Literaturland


Praxedis Kaspar

Anderes weiss ich nicht als die Wahrheit

1998

Antonia Faietti-Fuchs, 1908 in Appenzell geboren, erzählt von der gemeinsamen Kindheit mit ihrem Bruder Johann Fuchs, dem Bölere-Bueb, der als Wildermann legendär wurde.

Aber jetzt möchte ich vom Anfang reden. Es stimmt, dass Johann im Alter von elf Jahren als Verdingbub von zuhause weg musste. Später hat er mir einmal einen Brief über diese Zeit geschrieben. Das war unerhört, nie hätte man geglaubt, dass er ein Verdingbub wäre. Leider ist dieser Brief verschwunden. Ja, ich bin halt aufgewachsen mit diesem Bub. Er war mein nächster Bruder, und ich habe immer auf ihn aufgepasst. Nach ihm ist alleweil wieder ein Kind dazugekommen, und so musste mein Bruder in der vierten Klasse zu fremden Leuten.

Meine Mutter hatte zu viele Kinder. Da war nicht alles normal mit unserer Mutter, das hab ich erst in späteren Jahren gemerkt. Zu viele Kinder hatte sie und zuviel Temperament. Ich bin jedenfalls mehr am Vater gehangen und am Johann. Ich hatte nicht viel Schönes in meiner Kindheit. Schon in der zweiten Klasse musste ich waschen und putzen und fegen. Ich erinnere mich gut, wie einmal eine Tante aus St. Gallen zu Besuch kam. Du verlangst zu viel von diesem Kind, hat sie zu meiner Mutter gesagt. Auf dem Steinboden vor dem Haus hab ich die Windeln reiben und waschen müssen. Gefroren und gefroren hab ich dabei. Blasengeschichten hab ich bekommen von der Nässe und Kälte. Das, was ich sage, ist die pure Wahrheit. Anderes weiss ich nicht als die Wahrheit.

Wie damals der dritte Bub zur Welt gekommen ist, hab ich zur Mutter gesagt, jetzt geh ich fort. Ich halte das nicht mehr aus. Es hat ja nur mehr Arbeit bedeutet für mich. Und heute ist es dieser dritte Bruder, der mich alle paar Wochen besucht.

Als ich dann zwanzig war, am Tag vor dem Heiligen Abend, hat in St. Gallen die Scheidung meiner Eltern stattgefunden. Wir haben damals schon in der Stadt gewohnt, weil mein Vater eine Stelle im Restaurant Schützengarten gefunden hat.

Ich hatte immer gute Zeugnisse, aber die höhere Schule konnte ich nicht besuchen, weil es hundert Franken gekostet hätte. Wir aber haben von hundert Franken im Monat gelebt, die ganze Familie. Mein Vater hat für die Bauern Holz gespaltet, noch im hohen Alter hat er ihnen die Kühe versorgt. Als wir klein waren, damals in Appenzell, war er Hilfsarbeiter beim Bauamt. Im Winter hat er Schnee geschaufelt, im Sommer hat er beim Heuen geholfen und Strassen ausgebessert. Wir waren sehr arm. Das Fürsorgeamt hat uns helfen müssen. Als die Eltern dann geschieden wurden, konnten nur die zwei Jüngsten zuhause bleiben, die andern Kinder sind ins Waisenhaus gekommen. Der Johann und ich waren damals schon weg von zuhause. Ich bin mit vierzehn Jahren nach St. Gallen gekommen, als Mädchen für alles in ein Restaurant. Die Wirtin hat dafür gesorgt, dass ich noch eine Weile zur Schule konnte, eine Haushaltungsschule. Johann war zehn oder elf, als er fort musste, nach Ausserrhoden zu einem Bauern. Für ihn war es schon damals aus mit der Schule.

Ich will mich nicht versündigen, aber über meine Mutter kann ich nichts Gutes sagen. Sie hat mich auch nicht gern gehabt, weil sie meinetwegen hat heiraten müssen. Aber ich habe mich nie mit jemandem ausgesprochen darüber. Keinem Menschen habe ich etwas gesagt. Sie aber hat nach der Scheidung schlecht über meinen Vater geredet, der ja trotz allem viel für uns Kinder getan hat. Das war nicht recht von ihr. Jetzt aber ist sie nicht mehr da, und meine Geschwister wären gewiss nicht einverstanden mit dem, was ich da sage. Aber die Leute dürfen ruhig wissen, was mit mir und meinem Bruder los war. Und wenn mein Mann noch lebte – er wäre bestimmt nicht zufrieden damit, dass ich jetzt so deutlich rede. Für meine Mutter aber hab ich bis zu ihrem Tod gesorgt. Ich habe damals in der Fremde schön Geld verdient und sie damit unterstützt, jeden Monat habe ich ihr Geld heimgeschickt. Und auch für meinen Bruder habe ich das Leben lang gesorgt, ich hatte ganze Beigen von Einzahlungsscheinen.

Ja, jetzt muss ich meinen Kropf doch einmal leeren.

In jener Zeit, als mein Bruder Johann von zuhause fort musste, hab ich gar nichts mehr über ihn erfahren. Lange Jahre habe ich nichts mehr von ihm gehört, habe nicht gewusst, wo er war. Mit einundzwanzig Jahren ist er in die Fremdenlegion gegangen, da musste er für drei Jahre unterschreiben. Zuvor ist er von einem Bauern zum andern gezogen im Unterland, im Toggenburg, im Rheintal. In die Rekrutenschule ist er nicht gegangen, dafür haben sie ihn eingesperrt. Wie lang, weiss ich nicht.

Auf die Frage, was für ein Kind Johann war, muss ich sagen, er war ein wunderschöner, lustiger Knabe mit blondem Kraushaar, riesigen blauen Augen und roten Backen. Als ich sechs Jahre alt war, gab es ein grosses Trachtenfest in Appenzell, da hat der Vater uns ein Wägeli mit Heu beladen, einen Rechen und eine Gabel dazugegeben. Mir haben sie eine Tracht angezogen und mich fein gemacht. Aber alle Leute sind stehengeblieben und haben meinen Bruder angestaunt und gesagt, jetzt seht mal, dieses herzige Büebli. Für mich hatte niemand Augen. Mein Bruder aber konnte die Leute anhimmeln mit seinem blauen Blick.

Oh, auch daran erinnere ich mich: Ich war sieben oder acht Jahre alt. Da hat meine Mutter auf einer Gant vom Konkursamt etwa hundert Herrenhüte gekauft. Damit ist sie vors Rathaus gezogen, hat einen Bretterstand aufgestellt und wollte die Hüte den Bauern andrehen. Drei, vier Stück hat sie wohl verkauft an jenem Tag, mehr nicht. Am nächsten Morgen hat sie zu mir gesagt, du hast doch schulfrei heute, Toni, geh und pack die Hüte in eine Chrätze. Lauf damit nach Gonten zu den Bauern, sag einen Gruss von der Mutter, und sie sollen dir einen Hut abkaufen.

Die Chrätze war grösser als ich. Den Johann hab ich mitgenommen, er war vielleicht vier damals. Hand in Hand sind wir also losgezogen, beide waren wir barfuss. Ich glaube, an die zwanzig Hüte hat sie uns eingepackt, lauter Herrenhüte. Schliesslich waren wir bei der Sägerei in Gontenbad angelangt. Das alles läuft jetzt vor meinen Augen ab wie ein Film: Wir sind ins Haus gegangen, haben Grüezi gesagt, einen Gruss von der Mutter, und da sind die Hüte. Ja Kind, wer bist du denn, haben sie gefragt. Ich bin die Medel vom Bölere-Johann, und da sind Hüte zum Kaufen, hab ich gesagt. Da hat der Bauer gelacht, er könne gewiss keinen Hut brauchen. Oben in der Kammer liege ein ganz neuer Plüschhut, auch den brauche er nicht. Und da ist er doch in die Kammer hochgestiegen, hat den Hut geholt und ihn oben auf die Chrätze gelegt. Wir könnten diesen Hut gleich mitverkaufen. Da hatten wir also noch einen mehr. Darauf sind wir ein Stücklein weitergelaufen. Nach einer Weile haben wir uns ans Wiesenbord gehockt zum Ausruhen. Du, sagt da der Johann nach ein paar Minuten, ich glaube, wir müssen gehen. Die Zeit läuft. Da hab ich angefangen zu heulen, denn wir hatten noch keinen einzigen Hut verkauft. In diesem Augenblick ist eine Hochzeit vorbeigekommen mit vier Pferden und einer Kutsche. Da haben wir geschrieen, wünsch Glück, wünsch Glück, und sie haben uns Zuckerbollen zugeworfen.

Wir sind weitermarschiert. Nach einer Weile hat mich der Johann gefragt, du, Toni, was bedeutet das, wenn man eine Hochzeit sieht. Das bedeutet, sag ich, dass sie heiraten.

Nach einer Weile sind wir wieder zu einem Hof gekommen, da sassen die Frauen draussen im Kreis und haben gestickt. Je, bist du eine herzige Medel, haben sie gesagt. Was hast du denn da in deiner grossen Chrätze? Herrenhüte haben wir, sag ich, die hat die Mutter ergantet, und wir müssen sie verkaufen. Zwei Franken hat sie bezahlt, und wir müssen drei haben dafür. Alle drei Frauen haben uns einen Hut abgekauft. Die eine hat ihn gleich aufgesetzt, hat gelacht und gesagt, den kann ich auch tragen, da merkt kein Mensch, dass es ein Herrenhut ist. Ich muss nur ein anderes Band aufnähen.

Und weiter sind wir gelaufen, bis wir in Gonten waren. Da sag ich, komm, Johann, jetzt gehen wir in den Bären, da sitzen immer soviele Männer beieinander. Ich frag einfach die Wirtin, ob ich die Hüte zeigen darf. Ja sowieso, sagt die Wirtin, zeig du die Hüte nur. Und geht ruhig auch in den Saal, dort haben wir eine Hochzeit. Kannst deine Hüte auch dort zeigen. Da sage ich zum Johann, komm, denen sagen wir ein Sprüchlein auf und drehen ihnen die Hüte an. Das war natürlich wieder die gleiche Hochzeit, die wir unterwegs getroffen hatten, und sie haben uns auch gleich wiedererkannt. Wie wir den Saal betreten haben, fingen sie an zu klatschen. Die haben gemeint, wir führen ein Theater auf zu ihren Ehren. Was hast du denn da in deiner Chrätze, haben sie gefragt. Herrenhüte hab ich zu verkaufen, sag ich, meine Mutter hat sie ergantet. Wir geben sie für drei Franken das Stück. Da haben alle die Hüte anprobiert. Männer und Frauen haben sich die Dinger aufgesetzt und hatten ihre Gaudi damit. Alle haben sie schliesslich einen Hut gekauft, auch die drei Schwestern Gmünder vom Sönderli, die immer gesungen haben auf Hochzeiten. Später einmal ist eines der Fräulein Gmünder zu uns ins Dorf gekommen und hat mich in der Schule besucht. Dabei hat sie zur Nonne, die unsere Lehrerin war, gesagt, sie solle auch gut sein zu mir. Ich habe dieses Fräulein Gmünder noch heute vor Augen.

Etwa zwei Stunden hat der Handel im Bären gedauert, dann waren alle Hüte weg. Ganz gewiss haben sie aus lauter Bedauern mit uns gekauft. Eine der Frauen wollte wissen, ob ich denn die Bewilligung bekommen hätte, die Hüte zu verkaufen. Aber natürlich hab ich die Bewilligung, sag ich, die Mutter hat es doch erlaubt. Zum Schluss hat Johann ein Verslein aufgesagt, wie am Schnürchen hat er deklamiert, bi gar en sunnige Maa, s Füürli cha mer nütz ahaa … Bevor wir gingen, ist der Bräutigam gekommen und hat mir geholfen, das Geld nachzuzählen. Es hat auf den Franken gestimmt. Da ist die Sängerin, das Fräulein Gmünder, dazugekommen und hat gesagt, jetzt müsst ihr aber noch für das Sprüchlein einkassieren. Sie hat uns einen Teller gebracht, und ich hab den Johann damit in die Runde geschickt. Ich hätte mich geschämt. Dabei sind noch einmal sieben Franken zusammengekommen. Das war vor fünfundsiebzig Jahren ein Riesenhaufen Geld. Nachher haben wir allen Adieu gesagt. Ich bin zur Braut hingegangen, habe mich bedankt und gesagt, ich wünsche ihr Glück und viele Kinder. Da haben alle gelacht. Und die Grossmütter haben geweint.

Da haben wir also unsere leere Chrätze gebuckelt und sind schnurstracks in die Bäckerei gegenüber gegangen. Dort haben wir für alle Geschwister Nussgipfel gekauft. Wir selber haben jedes zwei gegessen. Und dann noch einmal zwei. Zum Heimfahren haben wir den Zug genommen, und der Johann wollte unbedingt dort sitzen, wo die gepolsterten Bänke waren. Also haben wir uns auf die Polster gesetzt, das war damals die zweite Klasse. Ein Billett hatten wir nicht lösen können, weil der Schalter geschlossen war. Wir würden die Fahrkarte im Zug lösen, dachten wir. Da kommt der Kondukteur und schreit uns an. Raus da, ihr Gofen, was macht ihr mit eueren Nussgipfeln für eine Sauerei. Und wisst ihr, dass das siebzig Rappen kostet hier drin? Da hab ich ihm das Geld hingestreckt, und er hat mir die Fahrkarten gegeben. In Appenzell, sagte er noch, verlangt ihr Schaufel und Besen, und dann putzt ihr eure Sauerei zusammen, verstanden. Natürlich hatten wir ein bisschen Unordnung gemacht mit unseren frischen Nussgipfeln.

Es war eine Riesenfreude, wie wir schliesslich heimgekommen sind mit dem vielen Geld und den Nussgipfeln für alle. Aber den Erlös vom Sprüchlein haben wir der Mutter nicht herausgerückt. Das sei unser Geld, haben wir gesagt und haben es behalten. Du lieber Himmel, wie wir uns gewehrt haben für dieses Geld. Mutter hatte keine Chance gegen Johann und mich. Das blieb unser Geld, das haben wir aufbewahrt wie lauteres Gold.

So war mein Bruder der Kamerad meiner Kindheit. Was ihm gefehlt hat, ist die Liebe. Darum ist er geworden, wie er war. Später habe ich eine Zeit lang jeden Kontakt zu ihm verloren. Ich wusste nicht, wo er war; er ahnte nicht, dass ich inzwischen geheiratet hatte. Später hat er mich manchmal angerufen, oft kurz hintereinander, dann wieder lange nicht. Von sich hat er nie viel erzählt, manchmal nur hat er gesagt, ich hab keine Schuhe, ich hab keine Kleider mehr. Da habe ich ihm Sachen von meinem Mann geschickt, dorthin, wo er regelmässig vorbeikam. Er hatte ja nie eine eigene Adresse.

Meist hat Johann bei den Bauern gearbeitet, und oft genug haben sie ihn ausgenutzt. Er hat geheuet und geholzt und das Vieh besorgt und hat bloss mitessen dürfen zum Lohn. Geschlafen hat er kaum je im Bauernhaus, immer draussen im Stadel auf Stroh. Oft haben sie ihn mit dem Lohn vertröstet und später doch nicht bezahlt.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 178–182.

Erstpublikation: Praxedis Kaspar: Wildermann. Geschichten vom Hörensagen über Johann Fuchs, den Bölere-Bueb. St. Gallen: VGS Verlagsgemeinschaft, 1998. S. 10–14.