Literaturland


Peter Morger

797. Annäherung an einen bekannten Unbekannten

2001

Der «naturselige Guru» und «progressive Sprachzertrümmerer» Robert Walser – er beschäftigte Peter Morger immer und immer wieder. Die 797. Annäherung will der nachfolgende Essay sein. Und er wurde zu einem seiner letzten.

Willkommen in der phantastischen Villa zum Morgenstern, dem virtuellen Robert Walser-Haus. Kommt herein, ihr Radikalromantiker, aussterbenden Bücherwürmer, Hessianer, welche das surreale Flair suchen, auf den zeitlos unzeitgemässen Literaturtrip mit dem naturseligen Guru und progressiven Sprachzertrümmerer Walser gehen wollen. Die Rationalidioten und Intelligenzbestien bleiben gfl. draussen; hier gibt’s keine weit hin blauenden Säle Mann’schen Formats, glasklar entworfen von Thomas. Vernünftig behauene Sätze sucht man vergebens. Das Arabeske, Auf- und Abschweifende, Eselsleitern bauende, eben typisch ‹Walserische› regiert dieses Textgehäuse, verfasst von einem möglicherweise Seelenverwandten. […]

Dichtung (1977) …
In der ungeheizten Mansarde schwitzt er Blut. Heisse Gefühlswallungen brennen. Nackt liegen die Nervenzellen unter der Sonne. Die Sprache ist weich heute und geschmeidig. Die Einfälle türmen sich in hundert Höhen. Die Feder tanzt aus lauter Freude. Der Nebel kommt, das Leben, der Tod und das Leben nach dem Tod. Musik erschallt zwischen den Zeilen. Die Geigen geigen und der Bass wirft braune Wellen in den Raum; ein Grobian, wer das nicht merkt. Das Fenster ist weit offen. Der Dichter ist ein armer Held; er schaut hinaus und schaut hinein. Die Schatten im Gesichte werden länger. Spazier’ doch mit dem Kopf auf dem Hals und grüss’ die Leute artig. Grauer Steppenkater, der Strick hängt nicht umsonst am Baum im Wald. Das Waterloo der Prosa-Schlacht. Oder ist Ihnen einfach das Papier und Geld ausgegangen? Der Herr Dichter beliebt sich im Verschrienen zu versprechen. Zahlen bitte und Beweise! Müde sind wir, geh’n zur Tür. Kleb’ doch Tüten, verwisch’ Dich im Anstaltsweg. Aber sag’ bittschön nicht mehr, was morgen für Wetter war. Das Mündel ist Dichter und hält jetzt dicht. Bis er zusammenbricht auf dem Anstandsweg.

… und Wahrheit (plus/minus)
Im Juni 1933 wurde der freie Schriftsteller Robert Walser in seinen Heimatkanton Appenzell Ausserrhoden hinaufbugsiert und definitiv in der Heil- und Pflegeanstalt zu Herisau versorgt. Sicher, die vormalige Existenz in Bern war für ihn schwierig geworden, als herzhaft poetischer Kopf und Querdenker abseits der Moden. «Was ich freudig schrieb und fortjagte, wurde in die Verborgenheit geworfen, wo es langsam verschrumpfte […] Allerlei Erwägungen lassen mich glauben, es sei für mich Hirtenknaben höchste Zeit, mit Abfassen und Fortschicken von Prosastücken aufzuhören.»
Dies schrieb R.W. in Das letzte Prosastück, welches jedoch längst nicht sein letztes war. Walser Robert, Bürger von Teufen A.Rh., wurde 1878 in Biel geboren, damals eine Spitzweg’sche Provinzstadt, zum Gähnen gemütlich, wie für Träumer gemacht. Nach der Banklehre auf der Gehülfenbank galt’s ernst wie heiter: R.W. lebte bald als freier Dichter, arbeitete jedoch auch als zugvogelhafter Commis und diskret lautloser Bürogummi, hielt es aber in keiner kommerziellen Anstalt lange aus und zügelte häufig, flog von Zimmer zu Mansarde, bald im Dorf spazierend, bald in teutschen Städten flanierend, wie man sich’s heute – wo wir scheinbar so mobil sind – kaum mehr vorstellen kann, unbelastet von Mobiliar oder Büchern; keinerlei Technik lenkte ihn vom poetischen Tun ab, irgendwie beneidenswert. Im kecken gelben Anzug schweifte der ewig junge Walser durch die Lande, in grossartiger Freiheit, die endlich sehr unheimliche Formen annahm und sich zuletzt ins selbst verordnete Gegenteil pervertierte. Von 1905 bis fast zum Beginn des verheerenden Weltbrandes hielt sich Walser – notdürftig geborgen unter den Fittichen seines Bruders Karl – in Berlin auf, wo er u.a. mit drei grossen und teils genial klar konstruierten Romanen sowie exzentrischem Auftreten ein gerüttelt Mass nicht nur an Bier, sondern auch an Aufsehen erregte. Unter anderem zertrümmerte er im Verein mit dem prominösen Bühnenmaler Karl an einer Soirée Schellackplatten von Enrico Caruso … In diesem, heute postkartenhaft-idyllisch anmutenden Berlin hatte Robert seine Hochzeit, wirkte schillernd, mal als artiger Pfau, dann als kuhschweizerischer Haudegen, beschwipst balancierend auf Brückengeländern … Vorerst ritt der aufstrebende, gut aussehende Dichter auf dem richtigen Pferd, gehörte ein bisschen zum guten Ton. Seltsamerweise absolvierte der Artist Walser dieses Programm fast ohne Liebesaffären, geschweige denn Beziehungen, um dieses ‹moderne› Unwort zu gebrauchen. Doch das ‹Sexuelle› – wie wir scheinbar Auf- und Abgeklärten, Pornografie-Verderbten heute sagen – wäre nochmal ein Thema für sich. Breiten wir über dies – damals sowieso – Unerhörte lieber das Mäntelchen der Diskretion!

(Un)vernunft wider Poesie
Und das zwanzigste Jahrhundert begann sich zunehmend technologisch auszutoben, obwohl wir heute über dieses schwarz-weisse, ameisenhafte Getute zwischen meccanohaften Baukränen, märklinesken Eisenbahnen und realen Dampfmaschinen aus kühnen Bubenträumen nurmehr postmodern lächeln. Das Altehrwürdige, Gezierte, Barocke wurde älter und ward bald veraltet – während Walser auf eine bestürzend moderne Art versuchte, diese versinkende Welt zu retten, das Lebenswerte daraus in die Neuzeit zu hieven.
Doch seine Feder hatte einen andern Rhythmus als die ratternden Maschinen. Man sanierte und säuberte – und zerstörte dabei manch Sanftes, Seelenschönes und scheinbar Nutzloses, genau wie in der Neuzeit immer noch und immer wieder, partout nichts lernen wollend aus der Geschichte … Während Sandkastenstrategen das alte Europa zertrümmerten, während die roh-brutale Kraft (ohne Freude) Schluss machte mit Jugendstil, Kaiserschmarrn und k. u. k. Monarchie – zu der ich, auch als Anarcho-Katholik, eine sentimentale Sehnsucht empfinde –, während also all der sogenannte Plunder entsorgt wurde, zog sich unser Poet ins Hotel ‹Blaues Kreuz› nach Biel, seines Vaters Stadt, zurück, wo in der schlichten Mansarde naturselige Prosa von seltener Schönheit, in virtuoser sprachlicher Meisterschaft entstand, gleichsam damals schon als lebenswichtige Alternative zum Irrsinn der frühen Technokraten entworfen, als zeitloser Mahnspiegel für spiessige Klein-Adolfs und gemeine Normalos, die wie eh und je auf jedem modisch-peppigen Kaugummi ausrutschen – doch diese Spezies las solche Walsereien leider schon damals nicht, geschweige denn heute.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 575–577.

Erstpublikation: Peter Morger: 797. Annäherung an einen bekannten Unbekannten. In: Saiten 89, 8 (2001), 8 (August). S. 6–10.