Literaturland


Jakob Hefti

Anna Koch, das Mädchen von Gonten

1912

Das sozialkritische Drama erzählt in sieben Akten die Geschichte der Anna Koch (1831–1849), der ‹Riedsennegnazis Nann›. Sie war die letzte Person in Appenzell Innerrhoden, an der die Todesstrafe vollzogen wurde. Anna Koch hatte eine Liebesbeziehung zu Johann Baptist Mazenauer, dem ‹Bisch› oder ‹Gerersbisch›. Da sie ihn des Öfteren betrog, wandte er sich Magdalena Fässler zu. Die im Stolz verletzte Koch folgte ihrer Nebenbuhlerin an Fronleichnam 7. Juni 1849 und ermordete sie.

Fünfter Akt. Vierte Szene
(Kochs Stube.)
Erster Auftritt
(Wenn der Vorhang in die Höhe geht, ist die Bühne einen Moment leer.)
Nann: (Von draussen.) Mutter, Mutter, mach mir auf!
Frau Koch: (Mit einem Licht in der Hand.) Was ist das? Wer ruft noch zu so später Stunde?
Nann: Ich bins, Mutter, mach mir auf!
Frau Koch: Jesus Maria! (Öffnet.) Nann, du! Komm! Wie du mir Angst gemacht, als ich vernommen, du seiest vor zwei Tagen im Rathaus auf und davon. Ich glaubte schon, du hättest dir ein Leid angetan. Den ganzen Tag habe ich für dich gebetet, so angst war mir. Und noch heute meinte der Vater, du wärest leicht genug dazu.
Nann: Ach, Mutter, ich wollte, es wäre so, dann wäre alles vorbei.
Frau Koch: Kind, red’ nicht so schlecht, du bist ja jetzt daheim, und sie werden dich bald wieder frei lassen müssen. Warum bist du fort gesprungen?
Nann: Ach, Mutter, ich hielt es nicht mehr aus. Wie das all’ die Nächte mich quälte und folterte. Das einemal erschien ein wildes Tier, das mich mit glühenden Augen verschlingen wollte, dann wieder kam ein böser Mann, der über die Bettstatt hing und mich erwürgte. O, Mutter, das ist schrecklicher als der Tod. Und wenn ich darüber nachdachte, wie Bisch letzten Herbst, als ich ins Wasser springen wollte, mich zurückhielt und mich tröstete und nun als Dank solche Qualen ausstehen muss, da komme ich mir so schlecht und verworfen vor. Mutter, es ist furchtbar, wie sie ihn quälen und schlagen, und einmal haben sie ihn in den Bock gespannt. Des Nachts habe ich ihn oft so inständig beten gehört, dass er mich erbarmte, und ich meinte, ich müsse ihn erlösen.
Frau Koch: Und wo warst du jetzt die Tage.
Nann: Am ersten Tag ging ich nach Eggerstanden und übernachtete im Bären.
Frau Koch: Ums Himmelswillen!
Nann: Du musst nicht erschrecken, sie hatten mich nicht erkannt. Am Morgen ging ich fort, ehe sich jemand regte, und mit dem Tagesgrauen war ich am Rhein und fuhr hinüber ins Vorarlbergische. Im Rankweiler Kloster wollte ich mich absolvieren lassen und dann einen Dienst suchen. Aber der Pfarrer wies mich ab. Ich ging dann nach Feldkirch zu Bauer Hofer, von dem wir schon oft Vieh im Lehen hatten. Die Leute nahmen mich freundlich auf, und ich hätte dort bleiben können. Aber schon war mir wieder alle Lust vergangen, und ich kehrte um und eilte hieher.
Frau Koch: Du dummes Ding, warum bist du nicht dort geblieben. Jetzt wärest du allem los.
Nann: Ach, Mutter, ich hätte doch keine Ruhe gefunden. Und was der Hochwürden in Rankweil zu mir gesagt – es zwingt mich dazu – Mutter, ich muss hingehen und alles bekennen.
Frau Koch: Nann, bist du verrückt geworden! Du willst dich selber aufs Schafott liefern? Kind, Nann, diese Schande willst du uns antun?
Nann: Ha, Mutter, mir schauderts! – Nein, ich bekenne nicht.
Frau Koch: Kind, ich beschwöre dich, sprich so etwas nicht mehr aus. Wenn es jemand hört, dann bist du verloren.
Nann: Aber, Mutter, der Beichtstuhl! Ich bin nicht absolviert worden und werde es mein Leben lang nicht mit dieser Schuld. Und der Pfarrer sagte, wer ohne Absolution sterbe, der sei der Hölle verfallen.
Frau Koch: Sei nicht so närrisch, Kind, der Pfarrer glaubt das selber nicht. Ich selbst hörte einmal, wie er sagte, es sei ein Unrecht zu sagen, die Ausserrhödler werden verdammt, der liebe Gott werde das schon machen. Die Reformierten sündigen auch, beichten auch nicht und sterben auch ohne Absolution.
Nann: Und kommen nicht in die Hölle?
Frau Koch: Das weiss der Herrgott, wir nicht!
Nann: Wenn das wahr wäre, Mutter – aber Bisch, was wird mit ihm? Dann werden sie ihn köpfen, und das darf niemals geschehen, hörst du, Mutter, niemals.
Frau Koch: Es geschieht auch nicht! Sie dürfen ihn nicht köpfen, darüber darfst du beruhigt sein. Er hat ja nichts gestanden, gesehen hat es niemand, somit können sie ihm nichts beweisen.
Nann: Aber sie werden ihn gefangen halten. O, Mutter, du kannst nicht glauben, wie furchtbar sie ihn schon gequält haben.
Frau Koch: Das dürfen sie nicht länger, wenn er nicht gesteht.
Nann: O, die Herren wagen viel. Haben sie nicht Landammann Suter auch verurteilt und getötet ohne Geständnis.
Frau Koch: Das war damals etwas anderes, die Herren mussten Suter fürchten, den Gerersbuben aber nicht. Wenn sie nichts herausbringen, werden sie müde werden, sie werden sagen, die Lene müsse doch selber ins Wasser gefallen sein und lassen euch beide frei.
Nann: Das glaube ich niemals, Mutter! Sie wissen jetzt zu viel. (Weint.) Wenn du mir damals die Halskette gekauft hättest, wäre das alles nicht geschehen.
Frau Koch: Schweig jetzt davon, das lässt sich nicht mehr ändern; denk an die Zukunft. Dass du, nachdem die Flucht geglückt, wieder zurückkehrst, wird dich in den Augen der Herren entlasten. Du musst behaupten, du habest die Lene tot gefunden und den Bisch nur aus Angst angegeben. Dieser Ausgang wäre den Herren selber am liebsten. Glaubst du, es mache ihnen Freude, ein junges Mädchen zu töten? Ich komme morgen in aller Frühe mit dir und werde noch selber mit dem Weibel und dem Statthalter sprechen.
Nann: Ja, ja, Mutter, wenn das so leicht wäre, aber da drinnen, ob ich das niederringe, das mit so furchtbarer Gewalt in mir pocht. Ach, du glaubst gar nicht, wie schlecht ich mir vorkomme. O, wäre ich doch mit den Fluten des Rheines und läge im tiefsten Grunde des Bodensees – dann wäre alles vorbei.
Frau Koch: Kind, Nann, du sprichst schrecklich! Komm zur Ruhe, du bist erregt.
Nann: Ja, Mutter, – zur Ruhe – Ruhe –
(Der Vorhang fällt.)


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 545–547.

Erstpublikation: Jakob Hefti: Anna Koch, das Mädchen von Gonten. Grosses historisches Volksdrama aus den Appenzellerbergen in 7 Akten. Weinfelden: Neuenschwander’sche Buchhandlung, 1912. S. 79–83.