Literaturland
Jakob Hartmann
Das Vorspiel des Lebens
Nun zog der Herbst in mein Jugendland. Undurchdringliche graue Nebel lagen über dem See, auf dem die Nebelhörner heulten. Dieses Heulen tat mir weh, denn ich ahnte eine Gefahr, zwar nicht für mich, aber für andere Menschen, die auf den Schiffen das Nebelmeer durchfuhren. An manchen Tagen zerteilte sich gegen Mittag der dichte Schleier über dem See und der Landschaft, und von leuchtenden Sonnengeländen grüsste mein Wunderland zu dem entzückten Joggeli nach Felsberg herüber. O ihr lichtgetränkten Strandbilder, wie oft hat meine erwachende Seele sich gesonnt und belebt an der Überfülle von Schönheit und göttlicher Herrlichkeit, die sich da dem freudetrunkenen Auge offenbarte. Über den Steinbrüchen im Moos erhebt sich der Rossbüchel, später mit dem moderneren Namen ‹Fünfländerblick› belegt. Gegen die Mitternachtseite verbindet ein langer Dämmerstreifen badisches, württembergisches und bayrisches Land mit- einander. Tief im Nordwesten beginnend, endet er beim Eiland der Stadt Lindau und strebt über dem Gebhardsberg weiter, um sich in den dunklen Forsten des Bregenzerwaldes zu verlieren. Als ich an einem dieser selten schönen und erhabenen Herbsttage diese Lande überschaute und meinen Blick über Hochmatt schweifen liess, sah ich ein Gewimmel mächtiger Gräte und Rücken, die einen gewaltigen Gebirgsstock emporhoben, der den fünf Ländern weithin seinen Gletscherfirn zeigte und wogiges Hügelland und strömende Bäche von sich ausstiess. Dieser Gebirgsstock unterbricht gegen Westen den Lauf der Bergeslinie des Alpsteins. Aus diesem fernen Bergland kam eines Abends ein rüstiger Fussgänger geschritten. Auf einem ‹Rääf› trug er ein kleines, bemaltes Komödli und erkundigte sich nach der Behausung des Deckers Heinrich Tanner. Nachdem er sie gefunden, stellte er die Bürde auf die Ofenbank, öffnete nach kurzer Begrüssung die beiden Schubladen und entnahm ihnen drei Paar Holzschuhe. Mir schenkte er einige hölzerne Kühe und der kleinen Schwester Elisa eine Holzpuppe und ein Bettstättlein; alle diese Dinge waren das Werk seiner Hände. Dieser kleine, besetzte Mann mit dem grauen Kranzbart und der ausrasierten Oberlippe war mein Grossvater väterlicherseits, der den weiten Weg aus seiner rauhen Bergheimat zu uns zu Fuss gemacht hatte. Trotz seinen 65 Jahren reichte das volle, gebleichte Lockenhaar bis an die Schläfe, nur sein Körper war von harter Arbeit vornüber gebeugt. Die Tanner waren ein zähes Geschlecht und geschickt zu mancher Hantierung und voll gesunden, sprühenden Witzes. Mein Grossvater erzählte, dass auf seinem Heimeli drei Kühe und zwei Geissen Atzung fänden, und dass er sich im Sommer mit Zimmerarbeit und im Winter mit Holzschuhmachen befasse. Daher nannte man ihn zu Hause den ‹Holzbodenruedi› und zufällig lag auch seine Behausung im Holzboden in der Gemeinde Schönengrund. Bevor er an diesem ersten Abend zu Bette ging, nahm er ein kleines, abgegriffenes Buch aus seiner inneren Westentasche, – die Weste war aus rotem Scharlach und hatte beidseitig silberne, achteckige Knöpfe –, und las aus dem Psalter eine seelische Stärkung vor, wie er es nannte. «David war der erste und grösste Dichter und er verstand es, wie kein zweiter, die Saiten und Stimmungen der Seele zu berühren», sagte der Grossvater. Zuletzt sprach er ein kurzes Gebet mit dem Schlusssatz: «Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» Drei Tage blieb der Grossvater bei uns, und als ich zutraulicher gegen ihn wurde, erzählte er manche Geschichte, die sich im Bereiche seiner Heimat zugetragen. Indessen rühmte er auch unser Land, der See und die Reben hatten es ihm besonders angetan. Er wusste es bisher nicht, dass es in unserem rauhen Bergland reife, blaue Trauben gebe, die man essen konnte, ohne an Essig oder Holzäpfel zu denken. Am letzten Nachmittage, ehe die Sonne zur Rüste ging, kam noch eine ersehnte Gelegenheit, dem guten Grossvater mein Wunderland zu zeigen. Die Nebel hatten es freigegeben, wie man einen Gefangenen freilässt, und ich führte meinen Vorfahr auf einen Aussichtspunkt, die See-Ebene, von den Felsbergern ‹Seebeli› genannt. Dort wies ich ihm die Herrlichkeiten, welche meine kindliche Phantasie mit Wonne und keimenden Hoffnungen erfüllten. Der Grossvater zündete, behaglich auf einer Beige gefällten Holzes sitzend, sein ‹Lindauerli› an, und ich ergriff die gute Stimmung und hob das Land meiner Sehnsucht zu schildern an. Beim Gebhardsberg mit seinen rotkahlen Felsen beginnend, wies ich auf die weissen Bauten von Friedrichshafen und Meersburg hin, dieser letztere Name allein genügte, um ein Märchenreich aufzubauen. Zum Schlusse meiner begeisterten Betrachtung zeigte ich dem teilnehmenden Grossvater einen weithin schimmernden Streifen Wassers, indem ich mit ausgestrecktem Arm auf jene blinkende Stelle hindeutete: «Grossvater, der Tobias hat gesagt, dort weit unten sei die Stadt Konstanz, und dort führe die silberne Strasse ans Ende der Welt.» Mein Grossvater war ob dieser Aussage erstaunt, indem er sagte: «Büblein, du weisst viel für dein Alter, aber so viel ich merken kann, muss das der Rhein sein, der dort aus dem Bodensee kommt und seinen Weg, um manche Klafter breiter geworden, allein weiter reist. Eine Strasse kann es nicht sein, einmal keine Landstrasse. Aber wart – der Tobias hat da ein Gleichnis gebraucht, er hat eine Wasserstrasse gemeint. Ja, dann hat er recht, dann führt sie ans Ende der Welt.» Indem ich dem lieben Grossvater in die milden, braunen Augen und in sein faltiges Gesicht sah, ahnte ich ein klein wenig von der Grösse und Erhabenheit dieser Wasserstrasse, die Länder und Meere miteinander verbindet. – Bald senkten sich düstere Abendschatten über die fernen Sonnengestade, finstere Nebelschwaden krochen drohenden Ungeheuern gleich, Wasserstrasse und See verhüllend, einher, und als ich, von Grossvater geführt, heimwärts zog, stöhnten die Nebelhörner, als lauerten Tod und Untergang in den Tiefen des Wassers.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 135–136.
Erstpublikation: Jakob Hartmann: Das Vorspiel des Lebens. Geschichte einer Kindheit. Weinfelden: Schweizer Heimatkunst-Verlag, 1923. S. 26–30.