Literaturland


Dora Koster

Nichts geht mehr

1980

Pflegefamilie, Kinderheim, Klosterschule … und irgendwann der Strich. Dora Koster erzählt in ihrem autobiografischen Bericht, wie sie in die Prostitution geriet und warum sie immer wieder ins Milieu zurückkehrte.

Die Geburt meines Kindes
Wann kommt Ihre Strassenmischung endlich? Die Hebamme im Kantonsspital blätterte in einer Illustrierten. Mein Bauch war hart, alles in mir verkrampfte sich. Die lieblosen Worte verstärkten meine Wehen, doch gebären konnte ich nicht. Volle sechs Wochen hatte ich schon übertragen, aber die Ärzte waren nicht bereit, die Geburt einzuleiten.

Sie bekommen ein uneheliches Kind, da müssen wir vorsichtig sein, entschuldigten sich die Herren.

Es war der 28. Juli 1965, morgens um acht Uhr. Der Blasensprung war schon längst vorbei, als die Schwester mich eine Sau nannte. Wie sollte ich nur mein Kind zur Welt bringen, wenn ich Hemmungen hatte. Die Nacht durch hatte mich die Hebamme so geplagt, ich spürte ihre ganze Abneigung, weil ich ein lediges Kind zur Welt bringen wollte. Keine Handreichung, nichts ausser spitzen Bemerkungen hatte ich noch während der Presswehen zu hören. Mein Kind kam nicht. Kurz nach acht Uhr betraten ein Arzt und eine andere Hebamme das Zimmer. Man wunderte sich, dass ich nicht gebären konnte.

Geben Sie sich Mühe, mahnte der Arzt, sonst stirbt Ihr Kind, entspannen Sie sich.

Wie soll ich nur, ich kann nicht mehr, nach all den Schikanen der Nacht hatte sich mein ganzer Körper verkrampft. Die Ablösung trat an mein Bett, lächelte mich an und sagte: Vergessen Sie Ihren Kummer, denken Sie an Ihr Kind, liebe Frau, wir schaffen es schon.

Johanna hiess die freundliche Hebamme, sie gab mir die Hand, wir schauten uns in die Augen und siehe da, meine Tochter kam zur Welt, ohne dass ich noch Schmerzen verspürte. Meine erste Frage war: Hat sie alle Beine? Wie bei allen Müttern war meine erste Sorge: Ist es auch ganz gesund? Nach dem ersten grossen Glück kam schon die Angst. Man wird mir das Kind wegnehmen. Es fehlt der Vater. Obwohl es mir sehr peinlich war, dass mich kein Mann besuchte, der sich als Vater der Kleinen vorstellte, scheute ich mich nicht, an meine Bekannten Karten zu senden: Ich freue mich über die Geburt meines Kindes.

Nach sieben Tagen fuhr ich nach Basel in ein Heim, das von Katharinenschwestern geleitet wurde. Mein Ziel war, dort zu arbeiten, um mein Kind bei mir behalten zu können. Auf die Strasse wollte ich nie mehr zurück. Das Glück, endlich jemanden zu haben, der mir allein gehörte, dauerte nicht lange. Der Weg zurück in ein ordentliches Leben hatte sich nicht gelohnt.

Abfuhr
Der Verenahof war ein Heim für Babies und Mütter. Ich konnte schon am ersten Tag bei den neugeborenen Kindern mithelfen. Ich hatte dadurch auch Gelegenheit, ständig in der Nähe meiner Tochter zu sein. Man hatte für mich einen Lohn von hundertfünfzig Franken angesetzt. Später sollte ich zweihundert Franken erhalten. Mir war das recht so, obwohl ich auf der Strasse dazumal das Fünffache in einem Tage verdienen konnte. Mit meinem Kinde unter einem Dache zu leben, schien mir wichtiger. Zürich, das Niederdorf hatte ich gerne vergessen. So dauerte mein Glück zwei Monate lang.

An einem Morgen betrat die Oberschwester mein Zimmer mit der Bemerkung: Machen Sie die gestohlenen Sachen heraus!

Mich traf fast der Schlag. Wie bitte? sagte ich. Was wollen Sie von mir?

Die gestohlenen Sachen! wiederholte die Schwester. Mir blieb die Sprache weg. Wir wissen, dass Sie ein paar Monate in Zürich auf dem Strich waren, also können nur Sie die Ware gestohlen haben, die im Hause fehlt.

Ich schämte mich, schrie verzweifelt immer wieder: Ich habe nicht!

Doch die Schwester beharrte darauf: Heraus mit dem Zeug! Bei mir brannte die Sicherung durch. Ich startete einen Amoklauf zum Lohnhof.

Wenn Sie zur Polizei gehen, dürfen Sie das Haus nicht mehr betreten, sagte die Leiterin.

Ist mir egal! rief ich zurück. Ich will die ganze Angelegenheit abklären.

Auf dem Polizeiposten war ich recht aufgelöst. Die Beamten versprachen mir, der Sache nachzugehen. Als ich wieder in den Verenahof zurückkam, stand die Leiterin vor der Türe: Sie brauchen nicht mehr zu uns zu kommen.

Mein Kind ist in diesem Hause! gab ich zur Antwort.

Nehmen Sie ein Glas Wasser, beschwichtigte mich die Schwester und hielt mir eine Pille hin. Als ich die Augen öffnete, befand ich mich in einem Auto. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass wir uns hinter dem Hauptbahnhof in Zürich befanden.

Was haben Sie mit mir gemacht? sagte ich zur Schwester. Ich hatte Mühe, meine Zunge zu bewegen, mein Gaumen war trocken, ich lallte wie eine Halbgelähmte. Ach so, dachte ich, die haben mir eine starke Droge gegeben und mich dann ins Auto verfrachtet.

Wo fahren wir hin? fragte ich die Schwester.

Zum Stadtarzt.

So eine Schweinerei, dachte ich, aber ich war so müde, ja, ich konnte nur mit grosser Mühe die Augen offen halten. Beim Stadtarzt gab ich mir alle Mühe, die Situation zu erklären. Er merkte, dass etwas faul war. Was wollen Sie jetzt tun, nachdem man Sie abgeschoben hat? fragte er mich.

In dieser Situation bleibt mir auch nicht viel anderes übrig als ins Niederdorf zurück, erklärte ich. Mein Kind hatten die Schwestern in Basel zurückbehalten. Ich stand da ohne Geld, hatte kein Zimmer und niemanden, der mich erwartete. Dass ich verbittert war, muss ich wohl nicht betonen. So landete ich wieder in einer Stammkneipe im Niederdorf. Die Dirnen nahmen mich freundlich auf. Man half mir, ein Zimmer zu finden, und ein Mädchen sorgte fürs erste, dass ich mit ihr zusammen anschaffen konnte.

Erst viele Wochen später habe ich erfahren, wer im Verenahof geklaut hatte. Die Schwestern fanden es aber nicht nötig, sich bei mir zu entschuldigen, obwohl sie mich wieder ins Milieu brachten. In der darauffolgenden Zeit versuchte ich etwas Geld zu beschaffen, dann inserierte ich in Zeitungen. Es war mein Wunsch, mein Kind bei mir zu haben, ich suchte eine passende Stelle. Als Dirne wollte ich auf keinen Fall weitermachen, obwohl ich mich langsam aber sicher bei den Frauen am wohlsten fühlte. Eines Tages hatte ich die Zusage von einem Arzt. Wir holten mein Kind in Basel, und ich arbeitete bei diesem Arzt für zweihundert Franken im Monat. Das Geld reichte knapp für die Wäsche und das Nötigste. Gefallen hat es mir überhaupt nicht, doch das Zusammensein mit meiner Tochter liess mich den Rest vergessen. Eines Tages zog die Familie Doktor in die Ferien, ohne mir auch nur einen Franken dazulassen. Ich hatte keinen Zugang zu den Lebensmitteln. Geld hatte ich keines. So kam es dann, dass ich fieberte und einen Arzt brauchte. Der wies mich in das Spital ein mit der Bemerkung: Sie haben eine Anämie. Ich war unterernährt, wie auch meine Tochter, und das in der Hochkonjunktur.

Nach diesem Erlebnis hatte ich genug. Mein nächster Schritt war zu den Behörden. So kann ich nicht weitervegetieren. Ich fand einen Platz für meine Tochter in einem Säuglingsheim. Ich selbst landete wieder auf der Strasse.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 209–211.

Erstpublikation: Dora Koster: Nichts geht mehr. Stationen einer Frau aus dem Milieu. Zürich: Unionsverlag, 1980. S. 63–66.