Literaturland


Stefan Millius

Rättigen

2008

Im Grunde war Rättigen immer schon des Teufels. Wenn sie gestorben und verreckt und verendet sind in Rättigen, dann war das wie ein Psalm für den Leibhaftigen. Doch jetzt stirbt keiner mehr. Stefan Millius verknüpft Alltägliches mit Ungeheuerlichkeiten in einem Mix aus deutscher Hochsprache und Ostschweizer Dialekt.

Der Melchior Schmidli hat das Zeitliche gesegnet, aber etwas Neues ist erwacht im Dorf Rättigen. Zuerst merkt es keiner, Tage, Wochen, Monate. Der erste, der sich Gedanken macht, was zum Tüüfel hier eigentlich nicht stimmt, ist der Jost Baumberger. Ein halbes Jahr, nachdem der Melchior gestorben ist und der Bauer Egger zu seiner Elsa gesagt hat, dass der Herrgott eben gebe und nehme, das Chälbli sei immerhin gesund, und so schlecht sei dieser Tausch weiss Gott nicht, ein halbes Jahr später also sitzt der Jost Baumberger in seinem weissen Kittel in der Küche des Altersheims und gnaget lustlos an einem Öpfel herum und fragt sich, was eigentlich mit ihm los ist. Bis jetzt hat er doch ein Gespür für seinen Beruf gehabt wie kein anderer. Und er meint es nicht einmal böse, wenn er stolz darauf ist, dass er praktisch auf den Tag genau voraussagen kann, wann wieder ein Bett frei wird im Altersheim. Er hat halt den Blick dafür. Die Laien da draussen glauben, die Alten stürben, wenn es heiss wird. Klar, das tun sie gelegentlich, und es stimmt schon, sie tun es auch öfter als im Winter. Aber das ist Anfängerzeugs. Der Jost Baumberger kann mit seinem dicken, kurzen Zeigefinger auf eine Tür deuten und der Putzfrau sagen, schau, zwei Tage noch, dänn goht diä und dann kannst du das Zimmer putzen, kannst ja schon einmal den Lumpen bereitmachen. Und zwei Tage später geht dann eine der Pflegerinnen ins Zimmer und kommt wieder heraus und ist etwas bleich um die Nase, weil das die Pflegerinnen auch nach zwanzig Jahren im Altersheim noch sind, und auch wenn es ihnen eigentlich ganz egal oder sogar ganz recht ist, wenn es einen dieser Quälgeister litzt, aber erschrecken tun sie eben doch, nur der Jost, der einzige männliche Pfleger hier im Alois-Heim, der bleibt ganz ruhig, am Anfang ist er noch ein bisschen zusammengefahren, aber nicht, weil jemand gestorben ist, sondern weil er es eben schon vorher gewusst hat, und das ist ihm zuerst selbst ein wenig unheimlich gewesen.

Aber jetzt hat er sich daran gewöhnt, und deshalb begreift er nicht, dass er heute im Nachtdienst diesen trockenen Apfel kauen muss. Heute Abend, das hat er schon vor einer Woche gemerkt, wäre die Bertschinger an der Reihe gewesen, die hat zwar ganz gesund ausgesehen in den letzten Tagen und hat auch mehr gegessen als sonst, aber der Jost hat gewusst, dass das nur ein letztes Aufbäumen ist, und er hat auch gewusst, dass es am Mittwoch so weit sein wird. Am Anfang hat er sich jeweils einen Spass daraus gemacht, in der Küche auszurichten, dass sie im Fall ein Abendessen weniger machen könnten, weil däsäb oder disäb heute nichts mehr essen werde oder dann höchstens Hostien auf einer Wolke oben, und nachdem sich dem Baumberger sein Ruf herumgesprochen hat, sind die in der Küche darauf eingestiegen, und es ist nur ein einziges Mal passiert, dass sie dann in aller Eile noch ein Essen hinpfuschen mussten, weil die Frau Peter immer noch putzmunter am grossen Esstisch im Saal unten gesessen ist und ungeduldig mit dem Messer in der Luft herumgezittert hat, obwohl der Jost doch ganz sicher gewesen ist, dass es die Frau Peter an dem Tag butze würde. Nach drei Bissen ist sie dann aber wirklich Kopf voran in die Suppe gesunken, die Frau Peter, und der Hausmeister hat dann noch gewitzelt, dass die Küche da wohl nachgeholfen habe, damit der Jost seine Wette nicht verliere. Aber der Jost hat nie gewettet, schon gar nicht um Geld, das wäre ihm unmoralisch vorgekommen, er hat einfach Recht behalten wollen, und das hat er auch in diesem Fall.

Jedenfalls hat er seitdem nie mehr in der Küche ausgerichtet, wer heute an der Reihe ist, nicht, weil er sich hätte irren können, sondern weil gerade in der Nachtschicht so ein Menü zuviel nicht das Schlechteste ist, denn irgendeiner muss es ja dann essen, wenn der Pensionär oder die Pensionärin einfach vor der Essenszeit stirbt. So schaut oft genug ein Znacht für den Jost heraus, wenn wieder ein Bett frei wird. Für heute hat er fest damit gerechnet, und jetzt sitzt die Frau Bertschinger immer noch im Saal unten und jasst, sie jasst grauenhaft schlecht, legt einfach irgend etwas ab und kennt nicht einmal mehr die Regeln, aber ihre Jasspartnerin, die Frieda Grau, ist 98 und taub und blind und hält die Karten nur in der Hand, weil sie ihr die Bertschinger in die Hand drückt, und sie legt auch nie eine Karte ab, die Frieda, die gute Seele, die Bertschinger spielt ganz alleine vor sich hin und am Schluss nimmt sie der Frieda die Karten zur Hand heraus und wirft alles auf einen Stapel und ruft «Gwunne!» und mischt und legt der blinden, tauben Frau wieder ein Bündel Karten in die Hand. Die Frieda lächelt manchmal, weil sie meint, es gebe zum Dessert Guetzli, und dann knabbert sie mit ihrem zahnlosen Maul ein wenig an den Karten herum, während die Bertschinger einen Stich um den anderen macht, weil sonst gar niemand Karten legt und dann plötzlich wieder ruft: «Gwunne!»

Jetzt ruft sie gerade und rupft der Frieda die Karten zum Maul heraus, um die nächste Partie zu mischen, und der Jost Baumberger hört’s in der Küche und schüttelt den Kopf und grunzt unzufrieden und beisst in seinen Apfel. Er weiss, dass auch er sich einmal irren kann, aber das ist schon lange nicht mehr passiert, und wenn es damit endet, dass so ein furztrockener Apfel sein Abendessen ist, dann, findet der Baumberger, wird es wirklich ungemütlich.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 420–421.

Erstpublikation: Stefan Millius: Rättigen. Roman. Norderstedt: Books on Demand, 2008. S. 10–12.