Literaturland


Ivo Ledergerber

Hierzulande hat jedermann nur den Säntis im Auge

2000

Fausts Hund oder der verkleidete Bläss

Fausts Pudel bin ich
habe euch bereits
mit Zauberkreisen
gefesselt
an meinen Berg

nehme euch euren
kastrierten Kultursäntis

ich bin Fausts Hund
ich
zieh euch
das Fell über die Ohren
leg eure Lügen bloss
Schönheit
Sittlichkeit
Untertanen früher
Aktien-Raffer heute

mich
hat der grosse Notker
verprügelt
ich
prügle
euch
ihr unbelehrbaren
Klosterbräusäufer
Klosterkäsefresser

war ein anderer Käse
ein heidnischer
den die Sennen der Schwägalp
dem Probst ins Kloster sandten
sündigen Frass
gegen Mönchshunger
nicht gegen Mönchsgeilheit
wenn man
Abt Ulrichs
Wiler Töchter bedenkt

ich bin Fausts Hund

habe euch gebannt
treibe euch
von meinem Hundstein
über die Freiheit
in die Höll
und
bis in den hintersten
Schlund der Furgglenhöhle

 

Bescheidene Anfrage

Bescheidene Anfrage an Notker III, den gütigen Lehrer
und genialen Übersetzer

Wo ist dein Säntisgedicht?

Notker
geh nach Rotmonten
genier dich nicht
sieh dir den Säntis an
den
Säntis
unsern
heiligen Berg

wo
Notker
hast du
dein Säntisgedicht
versteckt

Ih sah ûf
an diê berga

steckt es hier

mach mir nicht weis Notker
du habest ihn nie bedichtet

Ih sah ûf an diê berga
dannan chumet mir helfa

was soll
schon
von
dort
kommen

Dörigs Seppedoni Fuchsens Jok
Inauens Bisch Metzlers Ruth

sind das des Himmels Boten
die predigend
uns…gezêigot
uuanan diû helfa
chomen sol

demokratischen Nachhilfeunterricht
freilich
haben sie
nach deiner Zeit
den Äbten
gegeben
sie das Fürchten gelehrt

Notker
wunderschön
übersetzender
wunderlicher
Stubenhocker
Mönch
Wunderkind der deutschen Sprachgeschichte

im
Berliner Sand
im besten Fall
Wildschweine
im
Steinachloch
St. Gallen
schreibst
du
das schönste Deutsch
prächtiger
Worterfinder
Notker

Wo
ist dein
Säntisgedicht
geblieben

Notker
lieber
Von Töblern

Ach hätten wir die Töbler nicht
die schrundigen und tiefen
– wäre alles flach alles flach
der Säntis nur ein altes Monument

man ginge leicht von hier nach dort
ein jeder besuchte jeden
denn alles wäre flach alles flach
da gäb es keinen Unterschied

wir hätten allen Überblick
und wüssten leicht woran wir sind
es wäre alles flach alles flach
da gäb es nichts Verstecktes

wir wären eine flache Republik
und alle gleicher Meinung
und alles wäre flach ganz flach
der Säntis nur der würde weinen …

Drum lassen wir die Töbler wo sie sind
und nehmen froh zur Kenntnis
sie machen jeden Fleck zu einem Berg
und jeden Kopf zu einem Säntis

Die Töbler sind es die die Dörfer
auf Hügeln thronen lassen
und jeden Kopf und jeden Kopf
zu einem kleinen Säntis machen

 

Von den Dohlen

Von den Dohlen sagt man
sie hätten gesehn
wie es war bevor wir kamen
und sie sähen
was wir nicht kennten
sie wüssten wohin
Wege führen
die wir noch lange nicht kennten
an Orte die wir nicht nennten

Ihre Flügel sagt man
trügen sie in Höhen
wo unsereinem nur schwindelt
ihr Mut aber
der sei grenzenlos gross
sie lassen von Stürmen
sich treiben
wie Nebelfetzen ein verirrtes Blatt
lassen sich wirbeln werden nicht matt

Von den Dohlen sagt man
sie seien so frei
wie wir es uns träumen
und selten gestehn
während sie getragen
vom wilden Wind
die Freiheit
erleben die wir nicht mehr wagen
obwohl der Geist auch uns würde tragen


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 300–304.

Erstpublikation:
Fausts Hund oder der verkleidete Bläss und Bescheidene Anfrage: Ivo Ledergerber und Fred Kurer: Hierzulande hat jedermann nur den Säntis im Auge. Herisau: Appenzeller Verlag, 2000. Unpag.
Von Töblern und Von den Dohlen: Ivo Ledergerber: Gesammelte Texte 6. St. Gallen, 2006. Unpag.