Literaturland


Werner Lutz

Aufgewachsen

2011

Aufgewachsen
nah an einer Stallwand, zusammen mit Brennnesseln und Holunder,
zwischen Hahnenfuss und Hühnerbeinen,
von Wespen gestochen und von Bremsen,
stehe ich noch immer dort. Auch auf der Sandsteintreppe bin ich anzutreffen,
ein randvoll gefüllter Wassereimer,
der für immer ein randvoll gefüllter Wassereimer bleibt.
Ich bin zu hören als Webstuhl, der unten im feuchten Keller Seide webt,
bin noch immer unterwegs, als ein Bellen, Maunzen, Grunzen, klirre als Kuhkette in der fellwarmen Dunkelheit.
Ich liege als Brotlaib im Küchenkasten,
dampfe als Melissentee auf dem Stubentisch. Dort schreibt mein Vater,
mit widerspenstiger Feder, mahnende Briefe an seine Söhne, liest in der Bibel
jene Abschnitte, die ebenfalls von Vätern und Söhnen handeln,
von bitteren Enttäuschungen und bitterem Verzeihen.

Aufgewachsen
mit den Brunnenworten einer Brunnenröhre, heftigen Worten bei Gewittern,
spärlichen Worten in trockenen Zeiten,
verstehe ich als einer der Letzten diese glitzernde Sprache.
Ich habe mit allen Sinnen zugehört, den Hügeln, dem Winseln des Föhns,
dem Falterflug nah am Ohr.

Und nun habe ich den Faden verloren, bin ein alter Mann geworden,
der sich zurücksehnt und zugleich verflucht
die unsere Erde plündern und verwüsten.
Nacht wächst über meinen Arbeitstisch, dichtdunkles Nachtgras,
das morgen in aller Frühe gemäht werden wird.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 429.

Erstpublikation: Werner Lutz: Aufgewachsen. In: Obacht Kultur 11 (2011/3). Titelseite.