Literaturland


Dino Larese

Das lebendige Heu. Eine Sage

1948

Einmal kam ein fahrender Schüler gerade zur Zeit der Heuernte ins Appenzellerländchen und schaute neugierig und vergnügt dem emsigen Treiben der Mägde, Knechte und Bauern zu und liess sich auch zu lustigen Scherzen den Mädchen gegenüber hinreissen, die freilich dem fremden Vogel eher misstrauisch und zurückhaltend gegenübertraten. Der Bauer, schon einige Male böse und ungehalten herüberschauend, besonders da sich hinter dem Alpstein ein Wetter zusammenbraute, rief mit einemmale unmutig herüber: «He, Herr Schüler, es wäre gescheiter, statt meine Leute von der Arbeit wegzuhalten, ihr würdet mithelfen, bevor das Unwetter hereinbricht.»

«Was gebt ihr mir, wenn ich die ganze Heuernte allein in die Scheune bringe?», fragte der Schüler und blickte lauernd herüber.

Der Bauer, an einen losen Scherz glaubend, rief: «Ha, das wäre mir ein Brabantertaler wert.»

«Topp, es gilt!» schmunzelte der Schüler.

Und nun blickten alle mit neugierigen Augen herüber und sahen, wie der Schüler seine Arme bewegte und einige unverständliche, beschwörende Worte murmelte. Da lief manchem ein kalter Graus den Rücken hinunter, als sich plötzlich die Heumahden wie von innen her leise rührten und zitterten, wie wenn ein Wind darüberstriche, und dann langsam sich krümmten wie Raupen, die sich fortbewegen, und nun schneller und schneller zu kriechen begannen und der Scheune zustrebten wie lebende, unheimliche Wesen. Und keiner wagte sich zu rühren. Er spürte nur mit kaltem Entsetzen das zwischen den Beinen hindurcheilende Heu; Mahde um Mahde wie folgsame Hündchen. Sie krochen die Tennleiter hinauf und legten sich behutsam auf den Heuboden nieder, eine neben die andere, bis ein kunstgerechter Heustock gebaut war, duftend von Würze, wie nur Bergheu duften kann. Draussen auf dem Felde war kein Hälmchen zurückgeblieben.

Niemand wagte zu reden oder sich zu bewegen, bis der Bauer dem Schüler den Taler gegeben und der zufrieden das Tal hinausgewandert war.

Mit grimmigen Blicken schaute ihm der Bauer nach, dachte er doch, dass ihm der Schüler das Heu verhext und dadurch wertlos gemacht habe. Er wagte es nicht, davon seinen Tieren vorzusetzen, weil er Unheil befürchtete; bis einmal eine alte Kuh krank und elend wurde und nichts mehr vertrug und auf den Tod wartete.

«Da ist nicht viel zu verlieren», sagte sich der Bauer und setzte der Kuh das verwunschene Heu vor, die es wunderlicherweise mit Behagen und heiterm Genusse frass. Ja, es war mit den Augen zu sehen, wie sie sich innert kürzester Zeit prächtig erholte, und ihr Fell einen neuen Glanz erhielt.

Da getraute sich der Bauer, auch den andern Kühen von diesem Heu zu geben, und dabei machte er die freudige Erfahrung, dass die Kühe nicht nur prächtig gediehen, sondern reichlichere und fettere Milch gaben.

Ach, wie wartete da unser Bauer bei jeder Heuernte sehnlichst auf einen fahrenden Schüler, der ihm wieder das Heu lebendig werden liess. Aber er blickte umsonst angestrengt das Tal hinaus, keiner kam seit jener Zeit mehr, so dass auch diese Geschichte, weil sie sich nicht wiederholte, zur schönen Sage geworden ist.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 379–380.

Erstpublikation: Dino Larese. Appenzeller Sagen. Neu erzählt. Basel: Friedrich Reinhardt, 1948. (Stab-Bücher). S. 32–34.