Literaturland


Roland Inauen

Charesalb ond Chlausebickli

2010

I d Stadt

Die Vorbereitungen zu diesem seltenen Grossereignis waren allerdings wenig nach unserem Geschmack: Gesicht und Hände sauber waschen, anständiges Hääss aalegge (1) und in jedem Fall auch Schuhe, denn in der Stadt – das war unsere fixe Vorstellung – war immer Sonntag. So gerne wir diesen hatten und die Stadtgoofe (2) um ihr Dauerglück beneideten, so ungern zwängten wir unsere Sommerfüsse in Schuhe. Das mit dem Waschen leuchtete uns einigermassen ein, wollten wir doch nicht auf den ersten Blick als Goofe vom Land erkannt werden. Spätestens bei der ersten Antwort, die wir einem Verkäufer oder einer Arztgehilfin zu geben hatten – von selbst hätten wir den Mund nicht geöffnet, waren wir aber enttarnt. Ein wissendes Lächeln huschte über deren Gesicht und machte uns verlegen und in der Folge unser Gesicht rot. Weshalb auch nur? Wir wussten es selbst nicht. Es lag an der Sprache. Ob wohl deshalb die Meedl (3) des Nachbars nach einem halben Lehrjahr in der Stadt frönt (4) redete?

Der Zockebolle (5) von der Arztgehilfin des Augenarztes vermochte mich halbwegs zu versöhnen. Sie war – glaube ich – die schönste Frau, die es gab: blonde, hochtoupierte Haare, ein Gesicht, gemalt wie ein Chlausebickli (6), dazu die weisse, kurze Arztgehilfinnenschürze. Und wie sie gerochen hat – auch die Schürze! Ich wagte kaum zu schnaufen. Das war Stadt. Nicht die kalten, hohen, steinernen Häuser. Auch nicht die Trottoirränder, über die wir regelmässig stolperten, schon gar nicht die Ungetüme von grünen Trollibussen, die uns zwar beeindruckten, aber auch irgendwie Angst machten.

Stadt war aber auch Liftfahren im Kleiderfrey – mit grossem Spiegel, braunroten Knöpfen und Zahlen und einem aufklappbaren Bänkli. Das Gefühl im Bauch beim Abfahren: fast wie Chölbi (7). In der Umkleidekabine etwas unwohl: Schaut auch wirklich niemand? Einkehren im Cafe Kränzlin, weil die Grossmutter dort einmal Mat (8) war. Plüsch und Polster, wohin man schaute und hockte. Unser altes Kanebee (9) daheim war wirklich alt!

Türen, die sich von selbst öffneten, waren auch Stadt. Und kamen wir wieder vorbei, öffneten sie sich sogar, auch wenn wir nicht hineingingen.

Um die Epa machten wir leider einen grossen Bogen: «Wir brauchen keinen Schmarre», war die Antwort auf unser Müede (10). Schade, denn: «i de Epa, i de Epa, do chaa me alles haa, fö föfesibezg Rappe en halbvestropfte Maa», sangen sie an jeder Losi (11) und wir auf dem Pausenplatz. Wir glaubten zwar nicht so recht daran, aber das Ladengestell mit diesen Männern hätten wir doch gerne gesehen.

Vielleicht gab es Trauben von einem Marktstand oder ein paar Marroni. Und fast jedes Mal traf man jemanden, der auch gerade in der Stadt war – und redete viel zu lange. Ein einziges Mal bogen wir blitzschnell in eine Seitenstrasse …

Auf dem Gaiserbahnhof roch es nach Charesalb (12), im Zug auch und nach kaltem Backrauch (13). Beim Riethüsli durfte man die Sprungschanze nicht verpassen, die man auch im Sommer sah. Die E-Tafel am Ende jeder Zahnradstrecke erinnerte mich an die E vom Augenarzt Müller – und an seine Arztgehilfin.

 

S Guetjohrhole (14)
Selbstverständlich ging man zu Fuss, manchmal zusammen mit Geschwistern. ln jungen Jahren war es – je nach Distanz zum Elternhaus – eine eigentliche Mutprobe. Zu selten kam man fort. Beim Anklopfen hämmerte das Herz. «Sei anständig», hiess es zu Hause, «säg schö tanke, und gegessen wird alles, was auf den Tisch kommt. Und vergiss auf gar keinen Fall, der Gotte e glöcksäligs neus Johr zu wünschen.» Im Treppenhaus dann die vertraute Geruchsmischung aus frisch geblochter (15) Bodenwichse und Lauberohr (16); je näher man jedoch der Küche kam, desto mehr dominierte die Fleischsuppe. Uns war gar nicht nach Suppe. ln der warmen, aber noch unbehaglichen Stube ging es ein wenig besser. Der Cousin war schon da. Zwar redete er nicht mit mir und ich nicht mit ihm, aber aus seinen knappen Antworten, die er dem Götti gab, merkte ich schnell, dass er noch schücher (17) war als ich. Zwischen dem Schweigen hörte man dürre Christbaumnadeln auf den glänzenden Inlaid (18) fallen. Das schlafende Christkind in seinem Chreppeli schien das nicht zu stören. Später traf das Gottenmädchen (19) aus Kau (20) ein. Auch sie war gewachsen. Manchmal mussten wir Rücken an Rücken zueinander stehen. Die Kommentare waren mir peinlich, weil ich immer der Längste und Dünnste war. «Der Vater ist halt auch ein Grosser! Und überhaupt tuet e e lengeri mee vättele (21).» «Nei, nei, om d Auge omm ischt e doch die baa Muette», meinte darauf Tante Marie. Wir nahmen es stillschweigend zur Kenntnis, alle Jahre wieder. Zu Hause schaute ich lange in den Spiegel. Das mit dem Vättele oder Müettele (22) verstand ich nicht. ln meinen Augen glich ich weder ihm noch ihr. Ein Goofegsicht (23) konnte doch nie einem Erwachsenengesicht gleichen. Das Ausfragen des Götti ging weiter. Tante Marie kochte. Aus der Küche hörte man das quietschende Geräusch des Passwits (24). Das war Musik! Hedepfelstock (25)! Unsere Antworten fielen eine Spur weniger karg aus. Von Gespräch jedoch keine Spur. «Gooscht geen i d Schuel?» (26) Nein zu sagen, wäre zwar wahr, aber unanständig gewesen. «I weli Klass gooscht?» Wer wollte es ihm verübeln, dass er es nicht mehr wusste, da wir ja am letzten Neujahr in der Tat in einer anderen Klasse gewesen waren. Die Zöpfe des Kauer Mädchens liessen mich nicht in Ruhe. Sie waren zu einem Rad um dessen Hinterkopf gewunden. Wie konnte man so altmodisch sein! Für diese kindliche Mischung aus Verachtung und Vebeemscht (27) schäme ich mich noch heute, zumal die damalige Kauer Frisur inzwischen von Topmodels und ukrainischen Politikerinnen getragen wird. Zu Tisch! Das Menü war bekannt – seit Jahren. An das Tischgebet kann ich mich nicht mehr erinnern. «Ja nicht mit vollem Mund reden.» «Die Hände auf den Tisch!» «De Tälle suube usebotze.» (28) ln welche Hand gehört schon wieder die Gabel? «Essid wacke Soppe, denn weerede chech.» (29) Wer wollte das nicht, aber unsere Gedanken waren bei dem, was nach der Suppe kam: Böchse-Buweeli ond Rüebli (30) und ein brauner Bratensaucensee mitten im Hedepfelstock.

 

(1) Hääss aalegge Kleider anziehen
(2) Stadtgoofe Stadtkinder
(3) Meedl Mädchen
(4) frönt fremd
(5) Zockebolle Bonbon
(6) Chlausebickli bunt bemalter Lebkuchen; beliebtes Patengeschenk in der Adventszeit
(7) Chölbi Kirchweih
(8) Mat Magd
(9) Kanebee Kanapee, Diwan
(10) müede quengeln
(11) Losi musikalische Unterhaltung, Tanz
(12) Charesalb Schmierfett
(13) Backrauch Tabakrauch
(14) Guetjohrhole Neujahrsbesuch von Patenkindern bei ihren Patinnen und Paten
(15) blochen bohnern, wienern, polieren
(16) Lauberohr Ablaufrohr eines Plumpsklos
(17) schüch scheu
(18) Inlaid Linoleum (Bodenbelag)
(19) Gottenmädchen Patenmädchen
(20) Kau damals abgelegene ländliche Gegend im Süden von Appenzell
(21) e tuet e lengeri mee vättele er gleicht immer mehr seinem Vater
(22) vättele oder müettele dem Vater oder der Mutter ähnlich sehen
(23) Goofegsicht Kindergesicht
(24) Passwit (Markenname nach dem französischen passe-vite) Passiergerät (Flotte Lotte)
(25) Hedepfelstock Kartoffelbrei
(26) Gooscht geen i d Schuel? Gehst du gerne zur Schule?
(27) Vebeemscht Erbarmen
(28) suube usebotze sauber leer essen
(29) chech stark
(30) Böchse-Buweeli ond Rüebli Erbsen und Karotten aus der Dose


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 154–156.

Erstpublikation: Roland Inauen: Charesalb ond Chlausebickli. Erinnerungen an eine Bubenzeit in Appenzell Innerrhoden. St. Gallen: VGS Verlagsgemeinschaft, 2010. (Edition Ostschweiz, H. 11.) S. 42–43, 7–8.