Literaturland


Peter Liechti

Lauftext – ab 1985

2010

Das Marschtagebuch zum Filmessay Hans im Glück (2003) dokumentiert den Versuch, das Rauchen aufzugeben. Liechtis Texte sind parallel zu seinen Filmarbeiten entstanden. Sie vereinen Tagebuch- und Arbeitsnotizen, essayistische Passagen und innere Monologe. Was sie miteinander verbindet, ist die Radikalität, mit der sich der Autor immer wieder selbst ins Zentrum der Untersuchungen stellt.

Berggasthaus Säntis. Heute bin ich an meine Grenzen gekommen, beim Aufstieg auf diesen Säntis hinauf bin ich an meine äussersten körperlichen und seelischen Grenzen gestossen. Ich bin nicht einmal froh, endlich oben angekommen zu sein, sondern nur noch wütend, wütend auf diesen Berg, auf mich selbst, auf alle, die je behauptet haben, dass es toll sei, auf einen Berg zu steigen. Und wenn sich dann der Wirt an meinen Tisch setzt und fragt: «Wie geht’s uns denn so? …»‚ so geht uns das schon viel zu weit. Ich bin hier für niemanden vorhanden, will nur noch in meine Kajüte, unter die dicke Wolldecke verschwinden und an die Decke starren. Von unten dringen Alphornklänge zu mir herauf, sie können’s nicht lassen. Meine Stimmung nähert sich dem Gefrierpunkt, genauso wie das Wetter draussen.

Der Aufstieg war die Hölle, vor allem mit diesem Höllen-Rucksack. Unterwegs eine einzige Begegnung, ein Senn, der mir nicht unfreundlich zu verstehen gibt, dass er eigentlich keine Besucher braucht. Eine halbe Stunde später bin ich mitten im blanken Gestein in ein Berggewitter gekommen. Erst hat es gehagelt, dann hat es geblitzt. Nirgendwo blitzt es fürchterlicher als im Säntisgebiet. Das Stativ auf dem Rücken – als wandelnder Blitzableiter gewissermassen – erschien mir die Vergänglichkeit des Lebens so greifbar, dass ich gerannt bin vor Angst.

Warum denken immer alle, dass es ihnen besser geht, wenn sie den Säntis sehen?
Warum wollen immer alle so hoch hinauf? Am liebsten, meint Sepp, würden sie alle ganz oben auf der Antenne hocken. Jeder wolle halt einmal ganz oben sein … Merkwürdigerweise hatte ich selbst erwartet, dass der Säntisgipfel zugleich der Höhepunkt meines langen Matsches sein würde. Doch seit gestern umgibt mich hier nur dünne Luft. Eine der brutalsten Redensarten heisst: Die Zeit totschlagen. Genau das tue ich hier oben; ich schlage sie tot, die Zeit, damit sie aufhört, mich dauernd an meine Gegenwart zu erinnern.

Nirgendwo finde ich Halt in dieser Raumstation. Mit sturer Hartnäckigkeit verfolgt mich die Frage nach dem Sinn meines Unterfangens. Seit Stunden lauf ich nur irgendwelche Treppen hoch und runter, ohne das geringste Interesse für irgendwas und voller Scham über meine überflüssige Gegenwart. Das sieht man mir von weitem an, ich beginne aufzufallen. «Was filmen Sie denn da?» – reine Bosheit, die ganze Fragerei. «Sind Sie vom Fernsehen?», fragt mich ein pummeliger Knirps. Unverschämt! – das würde er niemals wagen unten im Dorf! Vielleicht haben sie’s tatsächlich lustig hier, im Gegensatz zu mir. Ich bin so richtig schlecht drauf, doch heute gefällt es mir, schlecht drauf zu sein. Meine Sucht ist mein Krieg, und den führ ich gegen alle hier!

Ich ertrage es absolut nicht länger, die Art, wie der Berg die Leute befreit – von ihren Hemmungen, von ihrem Taktgefühl und ihrem guten Geschmack. Wenn mich etwas in Panik versetzt, so ist es diese entsetzliche Berg-Fröhlichkeit. Wie gelähmt sitz ich in den engen Reihen entfesselter Bergfreunde am Tisch und warte auf den richtigen Moment zur Flucht. Wie ich mich dann «heimlich» verdrücke, blickt mir doch jeder nach; sofort fällt alles auf, was sich dieser Schunkelei entzieht.

Kaum geschlafen heute Nacht. Eis und Regen fetzen um das Fenster, Blitz und Donner, real und geträumt. Zahllose Traumfragmente, immer dieselbe Konstellation, halb Afrika, halb hier. Rollschuh-Laufen mit meiner Liebsten inmitten schwarzer Rollschuh-Mädchen. Oder sollte ich sagen: Inline-Skaterinnen und Ex-Geliebte? Wie lange liegt die Welt zurück, in der ich lebe?

Natürlich hat es auf der Schwägalp geregnet. Und irgendwann hat es dann aufgehört, und irgendwann wieder angefangen, aufgehört und wieder angefangen … gleichsam im Gegentakt zum Aus- und Wiedereinpacken meines Kamera-Equipments. Den ganzen Tag bin ich nicht mehr herausgekommen aus diesem fatalen Rhythmus, und trotzdem geht es mir gut, zum ersten Mal richtig gut auf diesem Marsch. Und mit jedem Meter, den ich mich vom Säntis entferne, geht es mir noch besser. Ich bin – so scheint es – endlich über den Berg. Und ich stelle fest, dass ich wach bin, zum ersten Mal richtig wach, und dass diese grosse alte Schwägalp von zauberhafter Schönheit ist. Ab und zu bricht die Sonne durch, ein schriller Glanz schiesst über die Weiden, dann herrscht wieder Dunkelgrün, das schwerste Grün der Welt.

Auf dem Weg treffe ich eine Älplerin. Wir unterhalten uns über Blitze und andere Naturgewalten, fünf Rinder hat’s kürzlich erwischt, hier unter diesen Tannen …
Ich hatte mich kaum verabschiedet, da bin ich ins nächste Gewitter gekommen; mitten in einem Tannenwald ist es über mich hereingebrochen. Ein furchtbares Gewitter, und ich habe mich gezwungen, weder an Rinder noch an Tannen zu denken. Die Rache des Säntis! schiesst’s mir durch den Kopf – und schon wieder beginne ich zu rennen …
Die Unversöhnlichkeit, die in dunklen Schwaden über den dunklen Tannenwäldern hing, ist das Letzte, was mir von diesem Tag geblieben ist.

Von Appenzell aus habe ich Sepp angerufen, ob er Lust hätte, morgen mit mir zum Fälensee hinauf zu laufen, zur Alpstobete auf der Bollenwees. Ja gerne, sagt Sepp, er sei schon lange nicht mehr weggekommen, und dort oben sei es besonders schön. Er schaue grad zum Fenster hinaus, drei Rehe zankten sich am Waldrand, und jetzt komme noch ein Habicht hinzu, das sei gar kein gutes Zeichen … Er kenne übrigens einen, der habe drei Schachteln Zigaretten geraucht am Tag, und eines Tages hätte der sich gesagt: wenn so viele nichts nützen, so könne er ebenso gut ganz aufhören damit, und von dem Moment an hätte der keinen Zug mehr geraucht. – Meint er’s nun ernst, oder macht er nur Witze?

Emil Haas ist pensionierter Briefträger und Jäger. Per Zufall hab ich von seinen Super-8-Filmen gehört; diese Bilder sind mir Beweis, dass es noch immer einen sehenswerten Hintergrund gibt zum ganzen Kitsch, der diese Täler verstopft bis ins letzte Museum hinein. Es kommt mir vor, als sei dieses winzige Appenzell das mentale Epizentrum der ganzen Ostschweiz – alles viel deutlicher, rezenter, wie der Käse. Ich mag die Leute hier; wie schaffen sie’s nur, so zu tun, als wär es immer noch früher, und alle spielen mit? Wie Kinder, die längst wissen, dass es keinen Osterhasen gibt, aber noch immer nach Eiern suchen wollen und deshalb so tun, als hätte der Hase sie versteckt.

Am Abend ein Spaziergang zum Hexenwäldchen mit dem Peterer und seiner Sau. Ist der Peterer der Hans im Glück oder eher ein listiger Kobold? Dort hinten in der kleinen Lichtung macht der Peterer einen Ritt auf seiner Sau. Das Hexenwäldchen ist plötzlich sehr dunkel, und alles erscheint mir wie durch einen seltsamen grünen Filter hindurch. Nie war ich weiter entfernt von allen Rauchergelüsten. Zigaretten hätten den feinen Zauber sofort zerstört und Peterers Verrücktheit auf obszöne Spielchen reduziert. Nikotin ist eine kalte, vulgäre Droge, die einem bald einmal den Zugang verwehrt zu delikateren Realitäten.

Der Kopf ist völlig woanders als die Füsse. Ich habe mich gehen lassen – wörtlich; ich laufe mir voraus oder hinterher und verliere mich zwischendurch auch ganz aus den Augen. Mal spiele ich den Wanderer, mal den Einheimischen und mal den Touristen – eine verdammte verlogene Scheisswanderung wird das bleiben, wenn ich mich nicht bald einmal entschliesse. Beim Filmen setze ich auf Zufall statt auf Konzentration, beim Denken ist es genauso.

Ich habe die Abzweigung verpasst; mitten in dieser mir bestens bekannten Umgebung habe ich vollkommen die Orientierung verloren.

Es stimmt nicht, dass die Bilder lügen, im Gegenteil. Die Kamera hat mir oft geholfen, mich auf den Boden zurückzufilmen, den Blick gewissermassen im Moment zu verankern.

Volksmuseum Appenzell. Anhaltendes Wohlbefinden, während ich die alten Holzfiguren betrachte; ich suche den Fokus auf die schönen Gesichter der Schlafenden Jünger. Die Ängste und Beschwörungsformeln des katholischen Menschen, die naive Abgründigkeit dieser Bauernkultur – alles, was die dunkle Seite des Landes betrifft, scheint mir hier in einem Raum versammelt. Selten sah ich eine gelungenere Mischung aus verspielter Volkskunst und tief empfundener, sehr menschlich interpretierter Religiosität.
Am aufregendsten fand ich die alte Pendule, ich nenne sie die «Todes-Uhr». Unter dem Zifferblatt, auf einer kleinen mechanischen Bühne, spielt sich in endloser Wiederholung ein makabres Drama ab: Mit unverhüllter Gier ringen die biblischen Mächte um die Seele des armen Sünders, der von seinem Sterbelager aus mit letzter Kraft versucht, sich die ganzen Plage-Geister mit dem Kreuz vom Leib zu halten. Auffallend vor allem die himmlische Botin; wie das Nummerngirl eines billigen Revuetheaters kokettiert sie mit dem Publikum, während Pfaffe, Tod und Teufel um das Todeslager schleichen. Der Sterbende selbst bleibt bleiche Staffage. Das Stück ist eine besonders böse Inszenierung des Katholizismus, schlicht und prägnant auf den Punkt gebracht.

Der fünfte Tag im Osten. Einst hatte ich alle Kraft darauf verwendet, von dieser Gegend loszukommen, und seither tue ich nichts anderes, als dauernd hierher zurückzukehren. Noch immer gelingt es mir, in diesen Hügeln herumzuspazieren und mich zu fühlen wie einer, der das alles zum ersten Mal sieht.
Andererseits beanspruche ich doch insgeheim, ein Stück weit dazu zu gehören. Wenn mir aber einer sagt, du bist doch einer von uns, krieg ich sofort die Panik.
Die Raucherlust hat nachgelassen, doch weiter bin ich nicht gekommen. Der schrille Tonfall in meiner Stimme ist noch immer derselbe, wenn ich die Leute um etwas bitte.

Der Aufstieg zum Fälensee, vor allem der erste Teil, ist von unvergesslicher Steilheit. Unvergesslich bleibt mir auch Sepps Erstaunen – ja Empörung, als er am steilsten Wegstück immer wieder überholt wird von allerlei bunten Wandervögeln aus der Stadt. Er, der Bauer und Arbeiter, der täglich an der frischen Bergluft barfuss und mit blossen Händen seine Muskeln stählt, hat das Nachsehen bei diesen durchgestylten Karikaturen … Auf dem Weg zurück ins Tal freut er sich wie ein Kind, dass nun wir es sind, die alle überholen.

Es gibt Leute, die sind mit ihrem guten Geschmack verheiratet. Sie bilden ein derart hermetisches System mit ihrer stimmigen Umgebung, dass sie mir mehr zuwider sind als alle Geschmacksverirrten … Daran denke ich merkwürdigerweise, während ich die Physiognomie der Karpfen studiere, die im Teich hinter dem Bahnhof Appenzell im Wasser treiben.

Mit Ex-Weltmeister Walter Steiner über das Skifliegen zu reden, ist vor allem ein Gespräch über Technik, doch er wäre kein Weltmeister, wenn er nicht im Moment, da er abhebt vom Schanzentisch, in eine Welt hineinsehen könnte, in der augenblicklich alles aufgehoben ist, was kurz zuvor noch Gültigkeit hatte. Daher, so denke ich, fliegt er so weit, und daher wirkt er so benommen nach der Landung – plötzlich wieder auf diesem Boden.
Ich fliege nicht gerne hoch, soviel ist mir klar geworden bei meinem ersten Flug mit einem Hängegleiter. Ich starte gerne, und ich lande gerne. Am liebsten aber schwebe ich, und die schönste Form des Schwebens bietet der Sessellift. Es gibt nach wie vor nichts Besseres, als im Sessel die Hänge hinauf und wieder hinab zu gleiten, als «Hänge-Gleiter» – im wörtlichen Sinn.

Zu lange beim Frühstück gesessen heute. Das lange Sitzen hat mir nicht gut getan, der ganze Organismus ist mittlerweile auf Laufen eingestellt. Laufen ist mir lieber als Schreiben oder Filmen. Das Denken bewegt sich weich und fliessend im Laufen, und wenn ich mich dann setze um einen Gedanken aufzuschreiben, so kommt der ganze Apparat ins Stocken, und alles wird krampfig und schwer … Vielleicht ist es Zeit geworden, Schluss zu machen mit der ganzen Lauferei und wieder das Sitzen zu üben.

Es war schwer, sich von Appenzell zu trennen. So kam es, dass ich den Abmarsch bis in den späten Nachmittag hinausgetrödelt habe. Ausgerechnet am Abend des Nationalfeiertags lauf ich von Appenzell nach St. Gallen hinunter. Langsam geht das Ländliche über ins Provinzielle, das Liebliche ins Niedliche. Schliesslich kommt man zur sogenannten Ganggeli-Brücke, die das Land direkt mit der Stadt verbindet. Eine äusserst filigrane Brücke, unheimlich hoch und unheimlich lang. Überall am Geländer sind Schilder angebracht; die Lebensmüden werden aufgerufen, doch unbedingt die rote Telefon-Nummer zu wählen, bevor sie springen. Tatsächlich liegt eine schwer zu fassende Schwermut über dieser Schlucht. Unwillkürlich möchte man allein sein, sobald man diese Brücke betritt. Ein Ort der Einkehr – oder auch der Abkehr vom Leben.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 293–297.

Erstpublikation: Peter Liechti: Lauftext – ab 1985. St. Gallen: Vexer Verlag, 2010. S. 121–128.