Literaturland
Paul Ilg
Das Menschlein Matthias
Aus dem ersten Kapitel einer vierbändigen Autobiographie, erschienen zwischen 1906 und 1913, lebensgeschichtlich der Bericht von Kindheit und Adoleszenz, werkgeschichtlich der letztpublizierte Band.
Die Einkehr zum Gupf
Die verwunschene Hütte unter dem bewimpelten Felskegel, ‹Gupf› genannt, lag schon im kühlen Abendschatten, während jenseits des Rickentobels das Licht noch verlockend auf allen Matten spielte und die niederen Berghäuschen mit den glühenden Scheiben aussahen wie trunken von Sonnenschein. Vor der Schwelle, nur mit Hemd und Hosen bekleidet, kauerte ein sauberer Knabe, der ein rostbraunes, schartiges Messer zückte, womit er das Gras zwischen den klobigen Pflastersteinen abtat. Das gemeine, mühselige Geschäft schien ihn fuchsteufelswild zu machen; er stocherte tückisch an dem Unkraut herum und wetzte die Klinge am Gestein, dass es knirschte. Die Augen mochte er bei dieser Arbeit schon gar nicht brauchen. Er starrte und horchte lieber hinab in das ‹Loch›, wo der Bach unterm Blätterdickicht von Tag zu Tag mächtiger rauschte, oder hinüber auf die jenseitigen Weiden, auf das von langer Winterhaft rammlige Vieh, dessen tolle Sprünge bei abgerissenem, windverwehtem Gebimmel den Beschauer wider Willen ergötzten. Auch den Hüterbuben konnte er erkennen. Der sprang und hüpfte wie ein Kobold zwischen den Kühen umher, schlug Purzelbäume vor Übermut, jodelte trotz einem erwachsenen Senn oder liess seinen schnurrigen Lockruf erschallen: «Choom wädli, wädli, wädli – hoi, Bläss, hoi, hoi!» Von Zeit zu Zeit schrie er aus Leibeskräften durch das Schallrohr der Hände: «Matthias Bö–hi a–bi–cho», worauf sich dann jedesmal über des Jäters Haupt ein kleiner Mädchenkopf am Fenster zeigte und mit ebenso durchdringender Stimme herrisch hinunterbot: «Cha nöd cho!»
Der Gerufene selbst gab keine Antwort, er stiess nur eine üble Verwünschung über Frida, das Bäschen, aus, die seine Knechtschaft so schadenfroh in die Welt hinauskreischte. Beinah hätte er einen Kotklumpen aufgehoben, um die äffische Fratze zu zeichnen. Das wäre dann für ihn auch nicht gut abgelaufen. Er musste den Zorn verbeissen. Bald blickte er nur noch durch Tränen hinüber, wo sich die vielen weissen und braunen Flecke der Herde im Goldiggrünen bewegten, oder hinunter ins Tal, wo die Häuser bis zum Giebel in ein Blütenmeer versunken schienen. Was mochte das für ein lieblicher Frühling sein unten im Trauben- und Kirschenland, zumal weiter vorn am See, von dem hinter Hügelrücken gerade noch ein flussbreites, alle Sehnsucht aufreizendes Band zu sehen war. Wenn dann gar noch ein Segelschiff drüber glitt, so hielt es das Herz in der Brust nicht mehr aus.
Matthias hauste wie ein Gefangener in dieser Bergeinsamkeit. Aber seine Gedanken konnten sie nicht in Ketten legen. Darum führte er, trotz seiner Jugend, ein richtiges Doppelleben. Zehnmal am Tage schreckten ihn scheltende Stimmen von heimlichen Talfahrten auf oder seine Hüterin fuhr ihm ungestüm in die Haare, um den Zwiespalt zu schlichten, Leib und Seele wieder ordentlich zu versammeln.
Wozu musste er jetzt Gras jäten, das doch gleich wieder nachwuchs? Er sollte bloss nicht in der Stube sein, nicht sehen und hören, was sie drinnen trieben und tuschelten. Alle waren sie wieder gegen ihn. Daraus konnte er am besten merken, dass ein Besonderes im Schwange war. […]
Matthias’ Mutter, ledige Fabriklerin aus der Stadt (im Roman ‹Treustadt›, eigentlich St. Gallen), kommt zu Besuch auf den Gupf (ob Rehetobel)
Die Mutter
An die Kinderlehre dachte keiner von den Buben. Der Grosse hatte noch nicht einmal zum Schein Schuhe angezogen, dagegen nichts vergessen, was zu einem ergiebigen Streifzug durch den Wald gehörte. Die Schleuder war mit neuen Zugstücken versehen, das Soldatenmesser geschliffen, auch die Zündholzbüchse geplündert, denn Feuer brauchte man allerwegen, sei’s um ein Wespen- oder Ameisennest anzustecken, einen Stoss dürrer Äste prasseln zu lassen oder einen weggeworfenen Stummel aufzurauchen Frau Angehr sah ihn beim Aufbruch scharf an und sagte ihm gleich auf den Kopf zu, dass er bloss wieder Flausen im Sinn habe und die Kirche schwänzen wolle, sonst würde er nicht barfuss ausrücken. Sie liess nicht nach, bis er Schuhe anhatte.
«Soll mir der Pfarrer deinetwegen noch einmal den Marsch blasen? Ich seh’s dem da»– sie wies auf Matthias – «gleich an, ob du drin gewesen bist. Wenn nicht, so mach dir keine Hoffnung aufs Mittagessen!»
Aber so gebieterisch sie auftrat, an dem furchtlosen Burschen prallte die Drohung wirkungslos ab. Konrad brummte sie böse an, er werde schon gehen; vor ihrer misstrauisch forschenden, kümmerlichen Miene lächerte es ihn aber wider Willen, so dass sie ihn vollends durchschaute und jammernd die Hände rang. Ja, mit echt mütterlichem Entsetzen gewahrte sie, wie er ihrer Gewalt mehr und mehr entschlüpfte und eigentlich nur noch in unkindlichen Eigenschaften mit ihr zusammenhing. Nicht umsonst hatte sie den dreisten, bärenhaften Jungen, dem mehr als die Hälfte des Mutterherzens gehörte, schon seit Jahren über ihre Pläne unterrichtet und an all ihren offenen oder versteckten Feldzügen zur Hebung des Hausstandes teilnehmen lassen. Konrad wusste genau, was der Vater verdiente, wieviel die Wirtschaft eintrug, was die Base Gritta ins Haus brachte. Noch mehr als die Mutter war er begeistert von der ‹Farm in Argentinien›, und sein jetziges Dasein deuchte ihn nur eine Art unvermeidlichen Fegfeuers zu einem fernen Paradies. Dies zu erreichen, scheute er keine Strapazen, da durfte die Mutter von ihm verlangen, was sie nur mochte.
Hingegen war’s kein gesegnetes Beginnen, wenn Frau Angehr, um die in ihm so früh entfachten herben Lebensgeister wieder einzudämmen, auf Erfüllung der christlichen Gebote drang, während sie selbst ihrer Habgier keinerlei Fesseln anlegte. Der Bursche merkte, worauf es ihr ankam. Sittliche, religiöse Kräfte traute er ihr keine zu. Nur vor des Vaters gebeugter Rechtschaffenheit, seinen kurzen, lärmscheuen Ermahnungen machte er zuweilen noch halt. Schenkte dieser ihm ein paar Batzen, so hielt er sie wert und hob sie dankbar auf, während er die mütterlichen Gaben oft leichtsinnig verpuffte und sich auch kein Gewissen daraus machte, die Alte gelegentlich ‹anzuschmieren›.
Die Drohung: «Gut, so sag ich’s dem Vater!», war – sehr zu ihrem eigenen Schmerz – die beste Waffe gegen den Grossen geworden, den sie nicht mehr wie Matthias in die Finger nehmen konnte.
Aber heute schlug auch diese nicht an. Kaum hundert Schritte oberhalb dem Hause erklärte Konrad dem zaudernden Begleiter: «Pfeifendeckel, ich hocke nicht hinein! Komm du, wir wollen krebsen im Loch und schauen, dass wir eine fette Forelle päckeln!»
Matthias zog es auch nicht mit Gewalt zur Kirche, um so mehr aber zum Guggisauer Bahnhof, wo er die Mutter nach der Kinderlehre abholen durfte. Das galt ihm jetzt mehr als alle Forellen und Krebse im Rickentobel. Er blickte bestürzt hinunter und sagte kläglich: «Ja, ich weiss schon … dann kommen wir zu spät an den Zug!»
Es ruckte und zuckte schon wieder verdächtig in dem Milchgesicht. Aber vor dem Grossen loszuheulen war das Allerschmählichste, was ihm widerfahren konnte. Dann durfte er tagelang nicht mehr neben ihm nach und von der Schule gehen, und ganz bodenlos klang dessen Verachtung, wenn er sagte: «Hotz, was bist du für ein minderer Fötzel und Leckerlischlecker!»
Zudem konnte er Konrad nicht leicht etwas abschlagen. Auf allen gemeinsamen Wegen, besonders bei Verfolgungen, Schülerschlachten, war ihm der Grosse ein starker Beschützer; es kam sogar vor, dass dieser der eigenen Mutter wütend entgegentrat, wenn nach seinem Gefühl Matthias eine ungerechte Strafe erlitt.
Aber wie sollte er ihm heute zu Willen sein? Was musste die Mutter denken, wenn sie bei der Ankunft zum Wagenfenster hinauswinkte und ihr Matthiesle gar nicht da war? Am Ende dachte sie, er sei krank, und bekam vor Angst Herzklopfen. […]
[Jetzt] begann eine andere Jagd, die sonst auch dem Kleinen nicht schlecht gefiel. Das war unten am Bach, da zogen beide Jacke und Schuhe aus und wickelten die Hosen auf, so hoch es nur ging. Das Wasser floss quellfrisch und klar auf goldbraunem Grund durch die dunkelgrüne Tobelnacht, in der nur vereinzelte Strahlen aufzuckten. Wildlaunige Libellen, träg gaukelnde Kaffeefalter, zickzackfrohe Wasserläufer huschten drüber hin, und wo der Bach Wirbel trieb, schwänzelte hier und da, nur scharfen Augen sichtbar, eine junge, leichtsinnige Forelle. Die alten, schweren, gewitzigten standen am Tage regungslos, wohlgeborgen in den Höhlungen des Uferrandes. Aber Konrad kannte ihre Verstecke; bäuchlings rutschte er an den Böschungen hin, und seine schnell zupackende Hand stiess immer wieder gierig in den Schlamm, wonach dann wohl etwa ein gespenstischer Schatten blitzschnell hinüberfuhr, das Wasser sich trübte und der Fischer lästerlich fluchte. Matthias musste das Missgeschick büssen. In einer halben Stunde war er zehnmal ein dummer Siech, ein fauler Leimsieder oder sonst ein landläufiges Übel, weil er, der gebückt im Wasser stand, um genau aufzupassen, den lebenden Pfeil weder fassen noch verfolgen konnte. «Dümmer als Tulpe!» war’s, wie er sich heut wieder anstellte. Am meisten ärgerte den Grossen das zaghafte Wimmern und Mahnen: «Jetzt ist’s aber Zeit! Wir müssen gehen, wir kommen zu spät!» Der Teufel mochte so Fische fangen. Er hatte vollkommen recht. Matthias war nicht nur ein täppischer, mit Blindheit geschlagener Handlanger, er krümmte sich und schrie dazu noch wie ein kleines Mädchen, wenn er auf spitze Steine trat oder ausrutschte. Ihm lag nur noch im Sinn, so schnell als möglich bergan zu stürmen und zu verhüten, dass die Mutter den traurigen Gedanken fasste, er sei ihr aus Lieblosigkeit nicht entgegengekommen.
«Da sieh, was du für ein sauberes Pflänzchen hast, dem ist es zu viel, dich von der Bahn abzuholen; er stromert lieber im Wald herum!» würde die Basgotte vielleicht zum Willkommen noch spotten.
Wenn die Enttäuschte aber vor Gram gleich wieder umkehrte? Und plötzlich stand Matthias auf dem Trockenen, las Schuhe, Rock und Hut zusammen und fing an, die Beine zu werfen, dass der Grosse vor Staunen über diese Gehorsamsverweigerung gar nicht vom Fleck kam.
«Lauf nur, du Narr!», rief er hinter ihm her. «Ich geh’ jetzt heimzu. ’s ist sowieso zwölfe vorbei!»
Der Flüchtling liess sich nicht beirren. Er stürmte schier besinnungslos aufwärts wie jener rühmliche Läufer von Glarus, der seinem im Grenzstreit mit Nachbarn liegenden Volk eine Bergspitze gewinnen wollte und seinen letzten Atemzug dransetzte. Die Schuhe trug er in der Hand, obgleich ihn Dornen und Äste stachen, kaum gab er acht, dass er nicht auf eine Schnecke, Kröte oder Blindschleiche trat. Was hiess eine Bergspitze gegen die Liebe der Mutter, die hier auf dem Spiele stand? Darum wollte er gar nicht begreifen, wie blutwenig Atem und Ausdauer in seinem Leibe war. Immer musste er wieder rasten, mühsam Luft holen; auch die Beine taten, als wollten sie keinen Schritt mehr weiter. Schwach zum Umsinken erreichte Matthias den Staffelweg nach Guggisau, von wo er nach unten und oben Ausschau halten konnte. War’s wirklich schon so spät? An den Tischen drunten sassen Leute, aber erkennen konnte er niemand. Viel sah er überhaupt nicht mehr. Die Erschöpfung raubte ihm zugleich Licht und Bewusstsein. Aus der tiefen Schwäche wuchs langsam ein bleierner Schlaf. Er lag mit zerstochenen Füssen unter einem Busch, hielt noch die Schuhe krampfhaft fest, denn der Traum machte schlüpfrige Forellen daraus, und die Backen glühten im Grünen wie reife Erdbeeren.
Aber ein guter Geist hatte das Bürschchen dahin gebettet, und schöner konnte Jakobs Traum von der Himmelsleiter auch nicht gewesen sein als Matthias’ Erwachen in den Armen der Mutter, die wahrhaftig in Sorge vom Gupf niederstieg und den Vermissten wie ein verwunschenes Prinzlein oder wie man eine schöne Blume pflückt, schlafend vom Boden aufhob.
Zuerst sah er nur den grünen Sonnenschirm, auch nicht anders als eine Märchenblume, am Wege schillern, dann spürte er einen erinnerungsvollen Duft, und endlich enthüllte sich das Mittagswunder so klipp und klar, dass er die ledernen Forellen sorglos fahren liess und ganz im Glück des Wiederfindens aufging.
«Nein, sag aber auch! Das sind mir ja heitere Boten, die unterwegs mir nichts, dir nichts gemütlich einschlafen und sich den Kuckuck drum kümmern, was aus den Gästen wird. Wohl, da kann ’s Heimweh auch nicht gross gewesen sein!» schmähte die Mutter zum Schein, nicht ahnend, welch heisse Quelle sie damit zutage förderte. Das aufgestaute Weh des Kindes riss bei diesen Worten alle Dämme ein und setzte lange jede Freude unter Wasser. Matthias hielt die Geliebte fest umklammert, als könnte sie ihm wieder entrissen werden, und heulte dazu schrill wie ein Sägewerk in ihre Röcke hinein: «Ich hab’ doch mit dem Ko–Konrad ins Loch müssen, Fo–Forellen fangen. Er hat mich ja nicht fortgelassen!», woraus die Überraschte sich alles weitere leicht erklären konnte. Brigitte Böhi war nicht taub für den Schmerz, der sie wie ein reissendes Tier anfiel und wahrlich nicht aus einem Löchlein pfiff. Eine Fahne im Sturm – so flatterte ihr Herz im Leib, mit auferweckten Sinnen lauschte sie dieser wilden Musik der Not, der Sehnsucht, der Liebe …
Hoch oben am Felsen standen die beiden in Mittagsglut … eine junge, lebensfrohe Mutter – ein hilfloses, verstossenes Kind: sie hatten sich eben gefunden, von Geisterhand zusammengeführt, hielten sich eng umschlungen und wussten nichts mehr von Himmel und Erde, Sonnenbrand und Stundenflug. Eine Fahne im Sturm, so flatterte das Mutterherz von den Schmerzenstönen der kindlichen Brust, und schwere Wolken der Schuld zogen über ihr hin. Oh, diese Not war nicht von heute, was alles hier überfloss, musste in Monden und Jahren erwachsen sein! Eine namenlose Not, nicht zu erfragen, mit Worten zu bezeugen, aber wühlend, brennend, lichterloh, eine, die zum Himmel schrie: «Mach Ende, Herr, mach Ende!» Sie schlug an die Pforte der Seele wie der Ruf eines Verfolgten in sternloser Nacht, und die Tore sprangen auf, ahnungsvolle Arme breiteten sich, das glühende Leid zu umfangen.
«Sei nur wieder still, du lieber armer Schlucker!» beschwichtigte das junge Weib, selig in der Wandlung des Gemüts, das bereit war, dem Kinde ganz zu geben, was des Kindes ist, und im Angesicht des weithin offenen Himmels, über all den blühenden Landen, blauenden Wassern den Schwur tat, künftig eine bessere Mutter zu sein.
Leuchtenden Auges nahm sie seinen zuckenden Lockenkopf in die Hände, hob ihn hoch und fragte innig leise: «Möchtest du für immer zu mir kommen, sag?»
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 148–153.
Erstpublikation: Paul Ilg: Das Menschlein Matthias. Roman. Leipzig: Grethlein, 1913. S. 9–10, 41–54. Abdruck mit freundlicher Genehmigung durch Paul Ilgs Erben.