Literaturland


Michel Mettler

Die Wortsüsse des Augenblicks

2006

Die achtziger Jahre haben ihre Mitte überschritten, auf den Plattentellern kreist noch Vinyl, doch die ersten Schübe der Digitalisierung stehen bevor. In Deutschland hat sich die RAF tief verschanzt, in der Schweiz ist ein ironisch verspielter Jugendprotest folgenlos geblieben, fast vergessen auch die Ölkrise, in klarer Minderheit das ökologische Denken – für längere Zeit wird die neue Grossreligion namens Konsum von dem unangefochten sein, was sich in den Nischen tut.

In einer solchen Nische sitze ich, für einmal nicht am Klavier, sondern mit einem Buch, hinter winzigkleinen Fenstern und Vorfenstern, zu Gast in einem Appenzellerhaus im hintersten Talwinkel, wo die Nebelfeuchte ins Kraut schiesst, wo Regenfälle ausdauernder als anderswo sind und manches Haus nachts unverschlossen bleibt, ja wo viele Türen noch nicht einmal Schlösser besitzen, weil die Wände dünn und die Hunde hellhörig sind. Ein Räuber hätte leichtes Spiel hier, denke ich am Dämmerungsfenster, Einbrecher aber täten sich schwer, da ihr Werkzeug nutzlos wäre, und umsonst die Mühsal, mit denen sie andernorts Fassaden erklimmen.

Abends zur immergleichen Zeit streicht ein Fuchs am Haus vorbei. Ich glaube, hier an der Waldbucht beginnt er seine nächtliche Tour, sein Bau kann nicht weit sein. Neugierig schaut er herüber. Er hört mich hinterm Fenster, aber ich scheine ihn nicht zu stören. Solange ich nur ins Blattreich hinausblicke und zwischendurch eine Seite wende, bin ich weder Feind noch Beute. Das Buch in meiner Hand ist Robert Walsers Räuber-Roman.

Das Holzhaus ist dunkel gelegen, aberwinklig, von Schattengrün umwachsen, dämmerungstrunken schon am Nachmittag. Ich bin seit Stunden nicht von meinem Platz im Hangzimmer gewichen. Farne blicken zum Fenster herein, längs des Grats, steil über dem Haus, kriecht langsam eine wagengrosse Echse südwärts – das Urtier Vergangenheit.

«Hievon nachher mehr.» Dieser Ur- und Vorsatz aus dem Räuber nimmt mich bis heute gefangen. Er ist der zweite im Buch und ganz von der Art jener lautlosen Walserschen Paukenschläge, deren es so viele gibt: Je leiser sie zunächst scheinen, desto länger hallen sie nach. Einige verklingen ein ganzes Leben nicht mehr. Sie geraten aus sich in Bewegung, werden zu Geleitworten, gleitenden Sätzen –

«Hievon nachher mehr.» Ich habe den Satz schon zu Hause, in Sichtweite zum Jura gelesen und gleich gewusst, dass dies ein Buch zum Immerwiederlesen sein wird, ohne Anfang und Ende, ein Moebius’sches Band des Erzählens, auf dem die Schwerkraft meinen Kopf wankelmütig mal nach unten, mal nach oben zeigen lässt, als hätte ein M. C. Escher mich in verschiedenen Stadien der räumlichen Verrückung gemalt, unterwegs durch zersplitterte Dimensionen als eine kriechende Echse der Vorzeit.

Im Grunde, so phantasiert der Schreibnovize hinterm Fenster, soll jede Prosa eine Reiseprosa sein: Sie möchte uns herumführen, Ungesehenes zeigen, einen Zauber des Erfahrens entfalten. Und der Jüngling hegt einen Wunsch: einmal so freischwebend erzählen zu können, wie es hier in diesem Buch fast naturereignishaft geschieht. Er möchte nicht lesend, sondern schreibend das Land bereisen.

Robert Walser ist immer unterwegs, auch wenn er zu verharren scheint. Er hätte, so wie ich an jenem düsteren Nachmittag, zeitlebens im selben Zimmer sitzen können und wäre doch ein Reiseschriftsteller geworden. Beide Bewegungen, die körperlich unsichtbare im Zimmer wie auch das Schweifen durch die äussere Welt, sind mit der Erkenntnis verknüpft, dass jede Erfahrung Selbsterfahrung sei. Diese wiederum macht den Text, den sie speist, zur Konfession.

Vielleicht deshalb rührt Walser den Halbwüchsigen so an, jenen Heranwachsenden, der ich damals am Dämmerungsfenster war und auch in diesem Augenblick der Niederschrift bin: «… wir brauchen, um die Richtung ins Vollkommene beizubehalten, fortwährender Empfindung, dass wir nicht fertig mit uns sind und es wohl auch nie werden», wie es im Räuber heisst. Oder, in einem prägenden Satz aus Mozarts Vaterbriefen: «Ich fang erst an zu leben.»

Im Lauf meiner Wochen im Holzhaus, habe ich mir vorgenommen, will ich einmal über die Hügel nach Herisau gehen, zur Pflegeanstalt, wo ein alter Mann, der Vater meines Vaters, in tiefer Betrübnis lebt. Es ist dieselbe Anstalt, in der auch Robert Walser seine späten Jahre zugebracht hat. Auf der Südseite des Tals, hat man mir gesagt, gebe es einen Übergang: Ein grosser Baum stehe am höchsten Punkt des Hügels, kreisrund um seinen Stamm eine Aussichtsbank – ein sonntägliches Ausflugsziel für die Einheimischen. Daran vorbei führe der Weg hinab ins Ebene, unweigerlich nach Herisau.

Der Baum ist von fern zu erkennen. Durch eine weitgespannte, sanft ansteigende, von vielerlei Zäunen zerteilte Wiese gehe ich auf ihn zu. Doch kaum bin ich aus dem Schatten des Talgrunds getreten, rennt ein Ziegenbock auf mich los. Obgleich sein Kopf nicht zum Kampf gesenkt ist, erschrecke ich. Er rempelt nur, streicht mit seinem muskelprallen Körper an mir vorbei, scheuert den Kopf an meiner Hüfte, drängt mich vom Weg und schubst mich mit kräftigen, nickenden Kopfbewegungen vor sich her.

Mit dem Abklingen des Schreckens wächst mein Ärger, denn das Tier will nicht von mir ablassen, es begleitet mich, steht mir in den Weg und rempelt heftiger, sowie ich an ihm vorbeiwill. Je näher ich dem Baum komme, desto erregter wird es. Seine Ausdünstung ist durchdringend. Genauso wird meine Kleidung jetzt riechen: Eine ockerfarbene Talgschicht macht sich auf meiner Hose breit. An einen Besuch beim Grossvater ist nicht mehr zu denken. Auf halbem Weg kehre ich um.

Tage später, nach mehreren Waschgängen, hängt die Hose noch immer stinkend vor dem Haus: Kein bisschen Mief ist aus dem Gewebe entwichen. Ich werfe alles weg, was ich bei meinem ersten Gang getragen habe, und mache mich erneut auf den Weg. Diesmal erreiche ich die Anhöhe ungestört. Ich setze mich unter den Gipfelbaum – tags zuvor habe ich erfahren, dass er ‹Zentenar-linde› heisst.

Der Abstieg ist kurz: Kaum eine halbe Stunde später trete ich in meiner zweiten und letzten Hose vor den Grossvater. Seine Begrüssung ist knapp, seine Miene steinern. Während ich ein Gespräch zu führen versuche, nimmt er lustlos das Mittagessen ein. Sein Blick ist auf Punkte in der Unendlichkeit gerichtet. Mein Körper scheint ihm keinen Widerstand zu bieten.

Für keines meiner arglos dargelegten Vorhaben zeigt der Greis auch nur das geringste Verständnis. Meine Ansichten hält er für dumm und unüberlegt, meine Lebensweise für abwegig. Er bemüht sich nicht, seine Missbilligung zu verbergen. Für meinen Besuch, den ich vorzeitig beende, findet er kein Wort des Danks. Noch als ich mich in der Tür umdrehe, um ihn zu grüssen, sackt sein massiger Körper widerwillig zurück, und sein Gesicht drückt aus, wie sehr ich eine Enttäuschung für ihn bin.

Im Holzhaus indessen lässt Robert Walser seinen Räuber weiter «im Jetztzeitstil» erleben, wie alle Bäume lautlos still stehen und wie die Vöglein «auf ihren lieben Freund, den Abend» warten, «um in seiner Kühle zu jubeln».

Bin ich bei dem alten Mann in jeder Hinsicht aufgelaufen, so fühle ich mich hier willkommen mit allem, was mir am Herzen liegt – ganz zu Hause in dem Buch eines Autors, der runde zwanzig Jahre vor meinem Grossvater geboren ist: «Man nützt mit Unnützsein vielleicht sehr, liebste Gnädigste, weil ja doch schon so vielfältiger Nutzen geschadet hat, oder nicht?»


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 21–23.

Erstpublikation: Michel Mettler: Die Wortsüsse des Augenblicks. In: Robert Walser: Der Räuber. Roman. Mit einem Nachwort von Michel Mettler. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006. S. 201–206.