Literaturland


Rolf Hörler

Litaneien, dazwischen ein Gedicht

1976

Heitere Ratlosigkeit

O ihr Spatzenschwärme in den Weinbergen!
O ihr Geranien auf den Stubenbalkonen!
O ihr Goldfische in den Gartenteichen!
O ihr Teeblumen in den Steinbrüchen!
O ihr Wühlmäuse in den Rübenäckern!
O ihr Schnittlauchbüschel in den Blumenkistchen!
O ihr Vogelnester in den Flugschneisen!
O ihr Brennnesseln an den Schutthalden!
O ihr Druckfehler in den Wörterbüchern!
O ihr Lilien auf den Brachfeldern!
O ihr Wegwarten an den Holzwegen!
O Hopfen & Malz an ausgedörrten Stangen,
noch ist nicht alles verloren!

 

Manöverbeginn

No Woman No Cry
in der Appenzellerstube
des Restaurants ‹Falken›
in Heiden,
wo wir im Kampfanzug
vor einem kühlen Bier sitzen
und aus der Music-Box
den letzten Lagebericht
über die unmittelbar
bevorstehenden Manöver hören:
No Woman No Cry.
Die Serviertochter,
von uns Soldaten
Christkindlein genannt,
lässt das kühl,
und auch der silberne Falke
draussen auf dem Wirtshausschild
verfolgt ungerührt jede Bewegung.
No Woman No Cry.
Wenn wir im Kampfanzug
von unserem Bier aufstehen
und unser wohlvorbereitetes
Manöver beginnen,
wird er sich auf die Beute stürzen,
und wir werden ihn hören,
Christines leisen,
erschrockenen Schrei –
während in der Appenzellerstube
die Music-Box noch einmal
No Woman No Cry
zu spielen beginnt.

 

Pilzkunde

Ich suche die Poesie
dort
wo sie niemand vermutet,
in den Pilzbüchern
des Verbandes
schweizerischer Vereine für Pilzkunde
zum Beispiel.

Ich lese die Winke
für den Pilzsammler
und befolge sie aufs genauste,
halte also auch Abführmittel,
Aktivkohle, schwarzen Kaffee
und Alkohol bereit,
gehe mit mir in die Pilze
und kümmere mich einen Pfifferling
um das Kopfschütteln
gewisser Leute,
die nichts verstehen
von einem blattgrünlosen Dasein,
von einer unselbständigen Ernährungsweise,
von einem Leben
auf faulenden organischen Stoffen
oder von den Parasiten
auf oder in unseren Organismen.
Angesichts der über hunderttausend Arten,
von denen die gesamte Erde
bis an die Grenzen des Lebens
besiedelt ist,
vergeht mir selbst das Kopfschütteln
über das Kopfschütteln gewisser Leute.

Was ich finde
in den Pilzbüchern
des Verbandes
schweizerischer Vereine für Pilzkunde,
sind unverbrauchte Wörter,
die aneinandergereiht
zu Zauberformeln werden :
Wurzelrübling
Ochsenzunge
Ziegelgelber Schleimkopf
Gruben-Lorchel
Buchen-Klumpfuss
Mohrenkopf
Feinschuppiger Schneckling
Igelbovist
Beutel-Stäubling
Schwefelporling
Zinnoberfaseriger Rauhkopf
Graustieliger, verfärbender Täubling
Schuppigberingter Dickfuss
Schnürsporiger Saftling
Granatroter oder Grosser Saftling
Rasiger Anistrichterling
Fransiger Wulstling
Zirbenröhrling
Tonweisser Schüppling
Fleischbrauner Rötelritterling
Olivbrauner Milchling
Weinbrauner Schirmling

In meinen Händen
wird das Ungeniessbare
geniessbar,
und in meinem Munde
verwandelt sich
Essbares in Giftiges.
Ich rufe das Elend beim Namen
und schreibe eine Litanei
für die Ausgestossenen:
Gebrechlicher Täubling
Tränender Täubling
Blutroter Weintäubling
Frauen-Täubling
Vergilbender Täubling
Stink-Täubling

Bittet für uns!

Weisskeuliger Wasserkopf
Kegeliger Rauhkopf
Olivbrauner Rauhkopf
Zinnoberroter Hautkopf
Blutroter Hautkopf
Geruchloser, gelbfleischiger Schleimkopf
Bitterer oder Eingeknickter Schleimkopf

Bittet für uns!

Einsiedler Wulstling
Rötender Porling
Grauer Leistling
Gedrungener Fälbling
Sparriger Schüppling
Gefleckter Rübling
Waldfreund-Rübling
Traniger Graublattrübling

Bittet für uns!

Stinkmorchel
Herkules-Keule
Semmelstoppelpilz
Braunwarziger Hartbovist
Blauer Klumpfuss
Anis-Klumpfuss
Purpurfleckender Klumpfuss

Bittet für uns!

Gebuckelter Trichterling
Keulenfüssiger Trichterling
Kahler Krempling
Gallenröhrling
Schweinsohr
Trottoirchampignon
Schmarotzerröhrling
Dunkelblau anlaufender Röhrling
Gerberei-Schwärzling
Spitzbuckliger, nicht schwärzender Saftling
Kupferroter Gelbfuss
Derbkeuliger Dickfuss
Safranfleischiger Dickfuss
Schleimiger, rotanlaufender Dickfuss
Blaublättriger Schleimfuss

Bittet für uns!

Was gegen uns ist,
wir kennen es genau
und wissen,
woran wir zugrunde gehen.

Grosser Schmierling oder Kuhmaul
Gesäter Tintling
Knochentintling
Schopftintling
Voreilender Ackerling
Schwarzfussporling
Blutchampignon
Erdschieber
Grubiger Milchling
Kampfermilchling
Hasenbovist
Abgestutzte Keule
Zunderschwamm
Wurzelnder Fälbling
Schwarzer Langfüssler
Schmieriger oder brauner Ledertäubling
Schmucker Wirrblättling

Was ich finde
in den Pilzbüchern
des Verbandes
schweizerischer Vereine für Pilzkunde,
ist Unverbrauchtes,
das ohne Punkt und Komma auskommt
und keines Satzgefüges bedarf.
Zeitwortlos verwende ich
die niegehörten Namen
und gebe meine Ahnung
von einer Welt,
die niemand kennt,
an taube Ohren weiter.
Ausgehöhlt und unterwandert,
hätten wir allen Grund,
uns zu fürchten.
Ja,
es heisst das Fürchten
wieder lernen,
wie jener, der auszog
mit grimmigem Vorsatz.
Das Lachen,
so bitter es sein mag,
wird euch vergehen,
eingedenk dessen,
was euer wartet.
[…]

Eichhase
Hexenei
Semmelporling
Gefranster Erdstern
Elfenbeinröhrling
Samtfusskrempling
Veilchenblauer Schönkopf
Meergrüner Wulstling
Zedernholz-Täubling
Himmelblauer Stacheling
Rotüberfaserter Hautkopf
Nebelgrauer Trichterling
Sammetfüssiger Rübling
Krönchen-Träuschling
Lilastieliger oder zitronenblättriger Täubling
Erdigriechender Schleimkopf
Elfenbein-Schneckling
Grüne Erdzunge
[…]

Ich bin dort,
wo mich die Poesie
nicht vermutet,
in den Pilzbüchern
des Verbandes
schweizerischer Vereine für Pilzkunde
zum Beispiel.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 465–471.

Erstpublikation:
Heitere Ratlosigkeit – Rolf Hörler: Mein Kerbholz. Gedichte. Darmstadt: Bläschke, 1976. S. 78.
Manöverbeginn und Pilzkunde – Rolf Hörler: Hilfe kommt vielleicht aus Biberbrugg. Zürich: orte-Verlag, 1980 (Die blaue orte-Reihe 8). S. 40, 15–26.