich dieser bekannte Unbekannte nach seinem Befinden erkundigt hat, obwohl es ihn doch kaum interessiert haben dürfte, da wurde das Papier in seinem Hals zu einem Klumpen, den er mit seinem Speichel nicht mehr aufzuweichen vermochte. Also ist er gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Ohne Erklärung. Doch hier und jetzt, zwischen Tisch und Schädel, steigert sich seine Erinnerung zur Vision eines hysterisch gewordenen Menschen, unfähig zu funktionieren.

Sein Bewusstsein schwindet für einen Moment. Verliert sich. Kommt wieder zurück, indem sich die beiden harten Platten langsam aneinander aufwärmen. Es ist eine unangenehme Stellung. Lustlos versucht er etwas Schönes, bevor er aufsteht und die Augenlider für die zu weit geöffneten Pupillen, schützend gegen die Halogenlampe an der Decke, zusammenpresst. Nachdem das Licht wieder ins richtige Mass gerückt ist, läuft er ans andere Ende des Raums. Er betrachtet seine Habseligkeiten und ein paar Bücher über Computer, Internet, Cyberzukunft. Langsam schlendert er ins Wohnzimmer und ans Fenster, sieht unten einen Menschen lächelnd vorübergehen und denkt an Programmierfehler. Er weiss nicht so recht, was er mit sich anfangen soll, und steht daher einen Moment lang herum, während sich seine Gedanken wieder in den rätselhaften Schädelinnenraum zurückziehen. Er hört die Fragen von vorhin: Wie es ihm denn so ginge, was er so mache, wo er denn wohne. Und selbst jetzt sperrt sich seine Zunge, eine Antwort zu formen. Er legt sich aufs Sofa, ein altes Ledersofa, das er vor einigen Jahren beim Auszug von seinen Eltern mitnehmen konnte. Es bietet Platz für zwei Personen, was bis anhin nicht nötig war, und zum Liegen ist es eigentlich zu klein. Das hat ihn aber noch nie gestört, und so macht er sich’s gemütlich und schaut an die Decke, wo er immer wieder neue Linien im graupeligen Verputz ausmachen kann. Für ein paar Augenblicke vergisst er sich.

Eine gänzlich unangenehme Wärme steigt in seinen Kopf, als er wieder an Paul denken muss, und er wünscht sich die Kälte der Tischplatte an seinen Schädel zurück. Ruckartig erhebt er sich vom Sofa, weiss, dass er dies alles locker nehmen sollte. Daher stellt er sich vor den Spiegel im Badezimmer und schneidet Grimassen: einen Affen, einen Elefanten, eine Kuh, eine Giraffe. Aber trotz all dieser Versuche will sein Zwerchfell nicht ins Schütteln kommen, und das Lachen bleibt genauso irgendwo stecken wie vorher die Wörter an der Party bei Paul. Also wieder aufs Sofa. Leer atmet er aus und ein und erwartet ein Echo von den kahlen Wänden. Doch nichts geschieht, alles bleibt still und die Gegenstände stumm.

Keller, Stefan

Nägeli

Über Nägeli sind kaum Dokumente vorhanden. Nur ein Brief liegt in den Akten, den Lina, die deutsche Magd, der Chefin im März 1955 in die Ferien sandte und den Nägeli mitunterzeichnete: «Nägeli, Schweinedirektor.»

Ferner eine Urkunde, in Holz eingerahmt, die noch Jahrzehnte nach seinem Tod in der Knechtekammer hing: «Nägeli, Ernst, von Gais, wird hierdurch für 5-jährige, treue Dienste als Knecht bei Frau F. E. in H. die Anerkennung und der Dank des Thurgauischen landwirtschaftlichen Kantonalverbandes ausgesprochen. – Der Sekretär. – Der Präsident.» Eine farbige Lithografie über dem Text zeigt ein grosses Heufuder. Zwei Männer unter einem schattigen Baum. Ein Mädchen mit Kopftuch und blauer Schürze, das ihnen den Mostkrug reicht.

Es wird, sagt Nägeli zu den Bauern, eine Zeit kommen, in der man das Heu in der Scheune trocknet.

Der spinnt, sagen die Bauern, den sollte man versorgen.

Und das Getreide, sagt Nägeli, wird auf den Feldern gedroschen werden. In Amerika machen sie es heute schon so.

Amerika ist dort, wo das Christkind kalbert, sagen die Bauern.

1936 erkundigte sich die Chefin beim Eidgenössischen Auswanderungsamt nach möglichen Zielen für ihren Schweineknecht: Nägeli sei «keiner von denen, die etwas auf dem Kerbholz haben und deshalb verschwinden möchten», schrieb sie. «Es steckt einfach ein unwiderstehlicher Drang in dem Menschen, fremdes Land zu sehen und Geld zu verdienen.»

Die Knechtekammer liegt im Nebengebäude über dem Rossstall. Die Magd wohnt in der Mansarde im Haus der Chefin. Thurgauer Dienstboten in den 1950er Jahren hätten keinerlei Aufstiegschancen und seien dazu verurteilt, ihr Leben lang ledig zu bleiben, hält eine zeitgenössische Studie des Bauernverbandes fest. Sehr treue Knechte bekommen ausser der Urkunde mit den mosttrinkenden Männern schliesslich eine Silberkette mit Plakette. Eine kleine Uhr an dieser Kette trägt Appenzeller Motive auf der Rückseite; ich habe sie auf dem Flohmarkt für Nägeli dazugekauft. 25 Jahre nach Aufhebung seines Grabes irgendwo im Ausserrhodischen.

Kessler, Paul

Kishon, Ephraim

Klauser, Hans Peter

Das Leben auf der Alp

Röbi Diem, Urnäsch 1943

 

Am frühen Morgen schon ist der Kalthüttensenn am Käsen. Während unter dem mit Milch halb gefüllten kupfernen Kessel das Feuer schon brennt, ist er im halbdunklen Milchkeller noch mit dem Abrahmen der über Nacht gestandenen Milch beschäftigt. Mit der flachen, kreisrunden Rahmkelle, der ‹Schueffe›, fährt er behutsam unter die Rahmschicht und sammelt den Ertrag im ‹Rommeemmer›. Mit der Milch aus den entrahmten Näpfen vermehrt er rasch den Inhalt des Käskessis. Nachdem er immer wieder mit dem Ellbogen die Wärme der Milch geprüft hat, entnimmt er einer Büchse mit einem winzigen Masslöffelchen, kaum so gross wie ein Fingerhut, das Lab, ein weisses Pulver, das aus dem Magen von Kälbern hergestellt ist. Die kleine Menge rührt er nun in die hundertzwanzig Liter Milch, die in kurzer Zeit zu einer gallertigen Masse gerinnt und vom Sennen mit der Schueffe, nachdem er den Kessel an seinem Galgen vom Feuer weggedreht hat, sorgfältig gewendet und zerteilt wird. Er bringt das Kessi nun wieder über das Feuer und zerkleinert, während der Inhalt sich weiter erwärmt, die noch ziemlich groben Teile mit der Hand, indem er sie mit den Fingern zerdrückt, mit dem Arm meist bis über den Ellbogen in der brockigen Masse. Nachdem die ganze Menge so gleichmässig durchgearbeitet ist, rührt er sie kräftig um mit dem ‹Chäsrüerer›, einem kleinen entrindeten Tännchen. Die weissen Käseteilchen sind nun nur noch brosamen- bis erbsengross, haben sich deutlich von der leicht grünlichen Flüssigkeit geschieden und sinken langsam in ihr unter. Neben den überraschenden Vorgängen fesselt mich immer wieder das Bild des ruhig arbeitenden Sennen. Schon oft habe ich Menschen in ihrer Arbeit, die unbewusste Schönheit ihrer Stellungen und Bewegungen bewundert. Dieser junge, barfüssige Käser am Kessi, beleuchtet von den Flammen des offenen Feuers, erinnert mich in seiner edlen Einfalt an Bilder auf antiken Münzen oder Gemmen. Nun verstärkt er das Feuer, so dass die Flammen hoch aufschlagen; die grünliche Flüssigkeit, in der man die Käseteilchen nicht mehr sieht, beginnt zu dampfen, und nun fährt er wieder mit beiden Armen hinein. Sein gesammelter Gesichtsausdruck sagt mir, dass es um eine entscheidende Handlung geht. Unsichtbar arbeitet er in der Tiefe, wie wenn er den entstehenden Käse immer wieder umarmen würde. Stumm ist er bei dieser Arbeit und nur aus dem Kessi kommen merkwürdige, leise knirschende Töne, vermischt mit lauteren, die vom Reiben an der Kesselwand rühren. Auf dem Gesicht des Sennen verfolge ich den Fortschritt der unsichtbaren Handlung. Nun entspannt sich sein Ausdruck und geht über in den leisen Triumph: «Der Käse ist beisammen!», scheint er zu bedeuten, und schon enthebt der zufriedene Senn der trüben Flut auf beiden Händen einen hellschimmernden Klumpen, aus dem noch das Wasser tropft: den neugeborenen Käse.

Knellwolf, Ulrich

Klassentreffen

Vor der Post wartete Frischknecht auf den gelben Autobus. Er kannte die Strecke genau. Auf der Anhöhe hinter Heiden über die Kreuzung – rechts nach Rehetobel, links nach Oberegg –, weiter geradeaus durch das Dorf Wald mit der Kirche. Von dort aus konnte man Trogen auf der Hügelkuppe gegenüber liegen sehen. In engen Kurven ging es ins Tobel hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf.

Frischknecht stieg am Dorfplatz aus. Vor der Kirche und zwischen den vornehmen Häusern der alten Trogener Handelsfamilien wird jedes zweite Jahr die Landsgemeinde des Kantons Appenzell Ausserrhoden abgehalten. Rechts neben der Kirche steht das niedrigste Haus am Platz, das Gasthaus zur Krone. Mit seiner auffälligen Fassadenmalerei versucht es, sich gegen die Übermacht von Kirche und Bürgerhäusern zu behaupten.

Er setzte sich an einen der eisernen Tische vor dem Gasthaus. Zum Platz hin waren sie durch Sträucher in Kübeln geschützt. Es war kurz vor halb zwölf. Um zwölf Uhr waren sie verabredet. Der Kellner begrüsste ihn. Sie kannten sich. Frischknecht bestellte einen Kaffee. Er trank und wartete. Sein kahler Schädel glänzte in der Sonne.

Den weitesten Weg hätte Theophil Kellerhals gehabt. Schon von Bern nach Trogen zu fahren ist keine Kleinigkeit, wenn man über achtzig ist, aber Kellerhals wohnte nicht einmal in Bern, sondern in der Altersresidenz einer wohlhabenden Berner Vorortgemeinde.

Als einziger Sohn von Missionaren aus dem Emmental in Kanton in China geboren, war er in die Schweiz zur Schule geschickt worden. Wegen seiner schwachen Konstitution hatte er nicht, wie für Missionarskinder damals üblich, die Mittelschule in Basel, sondern im voralpinen Trogen besucht. Nach der Matura hatte er in Basel bei dem von den Nazis aus Deutschland vertriebenen Karl Barth Theologie studiert und dann eine kleine Gemeinde auf dem Land übernommen. Wenig später war er Heimatsekretär einer Missionsgesellschaft geworden, über dreissig Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung.

In Trogen war Kellerhals mit Lukas Rothpletz eng befreundet gewesen, und, hatte man geflüstert, nicht nur platonisch. Von Rothpletz zumindest hatte es als sicher gegolten, dass er Männern mehr zugetan war als Frauen, und es hatte auch niemanden erstaunt, dass Kellerhals lange unverheiratet geblieben war. Erst in vorgerücktem Alter hatte er die Witwe eines Berner Privatbankiers geheiratet. Sie war vor zehn Jahren gestorben, und Kellerhals hatte ausser einem Haus in der Berner Altstadt ein Landschlösschen und ein respektables Barvermögen geerbt.

Schon vor vierzehn Tagen hatte Kellerhals, zittrig, so dass es kaum zu lesen war, an Frischknecht geschrieben, dass er wegen seiner Gebrechlichkeit auf die Teilnahme am diesjährigen Klassentreffen in Trogen leider verzichten müsse, aber die Kameraden und Freunde herzlich grüssen lasse.

Frischknecht sass noch keine Viertelstunde an dem Tisch vor dem Gasthaus, als Lukas Rothpletz in beiger Kolonialbaumwolle und Strohhut aus der Kirche trat und zu ihm herüberschlenderte.

«Ich bin jedesmal entzückt von diesem Platz und dieser Kirche», sagte er. «Und jedesmal, wenn ich hier bin, muss ich dem alten Grubenmann die Reverenz erweisen. Was wäre aus diesem Provinzbaumeister geworden, wenn er in Italien gewesen wäre!»

Lukas Rothpletz kam aus Basel, wo er, seitdem er aus Florenz zurückgekehrt war, wieder in seinem Elternhaus in der Nähe des alten Kollegiengebäudes am Rheinsprung wohnte. Er hatte sich mit fünfundsechzig entschlossen, nach Italien überzusiedeln, und in der Altstadt von Florenz eine Wohnung gekauft. Zehn Jahre später habe er jedoch einsehen müssen, erzählte er gern, dass er halt ein transalpiner Typ sei, und habe deshalb seine florentinischen Zelte wieder abgebrochen. Er war seinerzeit nach Trogen gekommen, weil seine Leistungen am Basler Humanistischen Gymnasium zu wünschen übrig gelassen hatten. Seit Generationen wäre Rothpletz der erste in der Familie gewesen, der ohne Matura hätte durchs Leben gehen müssen. So war er der erste, der sie ohne Griechisch, nur mit Latein schaffte. Dennoch war er Kunsthistoriker geworden und war zuletzt Leiter einer privaten Stiftung von europäischem Format und ausserordentlicher Professor an der Universität in Basel. In Fachzeitschriften publizierte er auch jetzt noch hie und da Aufsätze über entlegene kunsthistorische Themen. «Kommt Kellerhals?» fragte Rothpletz.

«Nein. Er fühlt sich zu schwach», sagte Frischknecht. «Und auch Arnold kann nicht kommen. Seine Tochter hat mich gestern angerufen.»
Arnold Anderegg, begabter Bauernsohn aus dem appenzellischen Hinterland, frühreifer Lyriker, hatte sein Leben als Adjunkt im Staatsarchiv des Kantons St. Gallen verbracht.

«Sein Magen will nicht mehr.»

«Krebs?»

«Man spricht nicht davon, aber ich vermute es.»

«Der arme Kerl», sagte Rothpletz und setzte sich. «Man weiss nicht, was man hat, wenn man in unserem Alter gesund ist. Ich glaube, Arnold hat nie verdaut, dass er nur Adjunkt geblieben und nicht Staatsarchivar geworden ist.»

«Meinst du? Ich hielt ihn nie für besonders ehrgeizig. Und an der Welt hat er eigentlich schon immer gelitten. Erinnerst du dich noch an seine Aufsätze? ‹Gut›, sagte der alte Knall oft, ‹sehr gut, Anderegg, aber viel zu pessimistisch. Wie wollen Sie mit dieser Haltung durchs Leben kommen?›»

«Wer leidet nicht an der Welt? Nur muss man einmal damit aufhören», sagte Rothpletz.

«Die einen hören früh auf, die anderen spät.»

«Zu spät. Wenn der Krebs nicht mehr zu heilen ist.»

Rothpletz hatte einen Campari mit Soda bestellt. «Dann kommt also nur noch Meyer. Sicher wie immer mit dem Auto.»

«Ich habe nichts anderes gehört», sagte Frischknecht.

«Wir werden immer weniger», sagte Rothpletz, «jetzt, wo auch Ernst Winter nicht mehr kommt. Ich habe es bedauert, dass ich ausgerechnet in der Zeit in London war, als er starb. In der National Gallery waren die Holbein-Zeichnungen aus Windsor Castle ausgestellt. Wie war denn die Beerdigung?»

«Nicht aufregend», sagte Frischknecht. «Meyer nahm mich mit dem Wagen mit. Es war, wie es ist, wenn ein alter Jurist in einer Kleinstadt wie Weinfelden stirbt, der früher einmal Gemeinderat, dann, ich weiss nicht wie lange, Kantonsrat und schliesslich Oberrichter gewesen ist. Kränze, Fahnen, Reden. Die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt.»

«Er schien letztes Jahr noch recht beieinanderzusein», sagte Rothpletz. «Ich erinnere mich, wie er dort um die Ecke kam. Wir sassen schon hier und sagten noch, er sei erstaunlich gut zu Fuss.»

«Es fehlte ihm auch nichts bis ans Ende», sagte Frischknecht. «Er hatte alte Kollegen in Frauenfeld getroffen und mit ihnen Karten gespielt, wie jeden Monat einmal, war fröhlich nach Hause gekommen und gesund zu Bett gegangen. Am nächsten Morgen fand ihn seine Frau. Tot. Herzschlag im Schlaf.»

«Ein Tod, wie man ihn sich wünscht», sagte Rothpletz. «Hast du einen Kranz bestellt?»

«Ja», sagte Frischknecht.

«Und wer führt nun die Kasse?»

Bisher hatte Winter die Kasse geführt, in die jeder jedes Jahr etwas einlegte, damit die Kränze bei den Bestattungen bezahlt werden konnten. «Interimistisch habe ich sie zu mir genommen», sagte Frischknecht.

Die Kirchturmuhr schlug zwölf.

Koller, Walter

Innerrhoder Strophen

Alpsoomer

Hesch chozlig khööt, am Moge früe,
das Zaure ond das Singe?
Veruus de Senn ond d Schöllechüe.
De Bläss het schulig z springe.

Etz iss im hööche Beg recht Lenz.
Choscht au zo meer i d Hötte?
I miech der geen en guete Fenz,
denn weemer Schölle schötte.

Das ischt de zwoor de schöner Tääl
vo ösem Älplerlebe.
Gliich wär die Zit meer niemols fääl,
das ischt nüd öbetrebe.

Viil oogstääts Wetter, vilmoll Schnee
jo, s chönt der scho velääde.
Me gieng em liebschte wider hee.
Cha s Vech esoweg wääde?

Eso goots ebe uuf ond ab,
hescht Freud, denebscht au Joomer.
I choze Woche goots dörab.
Wie gschwind vegoot de Soomer.

Jo, Gottvetraue bruucht de Senn,
denn d Chraft choont os em Globe.
För s Gföll ond s Freitue cha gad enn
ond de ischt z obescht obe.

 

Landsgmeend

En uuraalts Recht ond au e Pflicht
macht dii zom Landsgmeendmaa!
E Stölzli lüüchted us dim Gsicht,
jo, taascht di freue draa!

De Dege säät ee Woot: Bischt frei!
Mit Vögt hescht du ke Schuur,
du taascht entschääde: Jo ond Nei
als Appezöller Puur.

Gaaz billig chooscht zwoor nüd devoo,
e Hööggli hangt am Gschenk!
Wottscht wohrhaft frei im Ring inn stoo,
bruuchscht gsonde Sii ond Denk.

Di hütig Zit verlangt s vo deer,
alls z wege mit Verstand.
Das tuescht am End em Herrgott z Ehr
ond au dim äägne Land.

Ass d Landsgmeend au i Zuekunft bliibt,
das hangt vo deer gad ab,
wer i Gedanke nüd alls siibt,
de schufled ere s Grab.

Bi Wahle ond bi alle Gschäft,
stimm mit em Chopf, mit Sii,
denn gescht em Land di sebe Chreft
wo nötzid – dii ond mii!

 

Zaure

Hescht mengmoll z lötzel Göld im Sack
ond sös e schlechti Luune,
het d Frau nüd grad de Berenack,
gets witers nütz zom Stuune:
e Zäuerli, das hölft im Schwick,
du chascht d Sekunde zölle
ond scho im nöchschte Augeblick,
do werds e Schööpli höller.

No mengem fäält e chli Humoor,
sös woorli nütz im Lebe,
trotz Göld ond Guet, so chonts em voor,
bi demm sei alls vergebe.
Was gäb en Riiche au för daa,
chönts demm emol gad glinge,
er stimmt en frische Jodel aa,
sis Heez wöör z frede singe.

Drom rüemi meer halt z Fredeheit,
si wegt wie Millioone,
de Frede ond au Gmüetlichkeit,
die gend em Lebe d Chrone.
Ond luegscht mi aa ond frogscht mi au:
Tuets dii nüd eppe trüüge?
Los, d Alpeblueme Herisau,
die cha der das bezüüge!

Koster, Dora

Nichts geht mehr

Die Geburt meines Kindes
Wann kommt Ihre Strassenmischung endlich? Die Hebamme im Kantonsspital blätterte in einer Illustrierten. Mein Bauch war hart, alles in mir verkrampfte sich. Die lieblosen Worte verstärkten meine Wehen, doch gebären konnte ich nicht. Volle sechs Wochen hatte ich schon übertragen, aber die Ärzte waren nicht bereit, die Geburt einzuleiten.

Sie bekommen ein uneheliches Kind, da müssen wir vorsichtig sein, entschuldigten sich die Herren.

Es war der 28. Juli 1965, morgens um acht Uhr. Der Blasensprung war schon längst vorbei, als die Schwester mich eine Sau nannte. Wie sollte ich nur mein Kind zur Welt bringen, wenn ich Hemmungen hatte. Die Nacht durch hatte mich die Hebamme so geplagt, ich spürte ihre ganze Abneigung, weil ich ein lediges Kind zur Welt bringen wollte. Keine Handreichung, nichts ausser spitzen Bemerkungen hatte ich noch während der Presswehen zu hören. Mein Kind kam nicht. Kurz nach acht Uhr betraten ein Arzt und eine andere Hebamme das Zimmer. Man wunderte sich, dass ich nicht gebären konnte.

Geben Sie sich Mühe, mahnte der Arzt, sonst stirbt Ihr Kind, entspannen Sie sich.

Wie soll ich nur, ich kann nicht mehr, nach all den Schikanen der Nacht hatte sich mein ganzer Körper verkrampft. Die Ablösung trat an mein Bett, lächelte mich an und sagte: Vergessen Sie Ihren Kummer, denken Sie an Ihr Kind, liebe Frau, wir schaffen es schon.

Johanna hiess die freundliche Hebamme, sie gab mir die Hand, wir schauten uns in die Augen und siehe da, meine Tochter kam zur Welt, ohne dass ich noch Schmerzen verspürte. Meine erste Frage war: Hat sie alle Beine? Wie bei allen Müttern war meine erste Sorge: Ist es auch ganz gesund? Nach dem ersten grossen Glück kam schon die Angst. Man wird mir das Kind wegnehmen. Es fehlt der Vater. Obwohl es mir sehr peinlich war, dass mich kein Mann besuchte, der sich als Vater der Kleinen vorstellte, scheute ich mich nicht, an meine Bekannten Karten zu senden: Ich freue mich über die Geburt meines Kindes.

Nach sieben Tagen fuhr ich nach Basel in ein Heim, das von Katharinenschwestern geleitet wurde. Mein Ziel war, dort zu arbeiten, um mein Kind bei mir behalten zu können. Auf die Strasse wollte ich nie mehr zurück. Das Glück, endlich jemanden zu haben, der mir allein gehörte, dauerte nicht lange. Der Weg zurück in ein ordentliches Leben hatte sich nicht gelohnt.

Abfuhr
Der Verenahof war ein Heim für Babies und Mütter. Ich konnte schon am ersten Tag bei den neugeborenen Kindern mithelfen. Ich hatte dadurch auch Gelegenheit, ständig in der Nähe meiner Tochter zu sein. Man hatte für mich einen Lohn von hundertfünfzig Franken angesetzt. Später sollte ich zweihundert Franken erhalten. Mir war das recht so, obwohl ich auf der Strasse dazumal das Fünffache in einem Tage verdienen konnte. Mit meinem Kinde unter einem Dache zu leben, schien mir wichtiger. Zürich, das Niederdorf hatte ich gerne vergessen. So dauerte mein Glück zwei Monate lang.

An einem Morgen betrat die Oberschwester mein Zimmer mit der Bemerkung: Machen Sie die gestohlenen Sachen heraus!

Mich traf fast der Schlag. Wie bitte? sagte ich. Was wollen Sie von mir?

Die gestohlenen Sachen! wiederholte die Schwester. Mir blieb die Sprache weg. Wir wissen, dass Sie ein paar Monate in Zürich auf dem Strich waren, also können nur Sie die Ware gestohlen haben, die im Hause fehlt.

Ich schämte mich, schrie verzweifelt immer wieder: Ich habe nicht!

Doch die Schwester beharrte darauf: Heraus mit dem Zeug! Bei mir brannte die Sicherung durch. Ich startete einen Amoklauf zum Lohnhof.

Wenn Sie zur Polizei gehen, dürfen Sie das Haus nicht mehr betreten, sagte die Leiterin.

Ist mir egal! rief ich zurück. Ich will die ganze Angelegenheit abklären.

Auf dem Polizeiposten war ich recht aufgelöst. Die Beamten versprachen mir, der Sache nachzugehen. Als ich wieder in den Verenahof zurückkam, stand die Leiterin vor der Türe: Sie brauchen nicht mehr zu uns zu kommen.

Mein Kind ist in diesem Hause! gab ich zur Antwort.

Nehmen Sie ein Glas Wasser, beschwichtigte mich die Schwester und hielt mir eine Pille hin. Als ich die Augen öffnete, befand ich mich in einem Auto. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass wir uns hinter dem Hauptbahnhof in Zürich befanden.

Was haben Sie mit mir gemacht? sagte ich zur Schwester. Ich hatte Mühe, meine Zunge zu bewegen, mein Gaumen war trocken, ich lallte wie eine Halbgelähmte. Ach so, dachte ich, die haben mir eine starke Droge gegeben und mich dann ins Auto verfrachtet.

Wo fahren wir hin? fragte ich die Schwester.

Zum Stadtarzt.

So eine Schweinerei, dachte ich, aber ich war so müde, ja, ich konnte nur mit grosser Mühe die Augen offen halten. Beim Stadtarzt gab ich mir alle Mühe, die Situation zu erklären. Er merkte, dass etwas faul war. Was wollen Sie jetzt tun, nachdem man Sie abgeschoben hat? fragte er mich.

In dieser Situation bleibt mir auch nicht viel anderes übrig als ins Niederdorf zurück, erklärte ich. Mein Kind hatten die Schwestern in Basel zurückbehalten. Ich stand da ohne Geld, hatte kein Zimmer und niemanden, der mich erwartete. Dass ich verbittert war, muss ich wohl nicht betonen. So landete ich wieder in einer Stammkneipe im Niederdorf. Die Dirnen nahmen mich freundlich auf. Man half mir, ein Zimmer zu finden, und ein Mädchen sorgte fürs erste, dass ich mit ihr zusammen anschaffen konnte.

Erst viele Wochen später habe ich erfahren, wer im Verenahof geklaut hatte. Die Schwestern fanden es aber nicht nötig, sich bei mir zu entschuldigen, obwohl sie mich wieder ins Milieu brachten. In der darauffolgenden Zeit versuchte ich etwas Geld zu beschaffen, dann inserierte ich in Zeitungen. Es war mein Wunsch, mein Kind bei mir zu haben, ich suchte eine passende Stelle. Als Dirne wollte ich auf keinen Fall weitermachen, obwohl ich mich langsam aber sicher bei den Frauen am wohlsten fühlte. Eines Tages hatte ich die Zusage von einem Arzt. Wir holten mein Kind in Basel, und ich arbeitete bei diesem Arzt für zweihundert Franken im Monat. Das Geld reichte knapp für die Wäsche und das Nötigste. Gefallen hat es mir überhaupt nicht, doch das Zusammensein mit meiner Tochter liess mich den Rest vergessen. Eines Tages zog die Familie Doktor in die Ferien, ohne mir auch nur einen Franken dazulassen. Ich hatte keinen Zugang zu den Lebensmitteln. Geld hatte ich keines. So kam es dann, dass ich fieberte und einen Arzt brauchte. Der wies mich in das Spital ein mit der Bemerkung: Sie haben eine Anämie. Ich war unterernährt, wie auch meine Tochter, und das in der Hochkonjunktur.

Nach diesem Erlebnis hatte ich genug. Mein nächster Schritt war zu den Behörden. So kann ich nicht weitervegetieren. Ich fand einen Platz für meine Tochter in einem Säuglingsheim. Ich selbst landete wieder auf der Strasse.

Krüsi, Hans

Künstler etc.

Das ist ein Buch von Gott.
Buchmann hat in das
schwarze getroffen. ER
Kommt zu Rechten Zeit. auf die
Minute +Sekund. Das ist der
Lohn Gottes. das mir zukahm
odder zukommt.
Das weitere werden Sie
erfahren.
Hs Krüsi 20.12.80.

 

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Skizzenbuch. 1980/1981.
Kantonale Kunstsammlung Appenzell Ausserrhoden.
© Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen.

 

Kuhn, Heinrich

Schatz und Muus

WIE JEDEN MORGEN STAND ER UM DIESELBE ZEIT AUF.
Er ging hinaus.
Während er sein Medikament nahm, musterte er normalerweise den Hof. Das Beet, das jetzt geräumt war. Den Vorplatz und die Werkstatt des Nachbarn. Und mit einem Blick, dazu musste er jeweils das Fenster einen Spalt öffnen, den Weg hinunter zum Hintereingang des ‹Talhof›.

Jede Veränderung würde ich auf Anhieb erkennen. Das hatte er ihr schon mehr als einmal gesagt.
Warum er heute nicht hinausschaute, hätte er nicht erklären können.

Er ging ins Schlafzimmer zurück und setzte sich auf die Bettkante.
Sie schlief noch.
Jetzt waren die Beine an der Reihe: Zuerst massierte er das rechte, anschliessend das linke.

An einer klaren Ordnung kann man sich festhalten wie an einer soliden Leiter, dachte er befriedigt. Und eine solche Leiter ist gut verankert und hat keine morschen Sprossen.
Was passiert, wenn eine klare Ordnung fehlt, sieht man heute überall.
Jakob hatte er das auch schon erklären wollen. Wenn dieser ihm gesagt hatte, er solle doch einmal fünf gerade sein lassen.

Fünf gerade sein lassen.
Hatte der eine Ahnung.
Was ungerade war, konnte man höchstens zurechtzubiegen versuchen. Erst wenn es gerade war, konnte man es gerade sein lassen.
Er stutzte.
Etwas mit meiner Morgenordnung stimmt heute nicht, dachte er.
Mühsam stand er wieder auf.
Bevor er ans Fenster trat, schaute er auf die Uhr. Ob es letzte Nacht einen Stromausfall gegeben hatte? Dann wäre ich ja zu spät aufgestanden, überlegte er.
Um diese Zeit war es sonst nicht so ruhig.

Gewohnheitsmässig schaute er zu ihr hinüber.
Er erschrak.
Sein Herz begann wilde Sprünge zu machen.
Sie atmet nicht mehr!
Er taumelte, und es gelang ihm nur mit Mühe, sich wieder auf die Bettkante zu setzen. Lichtpunkte in allen Farben wirbelten durcheinander. Ein Geflirr wie auf der Achterbahn.

Ist dir nicht gut?
Wo bin ich, dachte er.

Dann spürte er ihre Hand.
Geht es dir nicht gut? Soll ich dir etwas holen, fragte sie.
Langsam beruhigte sich die rasende Fahrt.
Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Warum kriechst du immer so weit unter die Decke, sagte er. Man sieht ja nicht einmal, ob du atmest.
Den Kopf in die Hände gestützt, blieb er sitzen.
Wenn nur ich zuerst gehen kann, sagte er vor sich hin.
Ich habe dich nicht verstanden, sagte sie.
Jetzt hat ihre Stimme wie eine Kinderstimme getönt, dachte er.
Das macht nichts, sagte er. Es ist nicht wichtig.

Noch unbeholfen erhob er sich und zögernd trat er ans Fenster. Mit einem Finger schob er den Vorhang zur Seite.

Es schneite.

Der Platz war weiss.
Die Brunnensäule in der Platzmitte trug einen weichen Hut. Die Strassenlampen warfen gelbe, unmerklich schwankende Lichthöfe in den Schnee.
Das Wirtshausschild des ‹Talhof› war so verkrustet; dass es wie ein Raubvogel aussah.
Von der Wirtshaustür führte schnurgerade eine Fussspur zur Bäckerei hinüber.
Auf den Nebenstrassen, die vom Platz abzweigten, war noch nicht gepfadet worden.
Und auf der Hauptstrasse lag ein dichter, flachgepresster Schneebelag.
Die eckigen Konturen der kahlen Bäume waren weich geworden.

Er drehte sich um und sah sie zärtlich an.

Dann schaute er wieder auf den Platz hinunter. Es hat geschneit, sagte er. Und es schneit immer noch. Deshalb hat heute morgen meine Ordnung nicht gestimmt. Der Schnee hat alle Geräusche gedämpft.
Und unser Bauamt ist auch überrascht worden. Obwohl der Schnee schon seit einer Weile fällig war.
Wahrscheinlich haben sie noch nicht einmal den Schneepflug gerüstet.
Jetzt ist es Winter, sagte er.
Ab heute stehen wir eine halbe Stunde später auf.
Das ist unser Winterfahrplan.
Im Winter ist acht Uhr noch früh genug.
Er ging wieder zum Bett zurück.
Siehst du, jetzt geht es mir gut.
Er setzte sich ein paarmal rasch auf die Bettkante und richtete sich ebenso rasch wieder auf. Ich könnte Bäume ausreissen, sagte er.
Er legte sich hin.
Jetzt habe ich die Nachrichten verpasst. Er schaute auf die Uhr.
Nullsiebenelf.
Und alles nur wegen des Schreckens, den du mir eingejagt hast, sagte er. Es hätte mich wundergenommen, ob sie etwas von Schnee gesagt haben.
Sie suchte seine Hand. Wir haben das Wetter ja vor der Haustür. Genügt dir das nicht?
Die Wetterprognose gehört auch zu meiner Ordnung, sagte er.
Du und deine Ordnung, sagte sie.

Heute will ich Annina und Jakob anrufen, nahm sie sich vor. Ich habe den Kindern versprochen anzurufen, wenn es bei uns zum erstenmal schneit.
Wahrscheinlich telefoniere ich am besten vor dem Mittagessen. Dann sind alle zu Hause.
Sie drehte sich auf seine Seite.
Heute lade ich dich zum Mittagessen ein. In den ‹Talhof›. Bist du einverstanden?
Genehmigt, sagte er. Ohne Gegenstimme.
Vor dem Mittagessen will ich nur noch rasch beim Bahnhof vorbeigehen.
Ob sie mit dem ersten Schnee fertig geworden sind?
Heute wird es überall Verspätungen geben.
Wenn nur wir mit dem ersten Schnee fertig werden, sagte sie.

Von draussen hörte man das Brummen eines schweren Motors, der in gleichmässigen Abständen hochtourig lief und dann wieder abflachte. Dazwischen liess sich ein helles, durchdringendes Schaben wahrnehmen.

Jetzt haben sie den Pflug doch noch gefunden, sagte er. Es war höchste Zeit. Und wenn mich nicht alles täuscht, ist auch Hugentobler schon an der Arbeit.
Heute ist sein Wischtag, sagte sie.
Schon recht, sagte er, das stört mich nicht, nur wie er schaufelt!

Es war auch schon so, dass der erste Schnee liegengeblieben ist, sagte sie.
Es schneit ruhig und senkrecht, sagte er.
Und so ruhig, wie er kommt, wird er wieder gehen. Also wird dieser Schnee wohl einige Zeit liegenbleiben.

Rück ein wenig näher zu mir, sagte sie.
Wenn ich nicht unter die Decke kriechen darf, habe ich zu kalt.

Er rückte ein Stück hinüber.
Jetzt musst du mir ein Stück entgegenkommen, sagte er. Und dann bin ich wieder an der Reihe. Weisst du noch?
Und ob, kicherte sie und rutschte ein bisschen nach rechts.

Ja, ja, Muus, sagte er. Wenn ich dich nicht hätte.

Kuhn, Matthias

Wortwerk

Anmerkungen zur Geschichte

Schon 1998 hatte der damalige Direktor des Wortwerks, Franz Wenzel, eben zum Generalvertreter der tongue tongue Hongkong für die Schweiz ernannt, in einem Schreiben an die zuständige Stelle in Berlin betont, dass die Vorfälle um den nie aufgeklärten Mord im Hôtel du Sauvage in Meiringen, der später durch die ermittelnden Beamten in einem engen Zusammenhang mit den Zürcher Ereignissen vom Herbst desselben Jahres gesehen wurde, nach den eigenen Einschätzungen keine weiteren Kreise würden ziehen können und damit einem breit abgestützten, professionellen Textrecycling auch in der Schweiz nichts mehr im Wege stünde. Diese Einschätzung, müssen wir heute eingestehen, war kurzsichtig. Die in der Folge in Bern gegründete, und nachher vor allem auch in Basel und Zürich aktive Bewegung ARSCHLICH (Aktion gegen das Recycling schöner Literatur in der Schweiz) verfolgt bis heute verbissen ihr Ziel, dem Recycling Schöner Schweizer Literatur Einhalt zu gebieten. Eine falsche Ehrfurcht vor dem einheimischen literarischen Schaffen treibt die Aktivisten in den Untergrund, von wo wir sporadisch ihre Kampfrufe vernehmen.

Das Wortwerk nahm damals – 1998 – wie folgt Stellung: «Die Generalvertretung der tongue tongue Hongkong in der Schweiz ist der Meinung, dass hinter der Aktion ARSCHLICH Personen stehen, die vor allem als Folge und im Vakuum des Auftritts der Schweiz an der Buchmesse in Frankfurt mit allen Mittel zu kaschieren versuchen, dass es eine Schweizer Literatur eigentlich nicht gibt und also einem Recycling derselben nichts im Wege stehen kann. Der Versuch, die Literatur, die in unserem Lande geschrieben wird, dazu zu missbrauchen, eine (neue) nationale Identität aufzubauen, muss unserer Meinung nach fehlschlagen, da sich Schweizer Literatur in nichts von deutschsprachiger Literatur unterscheidet.»

Die Ziele der Aktion ARSCHLICH sind fast verwirklicht. Einem letzten Aufruf der tongue tongue Hongkong im Spätherbst 1998, die Schweizer Literatur endlich konsequent dem Recycling zuzuführen, stiess weitestgehend auf taube Ohren. Es wurde nicht ein einziges Werk zur Verarbeitung eingereicht. In der Schweiz existiert bis heute, ganz im Gegensatz zu unseren deutschsprachigen Nachbarländern, nur eine spärliche und meist im Verborgenen produzierte Recyclingliteratur. Daran haben leider auch die wiederholten deutlichen Stellungnahmen des Obernarrators sowie die Besuche der engagierten und seit 10 Jahren festangestellten Autorin Petra Coronato in der Schweiz nichts geändert.

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Anstatt sich ihren Kernaufgaben widmen zu können, sehen sich die Hongkonger Textrecycler heute grotesken Vorwürfen ausgesetzt, die ihre Arbeit torpedieren. Ich zitiere aus einer Mitteilung aus dem Jahre 2002 aus Berlin: «Der jüngste Verdacht, dass die Firma doppelt abkassiere, indem sie nicht nur Recycling, sondern zugleich dessen Strafverfolgung betreibe, ist gänzlich aus der Luft gegriffen, auch wenn die öffentlichen Bemerkungen der Liquidatoren, Intercheating sei eine Anomalie, die zwar ausgefeilteren Betrug am Text, aber in gleicher Weise auch seine Ahndung ermögliche (Altmann), und Recycling lasse sich mittels geeigneter Suchbegriffe schon am Klappentext erkennen und bis zum Entnahmeort verfolgen (Sündbart), einen neuen Skandal befürchten lassen, der die Glaubwürdigkeit der Schönen Literatur auf eine harte Probe stellen wird.»

Die Worte, das erkennen wir nur zwei Jahre später überdeutlich, waren geradezu prophetisch. Die Vorwürfe werden sowohl von den Urheberrechtsbehörden als auch von der Literaturkritik bei jeder sich bietenden Gelegenheit erhoben und die Autorinnen und Autoren damit gebrandmarkt. Diese Praxis läuft den offen Konzepten (Open Concepts im Sinne der Open Source-Konzepte) konsequenten Recyclings Schöner Literatur diametral entgegen. Es geht bei den hier propagierten Recyclingverfahren nicht um eine Zerstörung von Texten, sondern um eine Neukonstruktion veralteter oder unbrauchbar gewordener Texte, es geht nicht um eine Verminderung des Textwertes, sondern im Gegenteil um eine Wertmehrung. Dies zu begreifen war die Zeit 1998 noch nicht gekommen, und sie ist es auch heute nicht.

«Trotzdem, oder gerade deswegen», schreibt Matthias Kuhn, «möchte ich im Namen des Wortwerks als Generalagent der tongue tongue Hongkong in der Schweiz betonen: Literatur, die in der Schweiz geschrieben wird, ist in hohem Grade – Tests im Erzeugerland beweisen es – recyclierfähig! Wir müssen uns für ein Recycling der Schweizer Literatur einsetzen! Wir sind der Meinung, dass ein konsequentes Recycling manchen älteren und sogar neueren Texte zum Gewinn gereichen würde. Also machen wir uns an die Arbeit!

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Hongkong Sonne! riefen Wenzel und Coronato 1998 in Zürich. Hongkong Sonne! rufe ich heute wieder.»

Kurer, Fred

Hierzulande hat jedermann nur den Säntis im Auge

Säntis 1

Unterm Säntis ganz allein
Wohnt das Appenzellerlein
Häuslein sein ist furchtbar klein
Stübchen Küch- und Kämmerlein

Bauer sein ist Müh und Plag
Und kein schöner Allestag
Auch des Blässen tief Wauwau
Schaffet her noch keine Frau

Bauer werket dass es kracht
Und der Rücken krumm sich macht
Reich zu werden nicht gelingt
Selbst wenn Zäuerlein er singt

Kopf und Taschen sind oft leer
Und es fehlt Geschlechtsverkehr
So muss Bauer abends sinnen
Und sein Dasein geht von hinnen

Steht verloren auf dem Mist
Fragt sich was das Dasein ist
Schaut dann auf die Wiese wohl
Düngt sie aufs Geratewohl

Bauer sein ist gar nicht leicht
Weil dabei die Zeit entfleucht
Alle Menschen fliegen aus
Bäuerlein nur bleibt zuhaus

 

Säntis 8

Ich
Appenzell
Habe dich

Fässler Adalbert
Kunstgewerbe und Sennenartikel
Hauptgasse 44 und dich
Fässler Albert Landwirt
Lehmerers und dich
Fässler Armin samt Marlis geborene Dörig
Diätkoch und dich
Fässler Franz Chauffeur
Bäbelers 12 und dich
Fässlers Franz Zistli 18 Steinegg und dich
Franz Hirschberg Unter Imm und dich
Hans Fässler Briefträger und dich
Hans Fässler Baggerführer und dich
Hans-Ueli Fässler Meistersrüte
Der du noch immer die wunderbaren Fünfpfünder machst
In deiner Bäckerei und dich
Kunstschreiner Fässler Hermann Söhne und dich
Oh Josef
Meistersrüte Milchzentrale und dich du
Fässler Yvonne

Beim Namen gerufen
Ihr seid

Genau

Und du bist auch
Koller Albert (-Dörig)
Koller Albert (-Rusch)
Koller Anni Unterrain
Koller Arnold Bundesrat
Koller Albert Bahnarbeiter
Koller Bisch Maria (-Neff)
Koller Bruno Landwirt
Koller Sepp Schopfhalde
Koller Thomas Bänkler Schlund
Koller Walter Zimmermann

Ihr seid
Auch ihr

Genau

Genau wie alle Manser

Manser Albert Scheibenlehn
Manser Albert Bahnhofstrasse
Manser Albert Mesmer
Manser Albert (-Heinzer)
Manser Albert Lehnkapelle
Manser Albert Wasserhalten
Manser Albert Landwirt Steig
Manser Albert in Steinegg
Manser Albert Bauernmaler
Wenn keine Antwort hilft dir nix
Manser Albert Rellen
Manser Albert Landwirt Webern
Manser Albert Rütistrasse
Manser Albert Mühleli

Alle seid ihr
Alle

Beim Namen gerufen

Kinder
Hoffentlich
Gottes
Wenn nicht direkt unter so doch
Ganz in der Nähe des Säntis unter dem Himmel
Darüber

Küttel, Richi

Aalti Säck

Juaa, hätt är sich gfreut! So gfreut hätt är sich kum uf öppis, vilicht höchschtens uf d Wienacht, wonär sibni gsii isch und korz vor Hailig Oobed im Schloofzimmer vo dä Elterä underem Bett zuefälligerwiis diä Autorennbaan, wonär sich so seer gwünscht hätt, entdeckt hätt, do hättär diä Wienacht kum chönä erwartä und au jetz hättärs kum chöne erwartä, ganz uufgregt isch är gsii, so uufgregt, wimmer nu cha sii, wänn öppis uf ain zuechunnt, wommer nu vom Hööräsägä kännt und wämmä dem cha Glaubä schänkä, wammä so hört, schtoot ä richtigs Oobentüür aa und är hätt a nüüt me anders chönä tänkä. S eerscht Mool is Schiilaager, s eerscht Mool allai ooni Elterä wägg vo dehai, grossartig! Und dänn isch ändlech au s Infoschriibä vom Lehrer koo, mit dä gnauä Daatä vo dä Hiireis und dä Packlischtä und wammä nöd dörf mitnee und so, und dänn isch dött äbä au dinn gschtandä, dass diä Schiihütte ä bitz abglägä seg und mä mös zeerscht uf dä Schiilift und dänn über d Pischtä zum Huus faarä und drumm segs äbä nötig, dass mä d Sachä im Rucksack mitnämi, und dänn isch diä Freud scho nümm so gross gsii, will är hätt doch kain Rucksack kaa und hätt au sini Elterä kännt, wäg ai Mool Schiilaager gönd diä doch nöd gon än Rucksack kauffä, sicher nöö, do wört dänn aifach i dä Vewandtschaft umägfroogät, so isch da scho mit äm Schiiaazug gsii und drumm faart är jo au nöd Snowboard, sondern Schii, will är doch än Noozügler isch und sini Cousinene und Cousins vill elter sind und drumm isch sin Schiiaazug jo au än neongäälä Overall und sini Schii driisg Santi länger wien är und da hättär bis etz alls vedrängt kaa, aber da isch äm etz alls wider in Sinn koo und är hätt s Schlimmscht beförchtet und da isch dänn au iiträtte. Will sin Vatter hätt dänn tatsächlech diä vewandtschaftlech Telefonketti gschtartet uf dä Suechi nochäme Rucksack, wo dä Bueb möss för da Schiilaager haa, will mä jo nümm normal is Schiilaager chön und zeerscht hätts jo uusgsee, als öb diä Suechi erfolgloos seg, aber dänn hätt sich irgend sonen aaghürootnä Onkel vomänä Cousin erinnerät, dass är no än Coucousin im Züghuus hätt und äbä dää hätt dänn no en Rucksack Baujoor '42 uuftribä, gratis, winner no betont hätt, da seg ä Gschänk, s eerscht Schiilaager seg doch öppis Bsunders und nai, nai, är hätt sich nöd rächt chönä freuä, aber dä Vatter hättän zämägschtuucht, är söll etz nöd wäälerisch sii, dä Rucksack seg guet gnueg gsii för än Soldat, wo a dä Gränzä sis Vatterland vetaidiget heg, do segär au guet gnueg för sonän Schnodergoof, wo s eerscht Mool is Schiilaager gäng und so hättär sich halt i sis Schicksal gfüegt und ghofft, dasän sini Schuelgschpäänli vilicht e chlii cool finded, so i sim Retro-Style, aber chasch tänkä, i dem Aalter hätt no kainä Sinn för ä chli Hipster-Coolness, sicher nöö, do zellt nu, wa ultramodern und neu isch und alli händän uusglachet, won är so vor dä Schuel gschtandä isch, i sim neongäälä Overall und dä aisachzger Lattä und mit dem aaltä Militär-Rucksack ufäm Ruggä und uf dä Car gwartet hätt. Är hätt sich gschämmät und überhaupt nümm gfreut uf da Schiilaager, will är doch gwüsst hätt, wa chunnt, nämli än endloosi Wuchä voller Deemüetigungä und tummä Schprüch wägä sim Rucksack und sim Schiiaazug, und da isch dänn natürli auch koo, all diä Jack-Wolfskin- und Mammut-Models händän uufzogä und än ploogät, Rekrut händsäm gsait, wägäm Rucksack und Lüüchtbanaanä wägäm Schiiaazug, «log emol, do chunnt Rekrut Lüüchtbanaanä» händs grueffä, und im hinderschte Bett im Zimmer hättär mösä schlooffä, dött wo alli am Oobed iri veschwitztä Schiisöck anägschmissä händ und di eerschtä zwai Tääg hättärs jo no ertrait, aber dänn hätts immer mee gäärät inäm, s eerscht Mool ooni Elterä wägg, wie hättär sich gfreut und etz brüüchtär sini Elterä, und da hättän ga no zuesätzlech gärgäret und är hätt jo Wörter wi Mobbing und Diskriminierig no nöd kännt und äs hettäm jo au nüüt brocht, wo hettär sich au solä beklagä, will au d Lehrer händ sich luschtig überän gmacht. Aber s Wort Raache hättär kännt. Und ab em Mittwoch ischär aktiv worä und är isch i dä Nacht uufgschtandä und i d Kuchi gschlichä, zu dä Teechrüeg, wo zum Uusküelä paraat gschtandä sind, und hätt inä bislät. Jedi Nacht hättär in Tee inä bislät, und wennär bi dä letschtä Chrüeg nüt me zbislä kaa hätt, hättär aifach e chli s Pfiifäli inä ghebät unds e chli gschwänkt. Und am nögschtä Morgä hättär mit aim Gnuss zuegluegät, wi alli so torschtig dä Tee trunkä händ und äs hättäm ä ganz ä neus Gfüül ggee, son än Art Macht, ä Macht durch Wissensvorschprung, und da hättär grossartig gfundä und är hätts kum chönä erwartä, i dä Nacht wider uufzschtoo und in Tee zbislä, und diä Deemüetigungä vo sinä Schuelgschpäänli hättär so mit links ertrait und är isch fasch e chli truurig gsii, wo da Schiilaager vebii gsii isch und mit demm äbä au da Machtgfüül, aber scho bald isch s Pfingschtlaager vo dä Jungwacht koo und dött hättär sich wider chönä uusläbä und hätt jedi Nacht wider in Tee bislät und au im Summerlaager vo dä Minischtrante und i dä Berghüttene bi dä Bergtoure mitäm Vatter, immer hättär sich i dä Nacht i d Kuchi gschlichä und hätt i d Teechrüeg bislät. Scho bald ischär als dä schtill, aigä Typ bekannt gsii, won am Morgä immer nu lächlät, aber för iin isch äs s Grööschti gsii, diä Aanigslosigkait vo denä Idiotä, diä haimlech Macht, wonär cha uusüebe, und är hätt sich för jedes Lager gmoldä. Schpööter, wonär gröösser gsii isch, als Helfer, joorelang, und nie händsän vewütscht, winär in Tee bislät hätt, all diä Joor nöö, bis äbä dänn i dem Schiilaager, wonär als Koch mit isch, luschtigerwiis wider ä Schiilaager, dä Krais hätt sich noch joorelangem Teebislä gschlossä, mä hättän vewütscht und äs hätt än Riisäskandaal ggee und nö nu a därä Schuel, irgend än Schüeler hätt no än Hunderter vedient, wilär am Blick än Tipp ggee hätt, und är isch uf dä Titelsittä mit Foti koo, Bisel-Grüsel händsäm gsait, und är hätt dä Job veloorä und d Kolleegä und dänn bald au d Wonig und etz läbtär vo dä Sozialhilf und uf dä Schtrooss und alls, wan är hätt, traitär imänä aaltä Militärrucksack ummä.

Langenegger, Lorenz

Bei 30 Grad im Schatten

Für all das ist es jetzt zu spät, denkt Walter. Oder vielleicht genau der richtige Zeitpunkt, korrigiert er sich, ja, höchste Zeit. Er nimmt sein Telefon aus dem Rucksack. Drei Anrufe in Abwesenheit, dreimal hat man aus dem Büro versucht, ihn zu erreichen. Er drückt die Anrufe weg und ist froh, dass ihm keine Sprachnachrichten hinterlassen werden können. Er schreibt Edith eine Kurzmitteilung. «Ich miete mir in Neuchâtel oder Yverdon eine kleine Wohnung. Was meinst du?» Die Frage löscht er wieder, er möchte, dass sie seiner Mitteilung ansieht, dass er entschlossen ist, etwas zu verändern. Er drückt auf Senden, der kleine Brief flattert davon. Seine Idee macht ihn so froh, dass er für den Moment die Hitze und das Gewicht des Rucksacks vergisst. Er überquert den Helvetiaplatz und glaubt, dass er einen grossen Schritt zur Überwindung des Streits, zur Lösung ihrer Probleme gemacht hat. Während er ungeduldig auf eine Antwort wartet, stellt er erste praktische Überlegungen an. Dass er sich künftig nicht mehr an den Kosten für ihre Wohnung beteiligt, stellt kein Hindernis dar. Bevor Edith ihn kennenlernte, hatte sie die Miete auch alleine bezahlt, und damals verdiente sie noch deutlich weniger. Endlich kann sie sich wieder ausbreiten, er verschafft ihr Raum und Luft zum Atmen. Hat sie nicht schon vor einem Jahr laut darüber nachgedacht, dass sie sich bei der Verwaltung erkundigen könnte, ob nicht eine grössere Wohnung frei würde? Sie hängt an dem Haus und an der Nachbarschaft, aber ein Zimmer mehr, das wäre nicht nur angenehm, sondern auch angemessen, so ihre Überzeugung. In ihrem letzten Lehrjahr hat sie die Wohnung bezogen, inzwischen ist sie in leitender Funktion tätig. Das Mehr an Einkommen führte unweigerlich zu einem Mehr an Einrichtung, ein grösseres Sofa, zu jedem Getränk das passende Glas, ein Teeservice aus Porzellan, dazu die Möbel, in denen all diese Dinge verstaut wurden. Was sie einander und sich selbst in den letzten Jahren geschenkt haben, hat ihnen immer mehr Raum genommen. Nicht ein zusätzliches Zimmer ist die Lösung, denkt Walter, sondern eine zweite Wohnung. Er ärgert sich, dass er das Offensichtliche nicht früher erkannt hat. Es hätte nicht zu diesem hässlichen Streit kommen müssen. In den letzten Jahren ist es mit jeder vollen Einkaufstasche, mit jedem Paket, das der Postbote an die Tür brachte, enger geworden. Was sie in Müllsäcken und im Kompostkübel aus der Wohnung hinaustrugen oder in der Toilette wegspülten, wog bei Weitem nicht auf, was sie alles anschafften. Tag für Tag wurde der Raum in der Wohnung knapper, bis sie sich gegenseitig auf den Füssen herumstanden.

Walters Telefon vibriert. Edith hat verstanden, dass seine Nachricht nach einer unmittelbaren Antwort verlangt. Auf seinen halb entschuldigenden, halb vorwurfsvollen Versuch vom Vortag hat sie zu Recht nicht geantwortet. Im entscheidenden Moment aber kommt ihre Reaktion innerhalb von Minuten. «Viel Glück.» Walter starrt die zwei Worte ungläubig an. Er drückt die Nachricht -hinauf und hinunter, aber mehr hat Edith nicht geschrieben. «Viel Glück.» Das ist alles. Das ist eine Frechheit, empört sich Walter. Was erlaubt sie sich? Der Tag nach einem Streit ist nicht der richtige Zeitpunkt für Ironie, also muss er davon ausgehen, dass sie es genau so meint. «Viel Glück.» Aus den zwei Worten schlägt ihm jenes müde Lächeln entgegen, das er so schlecht erträgt. Er sieht Edith vor sich, wie sie ihre linke Augenbraue hebt und leise verächtlich durch die Nase schnaubt. Es trifft ihn mitten ins Gesicht. Wäre er nicht stehengeblieben, um die Nachricht zu lesen, er wäre zurückgeprallt wie von einer unsichtbaren Wand. Warum nimmt sie ihn nicht ernst? Er ist kein unreifer Bengel, der seinen Kopf durchstiert, er versucht, ihre Ehe zu retten. Aus Ediths Nachricht schlägt ihm die ungebrochene Überzeugung entgegen, dass es nichts zu retten gibt. Sie wünscht ihm viel Glück, weil sie glaubt, dass er nicht versteht, worum es eigentlich geht. Sie, ihre Beziehung, das Leben, die Welt, nichts hat er verstanden, das ist es, was sie mit diesen zwei Worten ausdrückt. Walter möchte sein Telefon am liebsten auf den Asphalt schmettern. Er tut es nicht, wie er noch nie mutwillig etwas zerstört hat, wenn ihm danach war. Auch das, und dieser Gedanke bringt ihn zum Lachen, unterscheidet ihn von einem Halbwüchsigen, der nicht weiss, wohin mit seiner überschüssigen Kraft. Es ist ein aufgebrachtes und trauriges Lachen, das aus ihm hervorbricht, und er ist froh, dass niemand in der Nähe ist, der ihn beobachtet. Der Strassenlärm schluckt seinen zischenden Fluch. Er steckt das Telefon in die Hosentasche und ballt die Faust. War es vermessen oder naiv zu erwarten, dass Edith seine Nachricht versteht, bloss weil sie seit zehn Jahren verheiratet sind? Am Morgen ist er noch der Ansicht gewesen, dass eine Kurzmitteilung in ihrer Beschränkung ein geeignetes Mittel ist, in schwierigen Situationen die Kommunikation wieder aufzunehmen. Er revidiert seine Meinung. Zehn Wörter von ihm und zwei von Edith haben gereicht, um sie in eine Sackgasse zu manövrieren. Wenn er anständig bleiben will, gibt es nichts, was er ihr antworten kann. Edith ist egal, was er macht, solange er sie in Ruhe lässt.

Larese, Dino

Das lebendige Heu. Eine Sage

Einmal kam ein fahrender Schüler gerade zur Zeit der Heuernte ins Appenzellerländchen und schaute neugierig und vergnügt dem emsigen Treiben der Mägde, Knechte und Bauern zu und liess sich auch zu lustigen Scherzen den Mädchen gegenüber hinreissen, die freilich dem fremden Vogel eher misstrauisch und zurückhaltend gegenübertraten. Der Bauer, schon einige Male böse und ungehalten herüberschauend, besonders da sich hinter dem Alpstein ein Wetter zusammenbraute, rief mit einemmale unmutig herüber: «He, Herr Schüler, es wäre gescheiter, statt meine Leute von der Arbeit wegzuhalten, ihr würdet mithelfen, bevor das Unwetter hereinbricht.»

«Was gebt ihr mir, wenn ich die ganze Heuernte allein in die Scheune bringe?», fragte der Schüler und blickte lauernd herüber.

Der Bauer, an einen losen Scherz glaubend, rief: «Ha, das wäre mir ein Brabantertaler wert.»

«Topp, es gilt!» schmunzelte der Schüler.

Und nun blickten alle mit neugierigen Augen herüber und sahen, wie der Schüler seine Arme bewegte und einige unverständliche, beschwörende Worte murmelte. Da lief manchem ein kalter Graus den Rücken hinunter, als sich plötzlich die Heumahden wie von innen her leise rührten und zitterten, wie wenn ein Wind darüberstriche, und dann langsam sich krümmten wie Raupen, die sich fortbewegen, und nun schneller und schneller zu kriechen begannen und der Scheune zustrebten wie lebende, unheimliche Wesen. Und keiner wagte sich zu rühren. Er spürte nur mit kaltem Entsetzen das zwischen den Beinen hindurcheilende Heu; Mahde um Mahde wie folgsame Hündchen. Sie krochen die Tennleiter hinauf und legten sich behutsam auf den Heuboden nieder, eine neben die andere, bis ein kunstgerechter Heustock gebaut war, duftend von Würze, wie nur Bergheu duften kann. Draussen auf dem Felde war kein Hälmchen zurückgeblieben.

Niemand wagte zu reden oder sich zu bewegen, bis der Bauer dem Schüler den Taler gegeben und der zufrieden das Tal hinausgewandert war.

Mit grimmigen Blicken schaute ihm der Bauer nach, dachte er doch, dass ihm der Schüler das Heu verhext und dadurch wertlos gemacht habe. Er wagte es nicht, davon seinen Tieren vorzusetzen, weil er Unheil befürchtete; bis einmal eine alte Kuh krank und elend wurde und nichts mehr vertrug und auf den Tod wartete.

«Da ist nicht viel zu verlieren», sagte sich der Bauer und setzte der Kuh das verwunschene Heu vor, die es wunderlicherweise mit Behagen und heiterm Genusse frass. Ja, es war mit den Augen zu sehen, wie sie sich innert kürzester Zeit prächtig erholte, und ihr Fell einen neuen Glanz erhielt.

Da getraute sich der Bauer, auch den andern Kühen von diesem Heu zu geben, und dabei machte er die freudige Erfahrung, dass die Kühe nicht nur prächtig gediehen, sondern reichlichere und fettere Milch gaben.

Ach, wie wartete da unser Bauer bei jeder Heuernte sehnlichst auf einen fahrenden Schüler, der ihm wieder das Heu lebendig werden liess. Aber er blickte umsonst angestrengt das Tal hinaus, keiner kam seit jener Zeit mehr, so dass auch diese Geschichte, weil sie sich nicht wiederholte, zur schönen Sage geworden ist.

Lauber, Cécile

Land deiner Mutter

Das Spielzeug der Riesenkinder

«In grauer Vorzeit, als die Welt noch nicht zur Ruhe gekommen war und die Völker ihre Heimstätten noch nicht gefunden hatten, kam ein Trupp von Riesen von Norden her gegen unser Land gewandert. Und obwohl sie Siebenmeilenstiefel an den Füssen trugen und mit jedem Schritt ein ganzes Land hinter sich brachten, war es doch ein fauler und bequemer Schlag. Als sie nun hier eintrafen und unserer Berge gewahr wurden, in denen noch keine Menschen hausten, sagten sie zueinander: ‹Was wollen wir noch lange Häuser bauen? Hier haben wir ja alles, was wir brauchen, schon fix und fertig vor uns.› Und die Frauen der Riesen, indem sie auf den See und das flache Land deuteten, riefen vergnügt: ‹Und da steht auch schon die Badewanne für unsere Kinder, und der Platz, auf dem sie springen können!›

So richteten sich denn die Riesen ein und machten es sich gemütlich. Als sie aber am andern Morgen aufwachten und die verschlafenen Augen ausrieben, glaubten sie etwas ganz Wunderliches zu entdecken. Auf dem Land unter ihren Felsenfenstern kribbelte und krabbelte es. Da standen winzige Häuschen aus Schindeln und aus Balken. Zierliche Persönchen eilten hin und her, und noch viel vergnüglichere Tierchen bewegten sich zwischen ihnen. Denn das jetzige Land Appenzell wurde zu jener Zeit von einem fleissigen und harmlosen Volk von Zwergen bewohnt, das viel älter war als das der Riesen, und diese hatten es nur am Abend vorher nicht bemerkt. Denn die Augen der Riesen sind etwas blöde, besonders in der Dämmerung. Sie sehen besser in die Ferne als in die Nähe.

‹Da haben wir auch noch das Spielzeug für unsere Kleinen›, riefen die Riesenfrauen hocherfreut, und sie begannen das ganze Volk samt ihren Tieren und Wohnstätten, den Wäldern und den Zäunen mit einem einzigen Armwisch abzuräumen. Dann hiessen sie ihre Kinder an den steinernen Tisch sitzen und das Spielzeug darauf aufstellen. Natürlich gefiel das den Riesenkindern ausgezeichnet und um so besser, als die Zwerge in ihrem Schreck und in ihrer Angst zu schreien anfingen und wie ein aufgestöbertes Ameisenvolk durcheinanderliefen. Ja, die Kinder waren viel zufriedener als die armen Zwerge, die alle Anstrengungen machten, um auszukneifen und von dem Tisch herunterzukommen; jeden Abend, so wie die Kinder sich entfernt hatten, suchten sie ein neues Versteck auf, so dass die Riesenfrauen am Morgen keine geringe Mühe hatten, die Zwerge wieder ausfindig zu machen und neu zusammenzulesen. Um dem abzuhelfen, spalteten ihre Männer mit Steinäxten einen Berg entzwei, kratzten ihn mit den Waidmessern aus und sperrten jeden Abend das Volk der Zwerge mit all ihren Habseligkeiten darin ein. Den Berg nannten sie den ‹Hohen Kasten›, und wenn du dich umdrehst, kannst du ihn dort drüben, im Süden, immer noch stehn sehen.» […]

«Als nun die Riesenmänner den Berg spalteten, drang das Dröhnen ihrer Äxte bis hinunter in das verschwiegene Reich der Feen und Gnomen, die die Schätze der Erde hüten, und störte sie auf. Und das Schreien und Jammern des Zwergenvolkes in der Nacht sorgte dafür, dass sie keine Ruhe mehr fanden. Da sie von jeher mit den Zwergen gut ausgekommen waren, beschlossen sie, ihnen nun auch zu helfen. Sie sandten Boten zu den Schmieden, die das Feuer im Kern der Erde aufrecht erhalten und baten sie, Glut in die unterirdischen Erzadern der Gebirge einströmen zu lassen, so dass die Riesen nachts auf ihren Felsbetten wie auf erhitzten Rosten lagen, aufsprangen und in die Ebene hinunter liefen, weil sie sonst unfehlbar gebraten worden wären. Vergeblich suchten sie ihre Betten abzukühlen, indem sie mit Eimern den ganzen Bodensee ausschöpften und das Wasser über die Felsen gossen, so dass das ganze Volk der Zwerge ersoffen wäre, hätte es nicht im ‹Hohen Kasten› gesteckt. Das Wasser zischte zwar den Riesen um die Nasen, und sein Dampf hüllte die Berge ein; aber es lief eilig durch die Flussbetten zurück zum See, und die Felsen glühten noch ärger als zuvor, so dass den Riesen nichts anderes übrig blieb, als Reissaus zu nehmen. Und ihre Furcht, ihr Schrecken waren so gewaltig, dass sie auf ihrer Flucht nicht eher einhielten, als bis sie das weite Meer erreicht hatten, in das sie nun hineinstanden, um ihre versengten Füsse zu kühlen. Den ‹Hohen Kasten› hatten sie zu schliessen vergessen. Da kletterten denn die Zwerge fröhlich heraus und begannen in grosser Freude und Dankbarkeit ihre Habseligkeiten, Häuschen, Wälder und Zäune, wieder aufzustellen.

Und als das letzte Lebewesen den Berg verlassen hatte, schmetterten die Geister ihn wieder zu. Dabei aber übersahen sie das Schnappschloss, das einer der Riesen angehängt hatte. Es blieb offen zurück, und du kannst es heute noch, einem Schnabel ähnlich, von der Höhe herunterbaumeln sehen.»

 

Jokebs Märchen

Man kann es gut verstehn, wenn die Alpen als eine Art Vorgarten des Himmels oder gar als ein Stück zurückgelassenen Paradieses angesehen werden; aber man muss es ebenfalls begreifen, wenn gewisse Leute von ihnen behaupten, sie seien der Eingang zur Unterwelt und der Aufenthaltsort unheimlicher und düsterer Geister; denn in keinem Teil der Welt sind die Gegensätze gewaltiger als in jenem, der zwischen Himmel und Erde aufgetürmt steht, Wolken und Winde bald über sich, bald unter sich vorüberziehen sieht und die volle Wucht des himmlischen Lichtes und die ungehemmte Kraft der Elemente an sich erfährt. Und gerade im Frühling sind jähe Wechsel am häufigsten.

Als Nicco hörte, er dürfe mit Jokeb auf die Alpe ziehen, war er überglücklich. […] Jokeb verstand von schauerlichen Dingen zu erzählen, die nicht nur das Herz eines Kindes erzittern machten: Vom Schrecken, der plötzlich in die Kühe fährt, so dass sie sinnlos durcheinander rennen und ihre Glocken verstört und schauerlich durch die Nacht gellen; von Schafherden, die eben noch friedlich weideten und auf einmal, als hätte ein Sturmwind sie angefasst, dem Leithammel nach, über eine Wand hinausjagen; von den lustigen und fröhlichen Ziegen, die von einem Augenblick auf den andern erstarren und bewegungslos stehn bleiben, als wären sie aus Holz geschnitzt, und sich, bis die Abendglocke läutet, nicht mehr von der Stelle rühren können. […] Ja, der Senn sah am hellen Tag und überall Gespenster; und wenn um den Siegel ein Nebel strich, war es der Stiefelhannes, der ehemals als Ammann im Rheintal sich des Betrugs schuldig gemacht hatte und nach seinem Hinschied auf den Siegel gebannt worden war. Dort trieb er sich jetzt um als Ungeheuer, schlich nächtens in die StäIle, schreckte das Vieh und frass aus dem Säutrog. Wenn aber eine Ziege sich verstiegen hatte und auf den ersten Ruf nicht gleich zu finden war, hatte der dreibeinige Hase sie in ein Erdloch gelockt, damit sie ein Bein breche; denn da er selber nur drei Beine besass, zur Strafe dafür, dass er davongehoppelt war, als der heilige Gallus, auf einem Feldstein ausruhend, von einer Krähe angefallen wurde und ihn um Hilfe anrief, hasste er alles, was auf Vieren daherging und suchte ihm zu schaden.

Wo aber auch Jokeb beginnen mochte, am Schluss endete er bei seinem meistgefürchteten Lieblingsgespenst, dem schrecklichen Wüetihö.

Es war ja noch so früh im Jahr, zu einer Zeit, da man sonst das Vieh nicht in die höhern Lagen treibt. Die Alpauffahrt macht sich auch im Appenzellerland gewohnterweise nicht vor dem Junianfang. Aber in diesem Jahr hatte man sich genötigt gesehen, das eben genesene und das von der Seuche verschonte Vieh vom andern abzusondern, und die früh einsetzende Wärme war den Bauern zu Hilfe gekommen. Aber Jokeb wusste, dass die Geister nicht mit sich spassen lassen und eine verfrühte Störung ihrer Ruhe rächen, und er hatte sich nur mit grösstem Widerstreben seiner Pflicht gefügt.

Darum fiel es Jokeb auch nicht leicht, am Landsgemeindetag von der fröhlichen Wirtshaustafel aufzubrechen. […] Es war kein heller Tag. Aber die Dämmerungen zogen sich jetzt schon weit hinaus, und das halbe Licht schien hinter einer sehr hoch oben ausgebreiteten Nebeldecke stillzustehn, als sie nun das Städtchen hinter sich liessen.

Jokeb, dem ein Handbub noch gefehlt hatte, war froh, nun zu zweit ausziehen zu können, und die vielen Schnäpse und das fröhliche Abschiednehmen hatten ihn in die beste Laune versetzt.

Als er nun sah, wie der Kleine an seiner Seite verwundert die wildgezackte Kette der Berge betrachtete, ging in ihm gleich die Erzählerlust los.

«Die sehen seltsam aus, nicht wahr?», ging er ihn an. «Wenn du aber erst wüsstest, dass das gar keine richtigen Berge sind, sondern drei hintereinander erstarrte Sturzwellen eines gewaltigen Meeres, würdest du dich nicht mehr wundern.»

«Eines Meeres?», fragte Nicco ungläubig. «Ja woher ist denn das viele Wasser gekommen?»

«Vom Himmel natürlich», entgegnete Jokeb. «Als der liebe Gott mit seiner Sintflut die ganze Erde ersäufen wollte, lag auch unser Appenzellerländchen tief auf dem Grunde eines Meeres, so tief, dass der Engel, der mit der Taube ausgesandt worden war, um den Wassern zu gebieten, es ganz vergass. Erst, als schon über allen Ländern die Meere dem Befehl gehorcht hatten und abgezogen waren, vernahm er das Brausen und Rauschen, das hier weitertobte in mächtiger Brandung. Da wurde ihm angst, der Herrgott könnte ihn für seine Vergesslichkeit bestrafen; er streckte schnell seine Hände aus und gebot den Fluten zu erstarren, als sie gerade im höchsten Schwung neu anliefen. Daraus ist das Säntisgebirge entstanden. Schau den Kamm dort drüben hinter der Ebenalp und dem Schäfler, das ist der Muschelberg. Er ist nicht aus Stein geformt, sondern aus lauter festgepressten Muscheln. Aber», – fügte er mit Nachdruck hinzu, «das ist lange noch nicht das Seltsamste, was es in diesen Bergen zu sehen und zu hören gibt.» […]

Vor dem letzten Haus im Weissbad stand die Bäckersfrau und fragte bekümmert: «Jokeb, was hat der Landammann gesagt? Macht der Schwob Krieg?»

«Freilich wird’s Krieg geben; das hat mir ein anderer als der Landammann gesagt, der es besser weiss.» «Ach Jokeb», seufzte die Frau, «allweg siehst du Gespenster!»

Sie überschritten jetzt eine Brücke, rückten den Bergen an den Leib und liessen die letzten Häuser hinter sich zurück.

«Wer ist der, der es besser weiss als der Landammann?», fragte Nicco neugierig, als Jokeb stehnblieb, um etwas zu verschnaufen. Von der Stelle aus, auf der sie sich befanden, konnte man gut die drei Gebirgsketten unterscheiden, die durch gleichlaufende Täler getrennt, dem Säntismassiv zustreben. Jokeb zeigte in die Höhe, nach einer senkrecht abfallenden, drohenden Felswand im ersten Gebirgszug, den sie nun seitlich hinter sich liessen.

«Kannst du das Adlernest dort oben sehen?», fragte er.

Nicco strengte sich sehr an. «Ich sehe kein Adlernest», sagte er nach einer Weile, «aber eine ganze Reihe seltsamer Löcher in der Felswand. Ich sehe ein Haus in der einen Höhle und in der andern etwas, das einem winzigen Kirchturm ähnlich sieht.»

«Das ist das Adlernest des Einsiedlermönches Ekkehard an der Wildwand; und das Türmchen ist das Wildkirchlein», antwortete Jokeb.

«Von dort aus muss es herrlich sein hinunterzuschauen», sagte der Kleine ganz versonnen. «Wohnt der Mönch das ganze Jahr dort?»

«Er starb vor einigen hundert Jahren; aber er bewohnt immer noch den finstern Gang, der von jener Höhle durch den Berg in die Ebenalp hinüberführt. Und wenn dem Land eine Gefahr droht, kommt er heraus, setzt sich vor seine Höhle und hält Wache.»

«Hast du ihn gesehen?»

«Ja, freilich! Heute, in der Frühe, als ich an die Landsgemeinde ging, sass er dort oben und schaute gen Norden über die deutschen Lande hinaus zum Hohentwil hinüber, von wo er einst hergeflohen kam. Die Geschichte soll dir ein anderer erzählen.»

«Das ist gewiss eine merkwürdige Geschichte!»

«Ja, aber es ist noch lange nicht das Seltsamste, was man in diesen Bergen zu sehen und zu hören bekommt.»

Sie gingen weiter, und Nicco war sehr damit beschäftigt, an das zu denken, was ihm Jokeb erzählt hatte.

«Die Höhle und den finstern Gang möchte ich einmal sehen», sagte er vor sich hin.

«Es wäre dir nicht gemütlich gewesen, zur Zeit des Mönchs darin zu hausen, so wie er gehaust hat», sagte Jokeb schmunzelnd. «Sie haben Knochen im Gang gefunden von Tieren, die fünfmal grösser waren als ein Elefant und mitten in der Stirne ein Horn trugen, so hoch wie der Kirchturm in Appenzell. Auch kamen des Winters von der Alp her oft Bären zu Besuch. Was würdest du für Augen machen, wenn plötzlich ein Bär vor dir stünde?»

Nicco musste lachen. «Ich fürchte mich nicht vor Bären!», sagte er, nicht wenig stolz.

Sie waren mittlerweile in eine enge und steile Schlucht eingedrungen, und der Kleine, gewohnt, mit wachen Augen um sich zu schauen, fragte Jokeb, wo sie sich jetzt befänden.

«Das ist das Brültobel», erklärte Jokeb, froh, erzählen zu dürfen; denn so wie der Schnapsdunst sich in seinem Kopfe zu verflüchtigen begann, wurde er trübsinnig und düster.

«Hat es seinen Namen davon, dass der Bach brüllt?», fragte der Kleine.

«Ja, wenn es nur der Bach wäre», seufzte Jokeb, aber es ist der böse Hirte mit seiner Kuh, die du hörst.

Denn es war einmal ein ungetreuer Hirte in dieser Gegend, der die ihm anvertraute Kuh einer armen Witwe nicht leiden konnte, weil sie sich immer an den Rand des Abhangs hinaus begab. Eines Tages legte er Tannreiser auf ihren Gang; darüber glitt sie denn auch richtig aus und stürzte in die Tiefe. Nun ist der Hirte für ewige Zeit dazu verdammt, die Kuh an einem Strick aus der Tiefe heraufzuziehen. Wenn er sie schon nahe dem Rande hat, glitscht er aus und stürzt zusamt dem Strick und dem Vieh brüllend wieder hinunter in den Abgrund.»

«Das ist eine merkwürdige Geschichte», sagte der Kleine nachdenklich.

«Ja, aber es ist noch lange nicht das Merkwürdigste und Seltsamste, was man in diesen Bergen zu hören und zu sehen bekommt.»

Sie stiegen weiter, und Nicco fiel es je länger je schwerer, zu tun, als fühle er keine Müdigkeit. […] Nach einer Weile wurde der Wald sehr sonderbar. Das Laubholz war verschwunden, die Tannen standen zwar noch ebenso dicht beisammen, liessen lange Bärte wallen und sahen alt und ehrwürdig aus, aber sie wurden niedriger und niedriger. Schliesslich erhoben sie sich nur noch so wenig hoch, dass der Kleine, wäre er neben einem der Bäume gestanden, sicher mit dem Kopf über dessen Spitze hinausgeragt hätte.

«Was ist das für ein seltsamer Wald? Der steht wohl noch nicht lange hier?», wandte sich der Kleine an Jokeb, der nur auf diese Frage gewartet zu haben schien.

«Oh bloss einige hundert Jährchen», antwortete er, hielt an und verschnaufte. «Wir sind jetzt im ‹kalten Boden› angelangt. Die Erde hier ist das ganze Jahr wie verfroren. Kein Sonnenstrahl vermag sie zu erwärmen. Und wenn du deine Hand vor einen Spalt hältst, so weht es dir eisig daraus entgegen.»

«Woher mag das kommen?», fragte Nicco.

«Wahrscheinlich liegen in der Tiefe Eisfelder verborgen. Man weiss das nicht so genau. Weiss man doch ebensowenig, wohin die Wasser der Seen fliessen.»

«Das ist ein merkwürdiges Land!»

«Ja, aber es ist noch lange nicht das Merkwürdigste, was es in diesen Bergen zu sehen und zu hören gibt.»

Als Jokeb diese Worte sprach, blickte ihn der Kleine erschrocken an. Anfänglich hatte er gar nicht auf diese Redensart geachtet; später vermochte sie ihn bloss neugierig zu machen, jetzt aber erfüllte sie ihn mit wachsender Bangigkeit. Er konnte sich nicht mehr richtig freuen, als jetzt die Steigung ein Ende nahm und sie eine Stelle erreichten, von wo aus in ziemlicher Tiefe unter ihnen der silbergraue Spiegel eines Sees durch die Bäume schimmerte. Es war inzwischen auch Abend geworden, und der Himmel hatte sich mit finstern Wolken überzogen. Ferne Kuhglocken klangen halblaut und schwermütig herauf.

«Da unten sind wir zu Hause!», sagte Jokeb und blieb wieder stehn.

Nicco sprang erleichtert vom Karren. «Ich bin froh!», sagte er fröhlich. «Bei den Kühen und in deiner Hütte ist es sicher warm und schön. Und nun kannst du mir auch getrost sagen, was eigentlich das Merkwürdigste und Seltsamste ist, was man in diesen Bergen zu hören und zu sehen bekommt.»

Plötzlich drehte Jokeb sich dem Kleinen zu, und dieser fuhr erschrocken zurück. Denn in dem Gesicht des Sennen standen die Augen dunkel vor Furcht.

«Ich will es dir sagen, Kleiner, obwohl ich hoffe, du sehest und hörest es nie; denn es kann einer graue Haare davon bekommen.» Er beugte sich dicht zu Nicco hinab und flüsterte: «Es ist das ‹Wüetihö›!»

«Ist das ein Tier?», fragte Nicco ebenso leise zurück. Sein Herz begann heftig zu klopfen.

«Es ist ein Geist», antwortete Jokeb. «Er kann jede beliebige Gestalt annehmen und jede beliebige Stimme nachahmen. Wenn du an einen Kuhfladen stössest, und er schreit auf und läuft davon – so ist es das Wüetihö. Und wenn du einen Laubsack am Wege stehn siehst und willst ihn anfassen, er aber kichert und rollt davon – so ist es das Wüetihö. Es ist es, das im kalten Boden haust und die Tannen umklammert, dass sie nicht wachsen können, und dem Hirt die Kuh wieder hinunterreisst, und das Vieh erschreckt, und die Säutränke verunreinigt – es, das Wüetihö!»

Er kehrte sich um und zog den rumpelnden Karren abwärts den steilen, schlüpfrigen Waldweg hinunter, und der Kleine folgte ihm dicht auf mit zitternden Beinen.

Ledergerber, Ivo

Hierzulande hat jedermann nur den Säntis im Auge

Fausts Hund oder der verkleidete Bläss

Fausts Pudel bin ich
habe euch bereits
mit Zauberkreisen
gefesselt
an meinen Berg

nehme euch euren
kastrierten Kultursäntis

ich bin Fausts Hund
ich
zieh euch
das Fell über die Ohren
leg eure Lügen bloss
Schönheit
Sittlichkeit
Untertanen früher
Aktien-Raffer heute

mich
hat der grosse Notker
verprügelt
ich
prügle
euch
ihr unbelehrbaren
Klosterbräusäufer
Klosterkäsefresser

war ein anderer Käse
ein heidnischer
den die Sennen der Schwägalp
dem Probst ins Kloster sandten
sündigen Frass
gegen Mönchshunger
nicht gegen Mönchsgeilheit
wenn man
Abt Ulrichs
Wiler Töchter bedenkt

ich bin Fausts Hund

habe euch gebannt
treibe euch
von meinem Hundstein
über die Freiheit
in die Höll
und
bis in den hintersten
Schlund der Furgglenhöhle

 

Bescheidene Anfrage

Bescheidene Anfrage an Notker III, den gütigen Lehrer
und genialen Übersetzer

Wo ist dein Säntisgedicht?

Notker
geh nach Rotmonten
genier dich nicht
sieh dir den Säntis an
den
Säntis
unsern
heiligen Berg

wo
Notker
hast du
dein Säntisgedicht
versteckt

Ih sah ûf
an diê berga

steckt es hier

mach mir nicht weis Notker
du habest ihn nie bedichtet

Ih sah ûf an diê berga
dannan chumet mir helfa

was soll
schon
von
dort
kommen

Dörigs Seppedoni Fuchsens Jok
Inauens Bisch Metzlers Ruth

sind das des Himmels Boten
die predigend
uns…gezêigot
uuanan diû helfa
chomen sol

demokratischen Nachhilfeunterricht
freilich
haben sie
nach deiner Zeit
den Äbten
gegeben
sie das Fürchten gelehrt

Notker
wunderschön
übersetzender
wunderlicher
Stubenhocker
Mönch
Wunderkind der deutschen Sprachgeschichte

im
Berliner Sand
im besten Fall
Wildschweine
im
Steinachloch
St. Gallen
schreibst
du
das schönste Deutsch
prächtiger
Worterfinder
Notker

Wo
ist dein
Säntisgedicht
geblieben

Notker
lieber
Von Töblern

Ach hätten wir die Töbler nicht
die schrundigen und tiefen
– wäre alles flach alles flach
der Säntis nur ein altes Monument

man ginge leicht von hier nach dort
ein jeder besuchte jeden
denn alles wäre flach alles flach
da gäb es keinen Unterschied

wir hätten allen Überblick
und wüssten leicht woran wir sind
es wäre alles flach alles flach
da gäb es nichts Verstecktes

wir wären eine flache Republik
und alle gleicher Meinung
und alles wäre flach ganz flach
der Säntis nur der würde weinen …

Drum lassen wir die Töbler wo sie sind
und nehmen froh zur Kenntnis
sie machen jeden Fleck zu einem Berg
und jeden Kopf zu einem Säntis

Die Töbler sind es die die Dörfer
auf Hügeln thronen lassen
und jeden Kopf und jeden Kopf
zu einem kleinen Säntis machen

 

Von den Dohlen

Von den Dohlen sagt man
sie hätten gesehn
wie es war bevor wir kamen
und sie sähen
was wir nicht kennten
sie wüssten wohin
Wege führen
die wir noch lange nicht kennten
an Orte die wir nicht nennten

Ihre Flügel sagt man
trügen sie in Höhen
wo unsereinem nur schwindelt
ihr Mut aber
der sei grenzenlos gross
sie lassen von Stürmen
sich treiben
wie Nebelfetzen ein verirrtes Blatt
lassen sich wirbeln werden nicht matt

Von den Dohlen sagt man
sie seien so frei
wie wir es uns träumen
und selten gestehn
während sie getragen
vom wilden Wind
die Freiheit
erleben die wir nicht mehr wagen
obwohl der Geist auch uns würde tragen

Liechti, Peter

Lauftext – ab 1985

Berggasthaus Säntis. Heute bin ich an meine Grenzen gekommen, beim Aufstieg auf diesen Säntis hinauf bin ich an meine äussersten körperlichen und seelischen Grenzen gestossen. Ich bin nicht einmal froh, endlich oben angekommen zu sein, sondern nur noch wütend, wütend auf diesen Berg, auf mich selbst, auf alle, die je behauptet haben, dass es toll sei, auf einen Berg zu steigen. Und wenn sich dann der Wirt an meinen Tisch setzt und fragt: «Wie geht’s uns denn so? …»‚ so geht uns das schon viel zu weit. Ich bin hier für niemanden vorhanden, will nur noch in meine Kajüte, unter die dicke Wolldecke verschwinden und an die Decke starren. Von unten dringen Alphornklänge zu mir herauf, sie können’s nicht lassen. Meine Stimmung nähert sich dem Gefrierpunkt, genauso wie das Wetter draussen.

Der Aufstieg war die Hölle, vor allem mit diesem Höllen-Rucksack. Unterwegs eine einzige Begegnung, ein Senn, der mir nicht unfreundlich zu verstehen gibt, dass er eigentlich keine Besucher braucht. Eine halbe Stunde später bin ich mitten im blanken Gestein in ein Berggewitter gekommen. Erst hat es gehagelt, dann hat es geblitzt. Nirgendwo blitzt es fürchterlicher als im Säntisgebiet. Das Stativ auf dem Rücken – als wandelnder Blitzableiter gewissermassen – erschien mir die Vergänglichkeit des Lebens so greifbar, dass ich gerannt bin vor Angst.

Warum denken immer alle, dass es ihnen besser geht, wenn sie den Säntis sehen?
Warum wollen immer alle so hoch hinauf? Am liebsten, meint Sepp, würden sie alle ganz oben auf der Antenne hocken. Jeder wolle halt einmal ganz oben sein … Merkwürdigerweise hatte ich selbst erwartet, dass der Säntisgipfel zugleich der Höhepunkt meines langen Matsches sein würde. Doch seit gestern umgibt mich hier nur dünne Luft. Eine der brutalsten Redensarten heisst: Die Zeit totschlagen. Genau das tue ich hier oben; ich schlage sie tot, die Zeit, damit sie aufhört, mich dauernd an meine Gegenwart zu erinnern.

Nirgendwo finde ich Halt in dieser Raumstation. Mit sturer Hartnäckigkeit verfolgt mich die Frage nach dem Sinn meines Unterfangens. Seit Stunden lauf ich nur irgendwelche Treppen hoch und runter, ohne das geringste Interesse für irgendwas und voller Scham über meine überflüssige Gegenwart. Das sieht man mir von weitem an, ich beginne aufzufallen. «Was filmen Sie denn da?» – reine Bosheit, die ganze Fragerei. «Sind Sie vom Fernsehen?», fragt mich ein pummeliger Knirps. Unverschämt! – das würde er niemals wagen unten im Dorf! Vielleicht haben sie’s tatsächlich lustig hier, im Gegensatz zu mir. Ich bin so richtig schlecht drauf, doch heute gefällt es mir, schlecht drauf zu sein. Meine Sucht ist mein Krieg, und den führ ich gegen alle hier!

Ich ertrage es absolut nicht länger, die Art, wie der Berg die Leute befreit – von ihren Hemmungen, von ihrem Taktgefühl und ihrem guten Geschmack. Wenn mich etwas in Panik versetzt, so ist es diese entsetzliche Berg-Fröhlichkeit. Wie gelähmt sitz ich in den engen Reihen entfesselter Bergfreunde am Tisch und warte auf den richtigen Moment zur Flucht. Wie ich mich dann «heimlich» verdrücke, blickt mir doch jeder nach; sofort fällt alles auf, was sich dieser Schunkelei entzieht.

Kaum geschlafen heute Nacht. Eis und Regen fetzen um das Fenster, Blitz und Donner, real und geträumt. Zahllose Traumfragmente, immer dieselbe Konstellation, halb Afrika, halb hier. Rollschuh-Laufen mit meiner Liebsten inmitten schwarzer Rollschuh-Mädchen. Oder sollte ich sagen: Inline-Skaterinnen und Ex-Geliebte? Wie lange liegt die Welt zurück, in der ich lebe?

Natürlich hat es auf der Schwägalp geregnet. Und irgendwann hat es dann aufgehört, und irgendwann wieder angefangen, aufgehört und wieder angefangen … gleichsam im Gegentakt zum Aus- und Wiedereinpacken meines Kamera-Equipments. Den ganzen Tag bin ich nicht mehr herausgekommen aus diesem fatalen Rhythmus, und trotzdem geht es mir gut, zum ersten Mal richtig gut auf diesem Marsch. Und mit jedem Meter, den ich mich vom Säntis entferne, geht es mir noch besser. Ich bin – so scheint es – endlich über den Berg. Und ich stelle fest, dass ich wach bin, zum ersten Mal richtig wach, und dass diese grosse alte Schwägalp von zauberhafter Schönheit ist. Ab und zu bricht die Sonne durch, ein schriller Glanz schiesst über die Weiden, dann herrscht wieder Dunkelgrün, das schwerste Grün der Welt.

Auf dem Weg treffe ich eine Älplerin. Wir unterhalten uns über Blitze und andere Naturgewalten, fünf Rinder hat’s kürzlich erwischt, hier unter diesen Tannen …
Ich hatte mich kaum verabschiedet, da bin ich ins nächste Gewitter gekommen; mitten in einem Tannenwald ist es über mich hereingebrochen. Ein furchtbares Gewitter, und ich habe mich gezwungen, weder an Rinder noch an Tannen zu denken. Die Rache des Säntis! schiesst’s mir durch den Kopf – und schon wieder beginne ich zu rennen …
Die Unversöhnlichkeit, die in dunklen Schwaden über den dunklen Tannenwäldern hing, ist das Letzte, was mir von diesem Tag geblieben ist.

Von Appenzell aus habe ich Sepp angerufen, ob er Lust hätte, morgen mit mir zum Fälensee hinauf zu laufen, zur Alpstobete auf der Bollenwees. Ja gerne, sagt Sepp, er sei schon lange nicht mehr weggekommen, und dort oben sei es besonders schön. Er schaue grad zum Fenster hinaus, drei Rehe zankten sich am Waldrand, und jetzt komme noch ein Habicht hinzu, das sei gar kein gutes Zeichen … Er kenne übrigens einen, der habe drei Schachteln Zigaretten geraucht am Tag, und eines Tages hätte der sich gesagt: wenn so viele nichts nützen, so könne er ebenso gut ganz aufhören damit, und von dem Moment an hätte der keinen Zug mehr geraucht. – Meint er’s nun ernst, oder macht er nur Witze?

Emil Haas ist pensionierter Briefträger und Jäger. Per Zufall hab ich von seinen Super-8-Filmen gehört; diese Bilder sind mir Beweis, dass es noch immer einen sehenswerten Hintergrund gibt zum ganzen Kitsch, der diese Täler verstopft bis ins letzte Museum hinein. Es kommt mir vor, als sei dieses winzige Appenzell das mentale Epizentrum der ganzen Ostschweiz – alles viel deutlicher, rezenter, wie der Käse. Ich mag die Leute hier; wie schaffen sie’s nur, so zu tun, als wär es immer noch früher, und alle spielen mit? Wie Kinder, die längst wissen, dass es keinen Osterhasen gibt, aber noch immer nach Eiern suchen wollen und deshalb so tun, als hätte der Hase sie versteckt.

Am Abend ein Spaziergang zum Hexenwäldchen mit dem Peterer und seiner Sau. Ist der Peterer der Hans im Glück oder eher ein listiger Kobold? Dort hinten in der kleinen Lichtung macht der Peterer einen Ritt auf seiner Sau. Das Hexenwäldchen ist plötzlich sehr dunkel, und alles erscheint mir wie durch einen seltsamen grünen Filter hindurch. Nie war ich weiter entfernt von allen Rauchergelüsten. Zigaretten hätten den feinen Zauber sofort zerstört und Peterers Verrücktheit auf obszöne Spielchen reduziert. Nikotin ist eine kalte, vulgäre Droge, die einem bald einmal den Zugang verwehrt zu delikateren Realitäten.

Der Kopf ist völlig woanders als die Füsse. Ich habe mich gehen lassen – wörtlich; ich laufe mir voraus oder hinterher und verliere mich zwischendurch auch ganz aus den Augen. Mal spiele ich den Wanderer, mal den Einheimischen und mal den Touristen – eine verdammte verlogene Scheisswanderung wird das bleiben, wenn ich mich nicht bald einmal entschliesse. Beim Filmen setze ich auf Zufall statt auf Konzentration, beim Denken ist es genauso.

Ich habe die Abzweigung verpasst; mitten in dieser mir bestens bekannten Umgebung habe ich vollkommen die Orientierung verloren.

Es stimmt nicht, dass die Bilder lügen, im Gegenteil. Die Kamera hat mir oft geholfen, mich auf den Boden zurückzufilmen, den Blick gewissermassen im Moment zu verankern.

Volksmuseum Appenzell. Anhaltendes Wohlbefinden, während ich die alten Holzfiguren betrachte; ich suche den Fokus auf die schönen Gesichter der Schlafenden Jünger. Die Ängste und Beschwörungsformeln des katholischen Menschen, die naive Abgründigkeit dieser Bauernkultur – alles, was die dunkle Seite des Landes betrifft, scheint mir hier in einem Raum versammelt. Selten sah ich eine gelungenere Mischung aus verspielter Volkskunst und tief empfundener, sehr menschlich interpretierter Religiosität.
Am aufregendsten fand ich die alte Pendule, ich nenne sie die «Todes-Uhr». Unter dem Zifferblatt, auf einer kleinen mechanischen Bühne, spielt sich in endloser Wiederholung ein makabres Drama ab: Mit unverhüllter Gier ringen die biblischen Mächte um die Seele des armen Sünders, der von seinem Sterbelager aus mit letzter Kraft versucht, sich die ganzen Plage-Geister mit dem Kreuz vom Leib zu halten. Auffallend vor allem die himmlische Botin; wie das Nummerngirl eines billigen Revuetheaters kokettiert sie mit dem Publikum, während Pfaffe, Tod und Teufel um das Todeslager schleichen. Der Sterbende selbst bleibt bleiche Staffage. Das Stück ist eine besonders böse Inszenierung des Katholizismus, schlicht und prägnant auf den Punkt gebracht.

Der fünfte Tag im Osten. Einst hatte ich alle Kraft darauf verwendet, von dieser Gegend loszukommen, und seither tue ich nichts anderes, als dauernd hierher zurückzukehren. Noch immer gelingt es mir, in diesen Hügeln herumzuspazieren und mich zu fühlen wie einer, der das alles zum ersten Mal sieht.
Andererseits beanspruche ich doch insgeheim, ein Stück weit dazu zu gehören. Wenn mir aber einer sagt, du bist doch einer von uns, krieg ich sofort die Panik.
Die Raucherlust hat nachgelassen, doch weiter bin ich nicht gekommen. Der schrille Tonfall in meiner Stimme ist noch immer derselbe, wenn ich die Leute um etwas bitte.

Der Aufstieg zum Fälensee, vor allem der erste Teil, ist von unvergesslicher Steilheit. Unvergesslich bleibt mir auch Sepps Erstaunen – ja Empörung, als er am steilsten Wegstück immer wieder überholt wird von allerlei bunten Wandervögeln aus der Stadt. Er, der Bauer und Arbeiter, der täglich an der frischen Bergluft barfuss und mit blossen Händen seine Muskeln stählt, hat das Nachsehen bei diesen durchgestylten Karikaturen … Auf dem Weg zurück ins Tal freut er sich wie ein Kind, dass nun wir es sind, die alle überholen.

Es gibt Leute, die sind mit ihrem guten Geschmack verheiratet. Sie bilden ein derart hermetisches System mit ihrer stimmigen Umgebung, dass sie mir mehr zuwider sind als alle Geschmacksverirrten … Daran denke ich merkwürdigerweise, während ich die Physiognomie der Karpfen studiere, die im Teich hinter dem Bahnhof Appenzell im Wasser treiben.

Mit Ex-Weltmeister Walter Steiner über das Skifliegen zu reden, ist vor allem ein Gespräch über Technik, doch er wäre kein Weltmeister, wenn er nicht im Moment, da er abhebt vom Schanzentisch, in eine Welt hineinsehen könnte, in der augenblicklich alles aufgehoben ist, was kurz zuvor noch Gültigkeit hatte. Daher, so denke ich, fliegt er so weit, und daher wirkt er so benommen nach der Landung – plötzlich wieder auf diesem Boden.
Ich fliege nicht gerne hoch, soviel ist mir klar geworden bei meinem ersten Flug mit einem Hängegleiter. Ich starte gerne, und ich lande gerne. Am liebsten aber schwebe ich, und die schönste Form des Schwebens bietet der Sessellift. Es gibt nach wie vor nichts Besseres, als im Sessel die Hänge hinauf und wieder hinab zu gleiten, als «Hänge-Gleiter» – im wörtlichen Sinn.

Zu lange beim Frühstück gesessen heute. Das lange Sitzen hat mir nicht gut getan, der ganze Organismus ist mittlerweile auf Laufen eingestellt. Laufen ist mir lieber als Schreiben oder Filmen. Das Denken bewegt sich weich und fliessend im Laufen, und wenn ich mich dann setze um einen Gedanken aufzuschreiben, so kommt der ganze Apparat ins Stocken, und alles wird krampfig und schwer … Vielleicht ist es Zeit geworden, Schluss zu machen mit der ganzen Lauferei und wieder das Sitzen zu üben.

Es war schwer, sich von Appenzell zu trennen. So kam es, dass ich den Abmarsch bis in den späten Nachmittag hinausgetrödelt habe. Ausgerechnet am Abend des Nationalfeiertags lauf ich von Appenzell nach St. Gallen hinunter. Langsam geht das Ländliche über ins Provinzielle, das Liebliche ins Niedliche. Schliesslich kommt man zur sogenannten Ganggeli-Brücke, die das Land direkt mit der Stadt verbindet. Eine äusserst filigrane Brücke, unheimlich hoch und unheimlich lang. Überall am Geländer sind Schilder angebracht; die Lebensmüden werden aufgerufen, doch unbedingt die rote Telefon-Nummer zu wählen, bevor sie springen. Tatsächlich liegt eine schwer zu fassende Schwermut über dieser Schlucht. Unwillkürlich möchte man allein sein, sobald man diese Brücke betritt. Ein Ort der Einkehr – oder auch der Abkehr vom Leben.

Lutz-Gantenbein, Maria

Gedichte

Mein Afrika

Die dunkle Hand
hat mich
immer
geführt,
wenn ich die Brücken
im weissen Land
nicht mehr
erkannte.

 

Für Heschmatollah

Über Mohnfelder
rittest du
in deiner Kindheit

Jetzt
bist du
heimatlos

In meinem Garten
flammt
Mohn
den ich gepflanzt
für dich

Wenn er verblüht
wird
Erinnerungs-Schlaf
in seinen Fruchtkapseln
reifen

für deine
unbeschirmten Nächte

 

Kinderland

Aufgeblüht
der Kirschbaum,
der wilde,
im Wald.
Kinder
hüpfen auf Stelzen,
betrachten das Leben
von oben.
Im Rinnstein
rollen
die Marmeln:
gläserne Welten
fliehen
und schwinden.

 

Manchmal

Manchmal
geh ich zum Bahnhof.
Immer
ist Abschied
dort.

Manchmal
kommst du gegangen
in deinem grünen Gewand.
Das duftet
nach Zimt und Nelken.
Dann weiss ich:
Du bist auf Reisen gewesen.
Trägst du aber
den lila Rock
mit dem Lavendelgeruch,
bringst du mir
viele Gedichte.

Manchmal
geh ich zum Bahnhof
und suche im Menschengewühl
dein Gesicht.

 

Longé Lésè
(Fürs ganze Leben)

Ich habe die Sprache vergessen,
den weichen Duala-Laut,
verloren
ndolo (die Liebe),
auch Njonji,
die treue Magd.
Mún’ á mukàla
(das Kind des Weissen)
raunen noch Muscheln,
longé lésè
knistert
die Schlangenhaut.

Ozeanwasser
in meiner hohlen Hand
spiegelt
Afrikas schwarzes Gesicht.
Dipitá (Hoffnung)
ist matt geworden.
Aber der Wind bleibt stark.
Über die Wölbung der Erde
tanzt er
ins Kinderland.

Lutz, Andres

Gestammelte Werke 1 & 2

Beitrag von Lutz & Guggisberg

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Inkjetprint, Holz. Je 19,5 x 14 x 4,5 cm. Privatbesitz.

Lutz, Werner

Aufgewachsen

Aufgewachsen
nah an einer Stallwand, zusammen mit Brennnesseln und Holunder,
zwischen Hahnenfuss und Hühnerbeinen,
von Wespen gestochen und von Bremsen,
stehe ich noch immer dort. Auch auf der Sandsteintreppe bin ich anzutreffen,
ein randvoll gefüllter Wassereimer,
der für immer ein randvoll gefüllter Wassereimer bleibt.
Ich bin zu hören als Webstuhl, der unten im feuchten Keller Seide webt,
bin noch immer unterwegs, als ein Bellen, Maunzen, Grunzen, klirre als Kuhkette in der fellwarmen Dunkelheit.
Ich liege als Brotlaib im Küchenkasten,
dampfe als Melissentee auf dem Stubentisch. Dort schreibt mein Vater,
mit widerspenstiger Feder, mahnende Briefe an seine Söhne, liest in der Bibel
jene Abschnitte, die ebenfalls von Vätern und Söhnen handeln,
von bitteren Enttäuschungen und bitterem Verzeihen.

Aufgewachsen
mit den Brunnenworten einer Brunnenröhre, heftigen Worten bei Gewittern,
spärlichen Worten in trockenen Zeiten,
verstehe ich als einer der Letzten diese glitzernde Sprache.
Ich habe mit allen Sinnen zugehört, den Hügeln, dem Winseln des Föhns,
dem Falterflug nah am Ohr.

Und nun habe ich den Faden verloren, bin ein alter Mann geworden,
der sich zurücksehnt und zugleich verflucht
die unsere Erde plündern und verwüsten.
Nacht wächst über meinen Arbeitstisch, dichtdunkles Nachtgras,
das morgen in aller Frühe gemäht werden wird.

Gedichte

Kurz vor Zwanzig
liegt mein Garten
die erste Liebe
mit Buchsbäumchen ein Rondell
hohes Gras
in dem ich barfuss gehe
so oft ich will

kurz vor Zwanzig
schwatzend und lachend
lehnt die Zukunft
Schulter an Schulter mit mir
am grüngestrichenen Zaun

 

Namen
herbstlich schöne Namen
stehen in der Vase
schon wieder
ist eine Liebe vorbei
ich schreibe diese Zeilen
mit verdünnter Tinte
beinahe unsichtbar

 

Flusstage

aa_bild_lutz-werner_flusstage

Werner Lutz: Textfragment im Bild. Mischtechnik auf Baumwolltuch. 43,5 x 62 cm. 1994. In: Katalog zur Ausstellung der Galerie Carzaniga & Ueker, Basel. 16. Februar bis 18. März 1995.


Ich sitze am Ufer

knüpfe Beziehungen an
Beziehungen fliessen mir zu
wer am Ufer sitzt
ist miteinander verwandt
wer auf den Steinen flussaufwärts
wer auf den Steinen flussabwärts
wer irgendwo dazwischen
auf den Steinen sitzt
gehört dazu
greift nach dem Band
dasselbe Wasser fliesst
uns durch die Augen
und was es mitträgt an Treibgut
stösst jeden an
steht einer auf und geht
bleibt eine Lücke
bis einer kommt sich setzt
und das Wasser wieder weitergibt

Gedichte

Unermüdlich gegraben
und nur Dunkelheit ans Licht gebracht

 

Stille kann man auch trinken
und süchtig werden davon

 

Es kratzt sucht drängt unter der Haut
gibt keine Ruhe und doch wäre die Ruhe
auch ein Ziel

 

Schlamm Dreck Leben
alles wirft sich plötzlich auf mich

 

Um wieder Luft zu bekommen
schreibe ich spät im November
ein Sommergedicht
offen und mit freier Sicht

 

Unverdrossen irren herrlich fluchen
in allen Farben fluchen

 

In jemand anderem erwachen
und dort die Hoffnung losbinden

 

Ein Blau mischen das kopfhoch ruft

 

Linien ziehen
warten bis sie zu atmen anfangen
sich bewegen
und eintauchen ins Gedränge
das sie umgibt

 

Tiefe Atemzüge pflügen die Äcker

 

Eine Wegvernarrtheit eine Schuhsohlenseligkeit
Flügelschritte
dem Tag um Tage voraus

Maag, Elsbeth

Stauberentexte

* Stauberengrat: östlichster Grat des Alpsteins.

 

I
hockt
vom Buchser Küchenfenster
gerade Blicklinie nach Norden
ein steinerner Däumling
die Stauberenkanzel
Berg auf dem Berg

an Däumlings Fuss die
Kuh (Küchenfensterblick)
ist keine Kuh ist Haus ist
Gasthaus Berggasthaus

II
seit Stunden
Regenwolken überm Grat
als werweissten sie
wann und wo und
in welchem Mass

III
Frümsen das Dorf
drei Fussstunden oder
zehn Gondelbahnminuten
zum Grat

IV
Fuss- und Gedankengang:
was wohI wichtiger
das Oben das Unten
der Grat die Ebene
oder was dazwischen
die schroffen Wände
Schrunden Schränze Risse
die Hügel und deren Anmut
oder hoch oben das Wolkenspiel
die Ferne die Weite

V
der Grat ist Horizont
schneidet den Himmel ab
scharf
schickt den Berg ins Tal
ins Rheintal
ins Appenzellische
jäh

VI
eine Kanzel aus Fels
ein Kreuz
anstelle des Pfarrers
spricht der Wind
sprechen Winde
hoch und tief

VII
wie viele Töne
hat ein Berg?
warum so viele?
warum solche?

VIII
im Süden das
Rheintal das Föhntal
tief unten die Ebene
Werdenberg Heimat mein
(das Buchserküchenfenster nicht entdeckt)
der Rhein mit Silberblick
ab Flussmitte gilt Liechtenstein
Ausland mit Schweizerwährung

IX
Goldrollen als Wegbegleiter
Grat Gras Gold

plötzlich dieses leise
dieses Glücksgefühl

X
so viele Sterne
und hell erleuchtet
auch das Haus
und irgendwo
1751 m tiefer
das Meer

XI
wie sacht
der Himmel die Berge berührt
als wären’s Geliebte
als streichelte er Haut

XII
abschüssig der Weg
stutzig geht die Welt weiter
der Himmel flieht

XIII
ausgeschieden
die kleine Soldanella
Schuhtritt
tot

XIV
düster und schön
das Gewitterbild
das Grün fast schwarz
bizarr die Türme die
Felstürme Wolkentürme

im Regendunkel
verschwindet der Grat

XV
das Unwetter vorbei
jetzt das Versöhnliche
ein Abendrot ein
heller Himmel und
wie leichte Hände
Vögel

XVI
mitunter ein Ton
eine Schelle
ein Tier
ein abgelöster Stein
ein Ruf

Manik, Sabina

Der verbrannte Brief

Yasmin! Du herzallerliebstes Kind!

Zuallererst will ich dich einfach halten. Du reichst mir schon an die Schultern! Ich lege meine Arme um dich, ich liebkose dein seidiges Haar, ich küsse deine unglaublich grünen Mandelaugen, welche aus einer Tiefe blicken, die eigentlich einem achtjährigen Mädchen noch nicht gebührt.

Ich drücke dich an mein Herz und wiege dich ganz sacht, so wie ich es getan habe, als du klein warst. Was ich dir sagen muss, ist so ungeheuerlich, dass ich gar nicht weiss, wie und wo ich beginnen soll. Ich schreibe dir diesen Brief in der Hoffnung, dass ihn dein Vater für dich aufbewahrt und ihn dir gibt, wenn du gross genug bist. Ich schreibe ihn dir in meiner Muttersprache, die ich dir entgegen allen Unkenrufen beigebracht habe. Du sprichst sie fliessend und fast akzentfrei. Aber statt dass mich diese Tatsache mit Stolz erfüllt, frage ich mich jetzt, ob ich je das Recht gehabt habe, dich mit einer dritten Sprache zu belasten, einer Sprache aus einem kleinen Land, auf der anderen Seite der Welt am Fusse der Berge, wo im Winter der Sturm heult und späte Heimkehrer erfrieren können.

Vielleicht kann ich meine Geschichte daran anknüpfen: Man kann nämlich nicht nur in Schnee und Eis erfrieren, geliebtes Kind, man kann auch an der Sonne erfrieren, inmitten freundlicher, brauner, kleiner Menschen, deren Wesen man so wenig zu verstehen vermag wie das der Gottesanbeterin – weisst du noch, die Heuschrecke, die ihr Männchen nach der Paarung auffrisst. Ich habe dir das alles erzählt in jenen einsamsten aller neun Jahre auf der kleinen Insel, die dir Heimat ist und mir immer ein Kerker blieb. Auch haben nicht alle Gefängnisse dicke, modrige Mauern. Mein Gefängnis hatte einen türkisblauen Strand, der etwas weiter, über dem Korallenriff, ins Azurblau überging. Mein Gefängnis war von weissem Sand umgeben, der in der Mittagshitze flimmerte und gegen Abend von unzähligen kleinen Schalentierchen, Krabben und Einsiedlerkrebsen belebt wurde. Heute weiss ich, dass ich dir viel zu viel erzählt habe, und ich tadle mich deswegen, so wie ich mich wegen allem tadle, was ich dir und deinem Vater angetan habe. Ich bin keine gute Mutter. Was ich am allermeisten hätte sein wollen, ist mir nie gelungen zu sein. […]

Ich muss dich verlassen. Ich bin krank. Weisst du noch, wie ich dir erklärt habe, dass man die verrückte Zohra, die jedesmal die Zähne bleckte, wenn wir das Wasser holten bei der Verteilstelle neben dem Gebetshaus, nicht auslachen und verhöhnen sollte, weil sie ebenso krank sei wie der kleine Mann vor der Garage, dessen Körper über und über mit Warzen besät war? Ich leide auch an so einer Krankheit, die man nicht sieht, weil sie im Gemüt lebt und an der Seele nagt. In der Sprache deines Vaters existiert kein Wort für sie. Die Insulaner scheinen diese schleichendste aller Krankheiten nicht zu kennen. Wenn bei ihnen jemand den Verstand verliert, so tut er dies gründlich, wie eben die verrückte Zohra oder der Spinner Hassan. Sie entledigen sich aller gesellschaftlichen Fesseln und erfreuen sich ihrer Narrenfreiheit. Sie scheinen nicht im Entferntesten traurig zu sein über ihren Zustand, und manchmal beneide ich sie richtiggehend. (Es steht noch ein Buch zu diesem Thema auf meinem Büchergestell. Natürlich gehören die Bücher jetzt alle dir, du darfst damit machen, was du willst. Aber wenn du Papier brauchst zum Anfeuern oder um es in deine Uniformschuhe zu stecken, frag lieber den Papa nach alten Zeitungen, weisst du noch? Amici libri sunt! Ich gehe zwar aus deinem Leben, aber ich lasse dir alle meine Freunde zurück.) Ich nenne diese Krankheit Schwermut, oder einfacher: Traurigkeit. Auch du weisst schon, was Traurigkeit bedeutet. Als deine Grossmutter starb, weintest du ihr nach, und auch als wir die kranke Katze weggeben mussten, warst du ihretwegen traurig. Manchmal bist du auch traurig, weil du spürst, dass deine Eltern verschlossen und unglücklich sind oder weil du mit dem wunderbaren Instinkt der Insulaner fühlst, wie verloren und einsam dein Vater in Halvatien war, auch wenn er nie länger als ein paar Wochen dort war. Traurigkeit hat auch etwas Schönes. Traurigkeit kann voll Poesie und matter Farben sein. Sie kann sich wie ein Wolkenfetzen in einen grellblauen Himmel über dein leeres Gemüt legen und dich inspirieren. Sie kann dir gewissermassen zu einem treuen Gefährten werden, auf den du nicht mehr verzichten willst, weil er, wie eine Kerze, welche die Trivialität einer späten Stunde dämpft, der Banalität des Lebens einen Tüllschleier umhängt. Aber merke dir eines, Kind: Sie ist ein tückischer Begleiter und kann dich, ohne dass du es merkst, in Tiefen hinunterstürzen, aus denen du allein nicht mehr entkommen kannst.

Ich wollte dir noch so viel sagen, doch wird die Zeit knapp. Man sollte sich in jeder aussichtslosen Lage besinnen; man sollte versuchen, die Übel zu erkennen und ihnen Prioritäten zu geben. Dann sollte man eines nach dem anderen ausreissen, fein säuberlich, mitsamt den Wurzeln. Ich habe all die Jahre davon geträumt, mit dir in einer schöneren, reicheren, entwickelteren, demokratischeren und freieren Welt zu leben. Aber ich wusste in meinem Innern immer, dass dein Vater dich mit der gleichen Macht liebt und du ihn. Er war gewissermassen die bessere Mutter als ich. Nie verlor er die Nerven, nie schalt er dich, immer war er für dich da, bedingungslos, und wie er dich lachen und jauchzen machen konnte schon als ganz kleines Kind, hat in mir den Verdacht erhärtet, dass ich der Störfaktor Nummer eins in eurem Leben bin. Die Komplexität meiner Wünsche und Gedanken haben die Einfachheit eurer Welt, in der auch eine gewisse stille Harmonie liegt, blossgestellt. Ich muss mich selber mit den Wurzeln ausreissen, um euer Leben zu befreien, und das werde ich tun. […]

Manchmal gelingt es mir, dich aus Distanz zu betrachten. Dann sehe ich ein starkes schönes Kind, dessen einzige Ahnung von Schmerz eine ihm fremde Mutter ist, der alles schwer fällt, jede noch so selbstverständliche, alltägliche Verrichtung, und die irgendwie immer abseits steht, weil sie nicht wirklich da lebt, wo sie ist. Ich sehe, wie du mit deinen Verwandten den für mich noch immer ekligen fischteigigen Reis isst und er dir schmeckt. Wenn du von der Gebetsstunde nach Hause kommst, verhüllt bis auf dein goldenes Gesicht, dann bist du mir fremd und deine Augen strahlen voller Freude. Wenn du schwimmst und die klatschnassen Kleider an dir kleben, dann lachst du und wringst das Leibchen am Körper aus, so gut es geht. Wenn du in der Schule, in die enge Uniform gezwängt, ganz vorne in der Besammlungsreihe stehst, weil du die grösste bist, dann leuchtest du. Und wenn du gehst, winken die anderen Kinder dir zu, denn du hast ein offenes, freundliches Gemüt. Wenn dich dein Vater mit seinen starken Armen in die Luft stemmt, so wie er es schon tat, als du ein winziger Säugling warst, dann jauchzst du voller Lebensfreude, und wenn er für dich singt und dir die Füsse massiert, dann bietet sich mir ein Bild von schmerzhafter Schönheit.

Ich darf das alles nicht zerstören – man darf jeweils nur den tatsächlichen Störfaktor ausmerzen, also mich selbst. Es steht mir nicht zu, dir zu sagen, dass ich dich aus Liebe verlasse. Ich tue, was sich mir aufdrängt. Wenn ich dich um etwas bitten darf, dann ist es um die Einsicht, dass ich nicht mehr kaputt gemacht habe, als was im Inneren schon kaputt war. Als ich deinen Vater geheiratet habe, war ich jung und voller Illusionen. Es ging alles nur um dich. Ich wollte, konnte nicht weiterdenken. Ich erwartete wohl eine Lösung all meiner Probleme, an deren Wurzel eben jene Traurigkeit lag. Ich wollte ein anderer Mensch werden, wollte ein devotes Weib werden, mich nur noch um dich und deinen Vater kümmern. Ich konnte mich nicht vor mir selber retten. Ja, jung und närrisch war ich.

Nun gehe ich. Nur eines noch wollte ich dir sagen. Pflege deinen Glauben und nimm ihn ernst, auch wenn sich die Zeiten ändern und auch die Insulaner beginnen, Kaufhäuser anstelle von Gebetshäusern zu bauen und sich ein Auto anstelle einer Pilgerreise zu leisten. Der Glaube trägt einen durchs Leben. Ich wäre dir auch in dieser Hinsicht eine schlechte Mutter gewesen. Mein Glaube hinkt wie ein verletztes Tier hinter mir her. Du bist auf dem richtigeren Weg, als ich es war, und dieses Wissen gibt mir die Kraft, mich jetzt auf meinen Weg zu machen.

Manser, Emil

Plakat

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Undatiertes Plakat. Dispersion auf Karton. 

110 x 80 cm. Historisches Museum Luzern.

Martin, Adrian Wolfgang

Salina

Am Feierabend und an Festtagen sassen die Bauern und Fischer auf den Bänken und tauschten die letzten Neuigkeiten vom Dorf und vom Meer aus. Die Jungen standen in angemessener Entfernung, ehrfürchtig und mit offenen Mäulern. Sie passten auf, dass ihnen ja keine Einzelheit von den Abenteuern und Heldentaten entging. Wehmütig erzählten die greisen Seebären auch von Zeiten, in denen allein Santa Marina vierzig Segelschiffe betrieben hatte, um Wein, Öl und andere Erzeugnisse der Landwirtschaft nach Palermo, Neapel und im ganzen Mittelmeer zu verfrachten.

Vor dem Eingang des Platzes, der sich gegen den Strand hin öffnete, stand ein grosser Olivenbaum. Er musste mindestens so alt sein wie das Kirchlein der Dorfpatronin, vielleicht sogar noch älter. Seit Menschengedenken war sein Öl für das heilige Chrisma und für die silbernen Ampeln der Altäre verwendet worden. Und was übrig blieb, verteilte der Pfarrer an die Armen.

Vier unbehauene Basaltblöcke sollten den Baum gegen das Meer schützen. Sie verhinderten jedoch nicht, dass die auslaufenden Wogen bei hohem Seegang den Stamm erreichten. War der Sturm besonders heftig, riss das Wasser Erde mit sich und hinterliess tiefe Höhlungen und Furchen unter den entblössten Wurzeln. Doch der Baum schien gegen jeden Angriff und gegen das tödliche Salz gefeit zu sein. Seine grauen Wurzelarme waren selber versteinerte Wellen, die weit ausgriffen und sich im Boden festklammerten. Die alten Bauern hielten den Baum für unsterblich. Die Fischer vertrauten ihm mehr als jedem Eisenpfahl oder Felsen. Fürchteten sie, der Sturm würde ihre Barken vom Ufer reissen und zerschmettern, banden sie die Taue um den sicheren Olivenstamm und gingen ruhig schlafen. Der Baum war Inbegriff von Geborgenheit und Rettung.

In Santa Marina war auch Brauch, dass der Friedensrichter nie anderswo seine Audienzen erteilte als auf dem runden Platz vor der Kirche. Er stand an den Stamm des Olivenbaums gelehnt, überdacht vom zinnfarbenen Baldachin der ausladenden Äste. Geduldig hörte er Kläger, Beklagte und Zeugen an. Dann schlug er mit dem Knauf seines Handstocks an die steinharte Olivenrinde, bis die streitenden Parteien schwiegen. Sein Urteil war unbestechlich und unverrückbar, wie der Baum. Und der sinnbildliche Zusammenhang zwischen lebendem Wahrzeichen und Sitte und Recht war für jedermann klar und verpflichtend.

Fand nicht gerade eine Gerichtssitzung statt, bemächtigten sich die Knaben aus dem Dorf des Ölbaums. Sie nisteten sich im Geäst ein, und jeder versuchte, den höchsten Platz zu erobern. Wer den Gipfel behauptete, war Anführer der Bande. Alle fügten sich seinem Befehl, wenn es auf gemeinsame Abenteuer ging.

Die Gepflogenheiten der Alten und Jungen machten es aus, dass der Olivenbaum im Herzen des dörflichen Lebens wuchs und gedieh.

Manch einer, der nach Amerika oder Australien auswandern wollte, schlich in der Nacht vor seiner Abreise zu dem zerklüfteten Stamm, presste seine Stirn daran und weinte seinen Schmerz aus. Die meisten hinterliessen auf einem Ast die Anfangsbuchstaben ihres Namens. Und Nini Virgona, der Gitarrenspieler und Sänger, der seinen Freunden das versprochene Hohelied auf Salina schuldig geblieben war, schrieb noch am Tag, bevor er in Messina das Emigrantenschiff bestieg, ein Lied, das den geliebten Baum verherrlichte.

Meienberg, Niklaus

Broger

Brogers waren schon gerüstet, als ich gegen Mittag in ihrer einfachen Appenzeller Residenz eintraf, er ein gewaltiger Brocken in Bundhosen hinter dem Schreibtisch in seiner Studierstube, sie mit den beiden Hündchen beschäftigt. Die Hündchen heissen Belli und Gräueli, während die Frau von ihrem Mann mit dem Kosenamen Lumpi gerufen wird. In einem NSU Ro 80 ging es in Richtung Gonten, ab Kassette strömte das Violinkonzert von Beethoven durch den Autoinnenraum. Dabei musste ich sofort an den rauhbeinigen Alex aus dem Film Clockwork Orange denken, welcher von Beethovens Musik zu Gewalttaten verleitet wird. Dank dem Fahrkomfort des Fahrwerks glitten wir sanft am Kloster ‹Leiden Christi› vorbei, wo Broger Klostervogt ist. Auch in Wonnenstein, Grimmenstein und Mariae Engel ist er Klostervogt. Alle Räder sind einzeln aufgehängt und abgefedert, Radfederung und Radführung sind sauber getrennt, Stabilisatoren stemmen sich gegen die Kurvenneigung. Ein richtiges Senatorenauto. Je schneller, desto geräuschloser, sagte Frau Broger, am leisesten bei 180 km/h. Irgendwo hinter dem Jakobsbad war die Fahrt zu Ende, der regierende Landammann zog den Zündschlüssel heraus, Beethoven brach mitten in der Kadenz zusammen.

Der Aufstieg begann. Die beiden Hündchen wurden ganz närrisch bei den vielen Wildspuren. Im Sommer kann der Landammann auf einem geteerten Strässchen bis zu seiner Berghütte hinauffahren. Das Strässchen wurde von umliegenden Bauern in Fronarbeit geteert (nicht dem Landammann zuliebe, sondern damit die Strasse wetterfest wurde für ihre landwirtschaftlichen Gefährte). Wir stapften durch den Schnee in die Höhe, angeführt vom Landammann, Ständerat, Klostervogt, Ombudsmann der Versicherungen, Präsidenten der schweizerischen Gruppe für Friedensforschung, Buttyra-Präsidenten, Präsidenten der Landeslotterie, Delegierten im Vorstand der Ostschweizerischen Radiogesellschaft, Vorsitzenden des Grossen Rates, Vorsitzenden der Landesschulkommission, Präsident des Eidg. Verbandes für Berufsberatung, Vorsitzenden der Bankkommission, Vorsitzenden der Anwaltsprüfungskommission, Mitglied der Jurakommission, Delegierten im Verwaltungsrat der Appenzeller Bahn, Vorsitzenden der Landsgemeinde, Mitglied der aussenpolitischen Kommission des Ständerates, Mitglied der Drogenkommission. Dieser ging voran mit dem Rucksack. Er ist noch rüstig, macht einen kolossal massigen Eindruck.

 

Epitaph

Wenn ich nicht
an die Unsterblichkeit der Seele glaubte
wär ich auch Revolutionär
dann würde ich die Erde in ein Paradies
zu verwandeln suchen
weil es aber
ein Jenseits gibt
kann ich mich gelassen geben
wir haben ja nachher
noch etwas (1)
nämlich diese Soirée de Gala, veranstaltet
in der Ewigkeit hinten im Vormärz 1980
zu Ehren von Dr.
Raymond Broger dem sattsam bekannten NSU Ro-80-Besitzer
und Landammann

nachdem er seine leibliche Hülle
abgestreift
& ihn seine beiden Hündchen Gräueli & Belli
& seine Frau die er Lumpi rief
in der anderen Welt
beweinten

(1) Broger zu Meienberg. 1973. Tages-Anzeiger-Magazin.

Meier, Helen

Gratulation

Die Radiosprecherin gab bekannt, dass im Altersheim Sonnenblick Fräulein Marie Hungerbühler ihren 95. Geburtstag feiere, dass sie fortfahre, noch alle Tage abzustauben oder Blumen zu giessen, dass man ihr dazu herzlich gratuliere und weitere schöne Lebensjahre wünsche. Fräulein Marie Hungerbühler hatte die Gratulation nicht selber gehört, sie war taub, und den Hörapparat hatte sie vergessen. Die andern Alten lachten, die Schwester kam und schrie es ihr ins Ohr, Marie vergass das Brot in den Kaffee zu tunken. Gratuliert war ihr worden, von fremden Herren am Radio, sie verschüttete den Kaffee. Sie war nicht die Einzige, die verschüttete, überall auf den Plastiktischen waren Kaffeelachen. Die Alten sassen davor und schauten vor sich hin, die Schwester hatte versucht, Strickstunden einzuführen, viereckige Stücke, zehnmalzehn Zentimeter, die zusammengenäht Wolldecken für die armen Neger ergäben. Die meisten strickten nicht, sie vergassen es und liessen die Nadeln fallen, die Wolle rollte am Boden, zwei zählten die Maschen laut und schauten sich böse an. Die meisten sassen einfach da, manche bewegten die Lippen, murmelten, niemand achtete darauf, eine Dicke, deren Hintern über den Stuhl quoll, mit rosa Haut, fuhr sich von Zeit zu Zeit mit einem Taschentuch unter die Stahlbrille, die Brillengläser waren trübe, eines hatte einen Sprung, der Rand der Brille hatte auf der Wange eine rote Rille gezeichnet. Einer Kleinen, mit zwei Eckzähnen, rann der Speichel auf die feuchte Schürze, eine schlief, die Arme neben den Kaffeelachen, der dünne graue Zopf, mit einem Schuhbändel um den Schädel gebunden, war heruntergerutscht. Nicht schlafen, Babette, sagte die Ordensschwester, freundlich lächelnd durch den Raum schreitend, sonst schlafen Sie nachts nicht mehr. Eine lachte, schlurfte zu Babette und schüttelte sie, im Zimmer war der Geruch von ungelüfteten Kleidern, Urin und Anstaltskaffee. Das Altersheim war kürzlich in ländlicher Gegend erbaut worden, Chromstahlküche, helle Möbel, rotüberzogene Stühle, geblumte Tapeten, Badezimmer, Duschen, Spiegel, Wasserhahnen, sehr schön. Die Alten liebten das Baden nicht, das macht kalt, sagten sie, sie bedauerten, die Wäsche wechseln zu müssen, man muss doch sparen, sagten sie. Manche liessen von Zeit zu Zeit das Wasser in die Hosen laufen. Das war einfacher, als immerzu über die blanken Böden auf die Toiletten zu springen. Solange man sitzen blieb, gab es warm, der Geruch war vertraut, es trocknet von selber wieder, sagten die, die es merkten. Viele merkten es nicht. Eine blätterte in einem Gebetbuch mit grossgedruckten Buchstaben, lesen mochte sie nicht, aber Bilder anschauen, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist, Taube, Apfel, Löwe. Da war Marie Hungerbühler noch besser dran, sie staubte ab. Sehen konnte sie gut, kein Stäubchen entging ihr, sie staubte die Kommoden ab, die Stühle, die Bänke, auf der die Alten sassen, von ihren Plätzen mussten sie rücken, damit sie abstauben konnte. Sie taten es unwillig und hockten sich schnell und langsam wieder hin. Die rosa Dicke ging plötzlich von stillem Augenwischen in lautes Weinen über, die Schwester kam und führte sie weg, einige kicherten, andere gähnten, andere hatten nichts bemerkt. Marie Hungerbühler schüttelte den Kopf. Wie konnte man auch weinen, es war doch so schön hier, und man hatte ihr gratuliert. Sie tat das Staubtuch sorgfältig in ihre Schürzentasche. Wenn es endlich aufhörte zu regnen, musste sie die Blumen giessen gehen. Und noch weitere schöne Lebensjahre hatte man ihr gewünscht. Das war wirklich nett.

Heimat braucht Gefühle

Wenn ich nach Aufenthalten in der Fremde, sei es auch nur nach einer Ferienreise, zurückkehrte, schlug mir die Heimat wie eine Welle ins Gesicht, sanft, erschreckend. Dieses sauber Geordnete, diese selbstverständliche Pünktlichkeit! Dieses Gefühl der Sicherheit! Die Sprache ist eine vertraute Melodie, der man nicht mehr zuzuhören braucht. Diese Stützvermauerung der Landschaft, diese Zudeckung des Erdigen! Unterführungen, Überführungen, Orte, die sich zu gleichen beginnen, zum Verwechseln ähnlich werden mit Begradigungen, Tankstellen, Verlust der Mitte. Dann die Ankunft zu Hause, wo ich lebe, arbeite, liebe, hasse, dort, wo ich bin, wenn ich nicht fortreise. Schön, diese Ankunft! Alles hat auf mich gewartet. Der Lieblingsstuhl, die Lieblingsmusik. Die Tanne im Garten hat eine Nadelreihe mehr bekommen, das Gras ist gewachsen, die Geranien brauchen dringend Wasser, das Essen schmeckt wie lange nicht mehr, auch wenn es vorerst nur Brot und Käse ist. Der Staub im Wohnzimmer ist mein Staub, die Bettlaken haben meinen Geruch, die Luft ist die Luft, die ich vermisst habe. Ich bin daheim. Ich bin dort, wo ich sterben möchte. Ich bin da, wo ich die Erde angreifen kann, der Baum gehört zu mir, der Dachziegel trägt das Moos meiner Erinnerung, ich sehe meine Trittspuren im Gras. Wenn ich eine Blume abreisse, kommt mir in den Sinn, dass andere Völker sich dafür zu entschuldigen pflegten. Ich bin zugleich beruhigt und aufgeregt. Weil ich mein Eigenes wiederum spüre, kann ich an anderes denken. Weil ich gut schlafe, ich bin schliesslich daheim, die Geräusche sind die der Freunde, kann ich wach sein. Ich kann arbeiten, an Kommendes denken, an das, was nicht kommen darf, und wenn es trotzdem kommt, wie ich ihm begegne. Heimat ist für mich der Urgrund, die ungestörte Möglic