Literaturland


Lorenz Langenegger

Bei 30 Grad im Schatten

2014

Walter hatte Streit mit seiner Frau Edith. Er verlässt die Wohnung in Bern und fährt zunächst nach Zürich, um sich Raum zum Nachdenken zu verschaffen. Würde vielleicht eine räumliche Trennung zur Lösung ihrer Probleme beitragen?

Für all das ist es jetzt zu spät, denkt Walter. Oder vielleicht genau der richtige Zeitpunkt, korrigiert er sich, ja, höchste Zeit. Er nimmt sein Telefon aus dem Rucksack. Drei Anrufe in Abwesenheit, dreimal hat man aus dem Büro versucht, ihn zu erreichen. Er drückt die Anrufe weg und ist froh, dass ihm keine Sprachnachrichten hinterlassen werden können. Er schreibt Edith eine Kurzmitteilung. «Ich miete mir in Neuchâtel oder Yverdon eine kleine Wohnung. Was meinst du?» Die Frage löscht er wieder, er möchte, dass sie seiner Mitteilung ansieht, dass er entschlossen ist, etwas zu verändern. Er drückt auf Senden, der kleine Brief flattert davon. Seine Idee macht ihn so froh, dass er für den Moment die Hitze und das Gewicht des Rucksacks vergisst. Er überquert den Helvetiaplatz und glaubt, dass er einen grossen Schritt zur Überwindung des Streits, zur Lösung ihrer Probleme gemacht hat. Während er ungeduldig auf eine Antwort wartet, stellt er erste praktische Überlegungen an. Dass er sich künftig nicht mehr an den Kosten für ihre Wohnung beteiligt, stellt kein Hindernis dar. Bevor Edith ihn kennenlernte, hatte sie die Miete auch alleine bezahlt, und damals verdiente sie noch deutlich weniger. Endlich kann sie sich wieder ausbreiten, er verschafft ihr Raum und Luft zum Atmen. Hat sie nicht schon vor einem Jahr laut darüber nachgedacht, dass sie sich bei der Verwaltung erkundigen könnte, ob nicht eine grössere Wohnung frei würde? Sie hängt an dem Haus und an der Nachbarschaft, aber ein Zimmer mehr, das wäre nicht nur angenehm, sondern auch angemessen, so ihre Überzeugung. In ihrem letzten Lehrjahr hat sie die Wohnung bezogen, inzwischen ist sie in leitender Funktion tätig. Das Mehr an Einkommen führte unweigerlich zu einem Mehr an Einrichtung, ein grösseres Sofa, zu jedem Getränk das passende Glas, ein Teeservice aus Porzellan, dazu die Möbel, in denen all diese Dinge verstaut wurden. Was sie einander und sich selbst in den letzten Jahren geschenkt haben, hat ihnen immer mehr Raum genommen. Nicht ein zusätzliches Zimmer ist die Lösung, denkt Walter, sondern eine zweite Wohnung. Er ärgert sich, dass er das Offensichtliche nicht früher erkannt hat. Es hätte nicht zu diesem hässlichen Streit kommen müssen. In den letzten Jahren ist es mit jeder vollen Einkaufstasche, mit jedem Paket, das der Postbote an die Tür brachte, enger geworden. Was sie in Müllsäcken und im Kompostkübel aus der Wohnung hinaustrugen oder in der Toilette wegspülten, wog bei Weitem nicht auf, was sie alles anschafften. Tag für Tag wurde der Raum in der Wohnung knapper, bis sie sich gegenseitig auf den Füssen herumstanden.

Walters Telefon vibriert. Edith hat verstanden, dass seine Nachricht nach einer unmittelbaren Antwort verlangt. Auf seinen halb entschuldigenden, halb vorwurfsvollen Versuch vom Vortag hat sie zu Recht nicht geantwortet. Im entscheidenden Moment aber kommt ihre Reaktion innerhalb von Minuten. «Viel Glück.» Walter starrt die zwei Worte ungläubig an. Er drückt die Nachricht -hinauf und hinunter, aber mehr hat Edith nicht geschrieben. «Viel Glück.» Das ist alles. Das ist eine Frechheit, empört sich Walter. Was erlaubt sie sich? Der Tag nach einem Streit ist nicht der richtige Zeitpunkt für Ironie, also muss er davon ausgehen, dass sie es genau so meint. «Viel Glück.» Aus den zwei Worten schlägt ihm jenes müde Lächeln entgegen, das er so schlecht erträgt. Er sieht Edith vor sich, wie sie ihre linke Augenbraue hebt und leise verächtlich durch die Nase schnaubt. Es trifft ihn mitten ins Gesicht. Wäre er nicht stehengeblieben, um die Nachricht zu lesen, er wäre zurückgeprallt wie von einer unsichtbaren Wand. Warum nimmt sie ihn nicht ernst? Er ist kein unreifer Bengel, der seinen Kopf durchstiert, er versucht, ihre Ehe zu retten. Aus Ediths Nachricht schlägt ihm die ungebrochene Überzeugung entgegen, dass es nichts zu retten gibt. Sie wünscht ihm viel Glück, weil sie glaubt, dass er nicht versteht, worum es eigentlich geht. Sie, ihre Beziehung, das Leben, die Welt, nichts hat er verstanden, das ist es, was sie mit diesen zwei Worten ausdrückt. Walter möchte sein Telefon am liebsten auf den Asphalt schmettern. Er tut es nicht, wie er noch nie mutwillig etwas zerstört hat, wenn ihm danach war. Auch das, und dieser Gedanke bringt ihn zum Lachen, unterscheidet ihn von einem Halbwüchsigen, der nicht weiss, wohin mit seiner überschüssigen Kraft. Es ist ein aufgebrachtes und trauriges Lachen, das aus ihm hervorbricht, und er ist froh, dass niemand in der Nähe ist, der ihn beobachtet. Der Strassenlärm schluckt seinen zischenden Fluch. Er steckt das Telefon in die Hosentasche und ballt die Faust. War es vermessen oder naiv zu erwarten, dass Edith seine Nachricht versteht, bloss weil sie seit zehn Jahren verheiratet sind? Am Morgen ist er noch der Ansicht gewesen, dass eine Kurzmitteilung in ihrer Beschränkung ein geeignetes Mittel ist, in schwierigen Situationen die Kommunikation wieder aufzunehmen. Er revidiert seine Meinung. Zehn Wörter von ihm und zwei von Edith haben gereicht, um sie in eine Sackgasse zu manövrieren. Wenn er anständig bleiben will, gibt es nichts, was er ihr antworten kann. Edith ist egal, was er macht, solange er sie in Ruhe lässt.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 217–218.

Erstpublikation: Lorenz Langenegger: Bei 30 Grad im Schatten. Roman. Salzburg/Wien: Jung und Jung, 2014. S. 27–29.