Literaturland


Helen Meier

Gratulation

1984

Die Erzählung ist Bestandteil von Helen Meiers 
literarischem Debüt, dem Prosaband Trockenwiese.

Die Radiosprecherin gab bekannt, dass im Altersheim Sonnenblick Fräulein Marie Hungerbühler ihren 95. Geburtstag feiere, dass sie fortfahre, noch alle Tage abzustauben oder Blumen zu giessen, dass man ihr dazu herzlich gratuliere und weitere schöne Lebensjahre wünsche. Fräulein Marie Hungerbühler hatte die Gratulation nicht selber gehört, sie war taub, und den Hörapparat hatte sie vergessen. Die andern Alten lachten, die Schwester kam und schrie es ihr ins Ohr, Marie vergass das Brot in den Kaffee zu tunken. Gratuliert war ihr worden, von fremden Herren am Radio, sie verschüttete den Kaffee. Sie war nicht die Einzige, die verschüttete, überall auf den Plastiktischen waren Kaffeelachen. Die Alten sassen davor und schauten vor sich hin, die Schwester hatte versucht, Strickstunden einzuführen, viereckige Stücke, zehnmalzehn Zentimeter, die zusammengenäht Wolldecken für die armen Neger ergäben. Die meisten strickten nicht, sie vergassen es und liessen die Nadeln fallen, die Wolle rollte am Boden, zwei zählten die Maschen laut und schauten sich böse an. Die meisten sassen einfach da, manche bewegten die Lippen, murmelten, niemand achtete darauf, eine Dicke, deren Hintern über den Stuhl quoll, mit rosa Haut, fuhr sich von Zeit zu Zeit mit einem Taschentuch unter die Stahlbrille, die Brillengläser waren trübe, eines hatte einen Sprung, der Rand der Brille hatte auf der Wange eine rote Rille gezeichnet. Einer Kleinen, mit zwei Eckzähnen, rann der Speichel auf die feuchte Schürze, eine schlief, die Arme neben den Kaffeelachen, der dünne graue Zopf, mit einem Schuhbändel um den Schädel gebunden, war heruntergerutscht. Nicht schlafen, Babette, sagte die Ordensschwester, freundlich lächelnd durch den Raum schreitend, sonst schlafen Sie nachts nicht mehr. Eine lachte, schlurfte zu Babette und schüttelte sie, im Zimmer war der Geruch von ungelüfteten Kleidern, Urin und Anstaltskaffee. Das Altersheim war kürzlich in ländlicher Gegend erbaut worden, Chromstahlküche, helle Möbel, rotüberzogene Stühle, geblumte Tapeten, Badezimmer, Duschen, Spiegel, Wasserhahnen, sehr schön. Die Alten liebten das Baden nicht, das macht kalt, sagten sie, sie bedauerten, die Wäsche wechseln zu müssen, man muss doch sparen, sagten sie. Manche liessen von Zeit zu Zeit das Wasser in die Hosen laufen. Das war einfacher, als immerzu über die blanken Böden auf die Toiletten zu springen. Solange man sitzen blieb, gab es warm, der Geruch war vertraut, es trocknet von selber wieder, sagten die, die es merkten. Viele merkten es nicht. Eine blätterte in einem Gebetbuch mit grossgedruckten Buchstaben, lesen mochte sie nicht, aber Bilder anschauen, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist, Taube, Apfel, Löwe. Da war Marie Hungerbühler noch besser dran, sie staubte ab. Sehen konnte sie gut, kein Stäubchen entging ihr, sie staubte die Kommoden ab, die Stühle, die Bänke, auf der die Alten sassen, von ihren Plätzen mussten sie rücken, damit sie abstauben konnte. Sie taten es unwillig und hockten sich schnell und langsam wieder hin. Die rosa Dicke ging plötzlich von stillem Augenwischen in lautes Weinen über, die Schwester kam und führte sie weg, einige kicherten, andere gähnten, andere hatten nichts bemerkt. Marie Hungerbühler schüttelte den Kopf. Wie konnte man auch weinen, es war doch so schön hier, und man hatte ihr gratuliert. Sie tat das Staubtuch sorgfältig in ihre Schürzentasche. Wenn es endlich aufhörte zu regnen, musste sie die Blumen giessen gehen. Und noch weitere schöne Lebensjahre hatte man ihr gewünscht. Das war wirklich nett.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 565–566.

Erstpublikation: Helen Meier: Trockenwiese. Geschichten. Zürich: Ammann Verlag, 1984. S. 53–55.