Literaturland
Othmar Gurtner
Schlechtwetterfahrten
Sprechende Landschaft ist der Titel einer «erdgeschichtlichen Heimatkunde», die Gurtner mitherausgegeben hat. Als Direktor der Schweizerischen Stiftung für alpine Forschungen war er Schriftleiter der sechsteiligen Reihe Berge der Welt. Sohn eines Hoteliers, in jungen Jahren Ski- und Kletterpionier, machte Gurtner eine Buchhändlerlehre in St. Gallen. Er war Journalist, Ski-Korrespondent der Zeitung Sport, Co-Regisseur und Produzent des Filmes ‹Das weisse Stadion› über die Olympischen Winterspiele von 1928 in St. Moritz.
Der Altmann
Eine wilde Sturmnacht hat sich über die Berge gelegt und jauchzt um die Wette mit dem tollen Springinsfeld, dem Brülbach. Der Raum ist erfüllt vom Tosen und Rauschen: entblättert zittert der Wald, die Tannen am Berghang schlürfen und taumeln im rhythmischen Schwingen des nächtlichen Sanges. –
Einsam wandere ich durch weite Wiesen und herbstlichen Wald am glucksenden Bächlein entlang dem Brültobel zu. Über der Ebenalp hasten emsige Wölklein landaus und verdunkeln zeitweise die grosse blasse Mondscheibe. In breiten Streifen klettert das Licht am Kamor. Dazwischen kauern schwer die Schatten und werden mitsamt den finsteren Tannenkeilen zu drohend ausgereckten Gespensterarmen, die frech nach dem herrlichen Lichte am Grat greifen. Fast scheint die düstere Macht zu siegen; mehr und mehr hängt sich Wolke an Wolke – schon spannt sich ein wulstiger Kragen über den Alpstein, – ein Mantel mit unendlich getürmten Vorstössen, schwarzschleppenden Schleifen und Fransen. Aus schmalen Ritzen funkeln ein paar Blinzelsternlein gar schüchtern herab auf das sturmgepeitschte Bergland. – Jetzt hat das Brültobel all das verschlungen, – die Wolken, den Mond – und auch mich; nur der Bach rauscht im ewigen Takte sein Reiselied.
Im Tobel bin ich geschützt vor dem rauhen Föhnsturm. Doch ängstigt mich das hohle Sausen und treibt mich bergan, bis der Schweiss in Tropfen auf der Stirne steht. Hoch über der Schlucht kollern und poltern tausend koboldische Geister und johlen mir die Ohren voll mit ihrem nichtssagenden, einförmigen Schnauben, das doch so eindrucksvoll auf mich eindringt. Wohl suche ich es zu deuten. Doch kaum sind die Sinne darauf gerichtet, so flackert das tobende Raufen der neckischen Teufelchen zu erneuter heftiger Wallung auf, und im Taumel des Sturmes reisse auch ich mich zusammen und haste tappend den einsamen Holperweg bergwärts. Als Wohltat empfinden die erregten Gedanken das abwechslungsreiche Suchen des Weges; bald bin ich ein leichtlebiger Wandergesell, dann wieder ein Träumer, den Blick in das Dunkel gerichtet, – die Gedanken Gott weiss wo zerstreut …
Da rüttelt der Föhnsturm mich wach. Weg fliegen Gedanken und breitausgesponnene Träume. Hart fällt der Wind mich an und vermehrt mit seinem heissen Atem die Schrecken, die rings im stumpfen Dunkel kauern, und unsichtbar, doch geahnt, mit Riesentatzen zu wuchtigem Schlage ausholend, über mir schweben. Und jetzt – oh Schreck – kommt gar Leben ins Astwerk des Waldes. Das Schwingen und Biegen wellt sich von Baum zu Baum, und bald wähne ich Riesen zu sehen, bald hässliche Zwerge, und plötzlich, – eiskalt läuft’s mir über den Rücken – huii-sss – stösst ein wirbelndes dunkles Etwas vom Walde her auf mich zu. Schon fasse ich fester nach meinem Stock und starre entsetzt in das Dunkel, – da schnaubt es vorbei, streift hart meine Schulter und wirft mir kalten Schreck in die Glieder. Kaum wage ich umzublicken; und doch …, – da muss ich fast lachen, ein harmloses, dürres Stacheltännlein hat mich dermassen geängstigt, nur weil es vom Föhnsturm erfasst und im Wirbel an mir vorübergetragen wurde. – Schaurig öde und verlassen liegt die endlose Ebene der Sämptiseralp. Am schwarzen Bergsee entlang schleiche ich hinüber zu den Hüttendächern am Berghang. Ein schmaler Steg überbrückt den Bach. Mitten über dem Wasser sucht mich der Sturm mit ausgesuchter Tücke zu werfen, und wie ihm das nicht gelingt, bläst er seine Pausbacken leer, wütet und tobt, und presst sich mir in den Hals, so dass ich kaum Luft schnappen kann. Vorwärtsgebeugt renne ich gegen den Wind …
[…]
Ich sehe keinen [der drei Alpsteinseen]. Auf der Meglisalp wedeln zerzauste Drachenschwänze, und am Hundstein bäumt sich der wogende Leib. Und auch vom engen Felstal von Fählen zuckt ein gieriger Drache empor. Über der prallen Mauer der Freiheit stossen und fauchen die grauen Dämone und zischen mit dunstigem Brodem weithin über Grat und Tal. Auch im Toggenburg ein Gewühle und Rollen von buckligen, formlosen Massen. Rings Sturm und Toben, – inmitten der grauen Nebelschlacht der Altmann, ruhig und stark. Er ist der Lenker der Schlachten. Ihn umhüllt keine Wolke, und fest und sicher zügelt sein Felsarm das launische Aufbäumen der Tiefe.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 344–345.
Erstpublikation: Othmar Gurtner: Schlechtwetterfahrten. Bern: G. A. Bäschlin, 1917. S. 76–79, 84.