Literaturland
Sabina Manik
Der verbrannte Brief
Yasmin! Du herzallerliebstes Kind!
Zuallererst will ich dich einfach halten. Du reichst mir schon an die Schultern! Ich lege meine Arme um dich, ich liebkose dein seidiges Haar, ich küsse deine unglaublich grünen Mandelaugen, welche aus einer Tiefe blicken, die eigentlich einem achtjährigen Mädchen noch nicht gebührt.
Ich drücke dich an mein Herz und wiege dich ganz sacht, so wie ich es getan habe, als du klein warst. Was ich dir sagen muss, ist so ungeheuerlich, dass ich gar nicht weiss, wie und wo ich beginnen soll. Ich schreibe dir diesen Brief in der Hoffnung, dass ihn dein Vater für dich aufbewahrt und ihn dir gibt, wenn du gross genug bist. Ich schreibe ihn dir in meiner Muttersprache, die ich dir entgegen allen Unkenrufen beigebracht habe. Du sprichst sie fliessend und fast akzentfrei. Aber statt dass mich diese Tatsache mit Stolz erfüllt, frage ich mich jetzt, ob ich je das Recht gehabt habe, dich mit einer dritten Sprache zu belasten, einer Sprache aus einem kleinen Land, auf der anderen Seite der Welt am Fusse der Berge, wo im Winter der Sturm heult und späte Heimkehrer erfrieren können.
Vielleicht kann ich meine Geschichte daran anknüpfen: Man kann nämlich nicht nur in Schnee und Eis erfrieren, geliebtes Kind, man kann auch an der Sonne erfrieren, inmitten freundlicher, brauner, kleiner Menschen, deren Wesen man so wenig zu verstehen vermag wie das der Gottesanbeterin – weisst du noch, die Heuschrecke, die ihr Männchen nach der Paarung auffrisst. Ich habe dir das alles erzählt in jenen einsamsten aller neun Jahre auf der kleinen Insel, die dir Heimat ist und mir immer ein Kerker blieb. Auch haben nicht alle Gefängnisse dicke, modrige Mauern. Mein Gefängnis hatte einen türkisblauen Strand, der etwas weiter, über dem Korallenriff, ins Azurblau überging. Mein Gefängnis war von weissem Sand umgeben, der in der Mittagshitze flimmerte und gegen Abend von unzähligen kleinen Schalentierchen, Krabben und Einsiedlerkrebsen belebt wurde. Heute weiss ich, dass ich dir viel zu viel erzählt habe, und ich tadle mich deswegen, so wie ich mich wegen allem tadle, was ich dir und deinem Vater angetan habe. Ich bin keine gute Mutter. Was ich am allermeisten hätte sein wollen, ist mir nie gelungen zu sein. […]
Ich muss dich verlassen. Ich bin krank. Weisst du noch, wie ich dir erklärt habe, dass man die verrückte Zohra, die jedesmal die Zähne bleckte, wenn wir das Wasser holten bei der Verteilstelle neben dem Gebetshaus, nicht auslachen und verhöhnen sollte, weil sie ebenso krank sei wie der kleine Mann vor der Garage, dessen Körper über und über mit Warzen besät war? Ich leide auch an so einer Krankheit, die man nicht sieht, weil sie im Gemüt lebt und an der Seele nagt. In der Sprache deines Vaters existiert kein Wort für sie. Die Insulaner scheinen diese schleichendste aller Krankheiten nicht zu kennen. Wenn bei ihnen jemand den Verstand verliert, so tut er dies gründlich, wie eben die verrückte Zohra oder der Spinner Hassan. Sie entledigen sich aller gesellschaftlichen Fesseln und erfreuen sich ihrer Narrenfreiheit. Sie scheinen nicht im Entferntesten traurig zu sein über ihren Zustand, und manchmal beneide ich sie richtiggehend. (Es steht noch ein Buch zu diesem Thema auf meinem Büchergestell. Natürlich gehören die Bücher jetzt alle dir, du darfst damit machen, was du willst. Aber wenn du Papier brauchst zum Anfeuern oder um es in deine Uniformschuhe zu stecken, frag lieber den Papa nach alten Zeitungen, weisst du noch? Amici libri sunt! Ich gehe zwar aus deinem Leben, aber ich lasse dir alle meine Freunde zurück.) Ich nenne diese Krankheit Schwermut, oder einfacher: Traurigkeit. Auch du weisst schon, was Traurigkeit bedeutet. Als deine Grossmutter starb, weintest du ihr nach, und auch als wir die kranke Katze weggeben mussten, warst du ihretwegen traurig. Manchmal bist du auch traurig, weil du spürst, dass deine Eltern verschlossen und unglücklich sind oder weil du mit dem wunderbaren Instinkt der Insulaner fühlst, wie verloren und einsam dein Vater in Halvatien war, auch wenn er nie länger als ein paar Wochen dort war. Traurigkeit hat auch etwas Schönes. Traurigkeit kann voll Poesie und matter Farben sein. Sie kann sich wie ein Wolkenfetzen in einen grellblauen Himmel über dein leeres Gemüt legen und dich inspirieren. Sie kann dir gewissermassen zu einem treuen Gefährten werden, auf den du nicht mehr verzichten willst, weil er, wie eine Kerze, welche die Trivialität einer späten Stunde dämpft, der Banalität des Lebens einen Tüllschleier umhängt. Aber merke dir eines, Kind: Sie ist ein tückischer Begleiter und kann dich, ohne dass du es merkst, in Tiefen hinunterstürzen, aus denen du allein nicht mehr entkommen kannst.
Ich wollte dir noch so viel sagen, doch wird die Zeit knapp. Man sollte sich in jeder aussichtslosen Lage besinnen; man sollte versuchen, die Übel zu erkennen und ihnen Prioritäten zu geben. Dann sollte man eines nach dem anderen ausreissen, fein säuberlich, mitsamt den Wurzeln. Ich habe all die Jahre davon geträumt, mit dir in einer schöneren, reicheren, entwickelteren, demokratischeren und freieren Welt zu leben. Aber ich wusste in meinem Innern immer, dass dein Vater dich mit der gleichen Macht liebt und du ihn. Er war gewissermassen die bessere Mutter als ich. Nie verlor er die Nerven, nie schalt er dich, immer war er für dich da, bedingungslos, und wie er dich lachen und jauchzen machen konnte schon als ganz kleines Kind, hat in mir den Verdacht erhärtet, dass ich der Störfaktor Nummer eins in eurem Leben bin. Die Komplexität meiner Wünsche und Gedanken haben die Einfachheit eurer Welt, in der auch eine gewisse stille Harmonie liegt, blossgestellt. Ich muss mich selber mit den Wurzeln ausreissen, um euer Leben zu befreien, und das werde ich tun. […]
Manchmal gelingt es mir, dich aus Distanz zu betrachten. Dann sehe ich ein starkes schönes Kind, dessen einzige Ahnung von Schmerz eine ihm fremde Mutter ist, der alles schwer fällt, jede noch so selbstverständliche, alltägliche Verrichtung, und die irgendwie immer abseits steht, weil sie nicht wirklich da lebt, wo sie ist. Ich sehe, wie du mit deinen Verwandten den für mich noch immer ekligen fischteigigen Reis isst und er dir schmeckt. Wenn du von der Gebetsstunde nach Hause kommst, verhüllt bis auf dein goldenes Gesicht, dann bist du mir fremd und deine Augen strahlen voller Freude. Wenn du schwimmst und die klatschnassen Kleider an dir kleben, dann lachst du und wringst das Leibchen am Körper aus, so gut es geht. Wenn du in der Schule, in die enge Uniform gezwängt, ganz vorne in der Besammlungsreihe stehst, weil du die grösste bist, dann leuchtest du. Und wenn du gehst, winken die anderen Kinder dir zu, denn du hast ein offenes, freundliches Gemüt. Wenn dich dein Vater mit seinen starken Armen in die Luft stemmt, so wie er es schon tat, als du ein winziger Säugling warst, dann jauchzst du voller Lebensfreude, und wenn er für dich singt und dir die Füsse massiert, dann bietet sich mir ein Bild von schmerzhafter Schönheit.
Ich darf das alles nicht zerstören – man darf jeweils nur den tatsächlichen Störfaktor ausmerzen, also mich selbst. Es steht mir nicht zu, dir zu sagen, dass ich dich aus Liebe verlasse. Ich tue, was sich mir aufdrängt. Wenn ich dich um etwas bitten darf, dann ist es um die Einsicht, dass ich nicht mehr kaputt gemacht habe, als was im Inneren schon kaputt war. Als ich deinen Vater geheiratet habe, war ich jung und voller Illusionen. Es ging alles nur um dich. Ich wollte, konnte nicht weiterdenken. Ich erwartete wohl eine Lösung all meiner Probleme, an deren Wurzel eben jene Traurigkeit lag. Ich wollte ein anderer Mensch werden, wollte ein devotes Weib werden, mich nur noch um dich und deinen Vater kümmern. Ich konnte mich nicht vor mir selber retten. Ja, jung und närrisch war ich.
Nun gehe ich. Nur eines noch wollte ich dir sagen. Pflege deinen Glauben und nimm ihn ernst, auch wenn sich die Zeiten ändern und auch die Insulaner beginnen, Kaufhäuser anstelle von Gebetshäusern zu bauen und sich ein Auto anstelle einer Pilgerreise zu leisten. Der Glaube trägt einen durchs Leben. Ich wäre dir auch in dieser Hinsicht eine schlechte Mutter gewesen. Mein Glaube hinkt wie ein verletztes Tier hinter mir her. Du bist auf dem richtigeren Weg, als ich es war, und dieses Wissen gibt mir die Kraft, mich jetzt auf meinen Weg zu machen.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 109–111.
Erstpublikation: Sabina Manik: Dreierlei Einfalt. Zartbittere Liebesgeschichten aus den Tropen. Herisau: Appenzeller Verlag, 1999. S. 245–255.