Literaturland


Anita Obendrauf

Sonntagsgeschirr, hin und wieder

2016

Mit dem Kapitel Die Mühle und weiteren Texten hat die Verfasserin einen der beiden 2015er Werkbeiträge der Ausserrhodischen Kulturstiftung gewonnen. Das Buch zeigt Kindheitserfahrungen und Prägungen auf, welche tief ins Erwachsenleben nachwirken.

Die Mühle

Was für eine Farbe hatte das Haus gehabt? Stein, es war aus Stein mit einem Holzaufbau. Dunkelbraun oder Kastanie? Ob es noch da war?
Als Kinder waren sie drei-, viermal dorthin gegangen. Einfach zum Schauen. Das stimmte nicht ganz. Wenn Angelina zu Corinna gegangen war, war sie dort vorbeigekommen. Aber dann hatte sie nicht geschaut, höchstens einen heimlichen Blick gewagt, auf keinen Fall gestarrt. Stehen geblieben war sie nur, wenn Meinhard dabei war. Einmal hatte sich Meinhard den gepflasterten Weg und die steinernen Stufen hinauf gewagt und war vor der Türe stehen geblieben. Seine Finger waren zaghaft über das von der Sonne dunkel gebrannte Holz gefahren, den einzelnen Rissen entlang, als würde er sich so mit einer unbekannten Materie anfreunden, Vertrauen gewinnen.
Anstatt vom Bus direkt zu Vater zu gehen, nahm Angelina jetzt den steilen Pfad, den Russenweg. Hier hiess alles Russen, weil einmal die Russen auf einem Feldzug an diesem Ort gelagert hatten. Früher war das der schnellste Weg zur Bäckerei gewesen. Fürs Brotholen gab’s immer einen Batzen, der reichte gerade für einen Bazooka-Kaugummi. Das waren die grossen, welche kaum in den Mund passten und steinhart waren. Oder im Sommer für eine Rakete, eine Glacé in Form eines Weltraumschiffes. Unten an der Kreuzung hatte das Haus gestanden. Es war gross und mächtig gewesen, wie aus einer andern Zeit. Erst als die Wohnblocks kamen, fünfstöckig, überragten sie das alte Gebäude. Angelina hätte auch Vater fragen können, ob die alte Mühle noch stehe.
Damals mit Meinhard war sie auf dem Trottoir stehen geblieben, hatte sich nicht einmal auf den Weg aus Pflastersteinen gewagt. Als Meinhard seine Hand auf die Türklinke legte, hatte sie die Schultern hoch gezogen und sich geduckt, als ob mit der blossen Berührung des Tors ein Unheil geschehen würde. Oberhalb der Tür hatte es zwei kleine Fenster. Sicher würde ein buckliger Wächter seinen Kopf herausstrecken und Schwefel und Feuer speien. Sie dachte an den Buckligen, welchen sie kannte. Mit seinem Mofa fuhr er durch die Gegend. Wenn sie im Wald spielten, hinten im Breitfeld, kam er zu ihnen und stiess Worte aus. Manchmal redete Mutter ganz freundlich mit ihm. Aber sie, Angelina, hatte Angst, denn er spuckte beim Sprechen und seine Worte verstand sie nicht.
Vielleicht versteckte sich hinter der Türe auch ein Bär, ein riesiger Braunbär, der auf den Hintertatzen stand und mit seinen Vorderpranken wild fuchtelte. Warum sonst hatte es diese Abbildung oberhalb zweier Fenster gleich links neben dem Eingang? Überhaupt, das ganze Haus war voller Fenster, in wilder Anordnung und von unterschiedlicher Grösse, und die Fensterläden hatten ein vergilbtes Grün. Wie viele Augenpaare beobachteten sie?
«Meinhard, komm zurück», hatte sie zögernd gerufen. Stattdessen hatte er die Klinke gedrückt. Doch nichts geschah. Erst als er sich mit der Schulter und seinem ganzen Gewicht gegen die Tür lehnte, schob sie sich mit einem knarrenden Geräusch zurück. Die nur einen Spaltbreit geöffnete Tür erschien Angelina wie das schwarze Loch eines Höhleneingangs. Während sie den Atem anhielt, schob sich Meinhard durch die schmale Öffnung und mit einem dumpfen Knall fiel die Türe zurück ins Schloss.
Angelina erinnerte sich, wie sich damals über ihre Panik eine Wut geschoben hatte, die stärker als jegliche Angst gewesen war. Meinhard hatte sich alleine vorgewagt und sie einfach zurückgelassen. Mit schnellen Schritten war sie den Weg hinaufgestürmt und hatte mit den Fäusten gegen die Tür gehämmert. Zu zweit würden sie es dem Buckligen schon zeigen. Sie war Meinhard in das düstere Innere gefolgt. Drinnen war von der Sommerhitze nichts zu spüren. Das dicke Mauerwerk und der Fussboden aus grob behauenen Steinen speicherten eine solche Kühle, dass Angelina augenblicklich spürte, wie die Kälte ihre Beine hoch kroch und auf ihren nackten Armen Gänsehaut entstehen liess. Eine Holztreppe mit durchgetretenen Stiegen führte steil in die Höhe. Stumm blickte Angelina ihren Bruder an. In Meinhards Augen nahm sie ein Blitzen wahr. War es Schalk? Unverfrorenheit? Oder Angst vor dem eigenen Mut? Sie hörten das Öffnen einer Türe, welche über den Boden schleifte, und schlurfende Schritte auf dem Korridor. Ein alter Mann stützte sich mit der linken Hand aufs Geländer, mit der rechten auf einen Stock und blickte zu ihnen hinunter. Er lächelte. Dann winkte er ihnen zu, als wolle er sie einladen. Meinhard wich einen Schritt zurück. Angelina zögerte. Dies war weder der Bucklige noch der schwarze Mann, welcher bunte Bonbons anbot und vor dem die Erwachsenen sie immer warnten. Somit nahm Angelina all ihren Mut zusammen und Schritt für Schritt stieg sie die knarrenden und ächzenden Stufen hoch. Meinhard folgte ihr auf den Fersen.
Wenig später sassen sie am Stubentisch auf der Vorderkante von zwei mit weinrotem Samt bezogenen Stühlen. Der weiche Stoff war in der Mitte so abgerieben, dass nur noch ein helles, braunes Gewebe übrig geblieben war. Mit zitternden Händen schenkte der Mann Zitronensirup und Wasser in Gläser ein.
Als Hausierer sei er durch die Gegend gezogen schon in jungen Jahren, durchs Appenzellerland und Rheintal, bis ins Vorarlbergische. Herumgekommen sei er. Nicht einfach sei es damals gewesen während dem Krieg. Die Männer seien eingezogen worden, Generalmobilmachung. Nur ihn mit seinem lahmen Bein hätten sie nicht gewollt. «Gerne hätte ich fürs Vaterland gekämpft. Wäre einer von ihnen gewesen und hätte den Tisch und das Lager mit Kameraden geteilt.» Doch stattdessen sei er von Hof zu Hof gezogen. Etwas anderes sei ihm nicht geblieben. Irgendwie habe er seinen Unterhalt verdienen müssen. Gehandelt habe er mit gestärkten Tüchern, Seifen und Bürsten. «Damals gab es noch Rosshaarbürsten. So etwas gibt es heute gar nicht mehr. Wollt ihr noch Sirup?»
Meinhard blickte auf die Uhr, welche er zur Kommunion geschenkt erhalten hatte. Er kannte bereits die Zeit und unter dem Tisch stiess er mit seinem Fuss gegen Angelinas Schienbein. «Nein, wir müssen nach Hause», sagte Meinhard. Gerne hätte Angelina den Alten noch gefragt, wie lange er hier schon wohne und ob er keine Angst vor dem Buckligen habe. Doch Meinhard war bereits aufgestanden.
«Kommt bald wieder, das Treppensteigen ist nichts mehr für mich. Da freue ich mich über jeden Besuch.»
Angelina erinnerte sich, wie er ihr beim Abschied fest die Hand gedrückt und in die Augen geschaut hatte. Seine Augen hatten getränt. Lange Zeit hatte sie geglaubt, er habe beim Abschied geweint. Erst später hatte sie begriffen, dass alten Menschen die Augen tränten, ohne dass sie weinten. Der Mann musste ungefähr so alt gewesen sein wie Vater heute. Sie hatte ihn nie mehr besucht. War es die Kälte im Haus gewesen, der Geruch von Feuchtigkeit in der Wohnung oder weil sie immer noch Angst vor dem Buckligen hatte?
Das musste fast dreissig Jahre her sein. Heute war ein sonniger Tag wie damals. Das Haus hatte sich nicht verändert. Die Fensterläden hatten immer noch dieses gelbliche Grün und weder die Schindeln des oberen Stockwerks waren ersetzt noch das Mauerwerk neu verputzt worden. Besser so, dachte Angelina, und blickte zur hölzernen Tür. Ob sie wohl hineingehen sollte? Neben dem Eingang zwischen Fenster und Tür stand eine Bank. Das hatte sich verändert. Auf dieser Bank sass eine Frau, die Augen geschlossen und das Gesicht der Sonne zugewandt. Und während Angelina den Weg hochging, dachte sie unweigerlich an Mutter.
«Frau Bertoni?»
Die Frau öffnete die Augen und blickte Angelina an, welche keine drei Schritte von ihr entfernt stand. Sie hatte die Augen zusammengekniffen, doch plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. «Die Tochter der Margaret?»
Angelina lächelte und setzte sich neben die alte Frau. Die Freundin ihrer Mutter hatte sie wieder erkannt. Nach all den Jahren.
«Du bist’s. Angelina, der kleine Engel.»
«Ob ich immer so ein Engel war?»
«Aber ja doch. Margaret hatte dich in ihren letzten Jahren so vermisst.»
«Und ihre Kinder, Frau Bertoni, wie geht’s denen?»
«Sag mir einfach Rosa.»
«Rosa. Wie hiessen deine beiden Söhne, Mario und Stefano? Mario ist glaube ich so alt wie Meinhard.»
«Drei, drei Söhne. Der älteste war Giacomo. Er war viel älter als ihr alle, deshalb erinnerst du dich vielleicht nicht.»
«Giacomo?»
«Er hatte es nicht leicht. Er war krank.»
Angelina fiel auf, wie stark ihr italienischer Akzent immer noch zu hören war.
«Ist er tot?» Angelina biss sich auf die Lippen. Die Worte waren herausgesprudelt, ohne dass sie überlegt hatte.
«Ja, Gott habe ihn selig. Es waren schwierige Zeiten für uns alle. Er ist gerne mit dem Mofa herumgefahren. Das machte ihn glücklich. Das war das Einzige, was wir ihm geben konnten. Wir hatten nicht viel damals. Giacomo war zwei, als wir geheiratet haben. Und im Jahr darauf ist Giuseppe zum Arbeiten in die Schweiz gegangen. Es hat Jahre gedauert, bis er uns nachholen durfte. Mario und Stefano sind hier geboren, in Svizzera.»
«Und jetzt wohnst du hier in diesem Haus?»
«Nicht mehr lange.»
«Wird es abgerissen?»
«Nein, das untersteht dem Heimatschutz. Im Gegensatz zu uns Tschinggen. Wohin soll ich nun mit meinem bisschen Rente?» Rosas Stimme hatte einen verzweifelten Unterton.
«Du musst ausziehen?»
«Das Haus wird zu einem Quartierzentrum.»
«Hier?»
«Die Renovation kostet vier Millionen.»
«Vier Millionen?»
«Ma sì, in Svizzera sono ricchi. Aber sag’, was machst du hier? Besuchst du deinen Vater?»
«Ja. Und irgendwie wollte ich wissen, ob dieses Haus noch steht.»
«Es ist ein besonderes Haus.»
«Das ist es. Als Kind ist es mir immer sehr unheimlich erschienen.»
«Es hat auch etwas Dunkles. Und es hielt vielem stand.»
«Ich wusste nicht, dass … Giacomo dein Sohn ist, entschuldige, dein Sohn war.»
«Er ist immer noch mein Sohn und das wird er für immer bleiben. Giuseppe war nach der Geburt sehr schockiert. Der Kleine war so verkrümmt. Weisst du, wir sind doch alle sehr verschieden. Und ein Kind ist ein Geschenk, jedes Kind. Wie hätte ich ihn nicht lieben können, nur weil seine Beine krumm waren?»
«Als Kind hatte ich Angst vor Giacomo. Er konnte nicht so gut reden, nicht wahr?»
«Viele hatten Angst vor ihm, dabei war er so gerne bei Menschen.»
«Und Giuseppe?»
«Er hat ihn auch geliebt. Aber es fiel ihm schwer, zu seinem Sohn zu stehen. Bei den andern beiden hatte er es einfacher. Auf die konnte er stolz sein, wenn ihre Mannschaft im Fussball gewann.»
Und plötzlich begriff Angelina, warum ihre Mutter Rosa immer so geschätzt hatte. «Ja, das Offensichtliche wird meistens mehr anerkannt als das Verborgene.»
Angelina nahm sich bei der Verabschiedung fest vor, Rosa bald wieder zu besuchen.

 

Lungenentzündung

Vater wirkte müde, als er die Türe öffnete. Als er Angelina die Hand gab, fühlte sich diese kalt und schlaff an. Ein kehliger Husten schüttelte ihn. Er schlurfte den Korridor nach vorne, nahm eine Strickjacke von der Stuhllehne und zog sie an.
«Frierst du?» fragte Angelina. Der Wetterbericht hatte 28 Grad vorhergesagt. Angelina schätzte, dass es in der Wohnung mindestens 25 Grad hatte.
Ohne zu antworten setzte sich der Vater an den Tisch. Seine Augen wirkten glasig und eine Träne löste sich im rechten Augenwinkel.
Angelina dachte an den alten Mann in der Mühle. Sie hatten den Eltern damals nicht erzählt, dass sie einfach in ein fremdes Haus gegangen waren. Und schon gar nicht, dass sie in der Wohnung eines Unbekannten gewesen waren.
«Ich war in der Kräzernstrasse, um zu schauen, ob die alte Mühle noch steht.»
Vater schreckte auf, als ob er erst jetzt gewahr wurde, dass er nicht alleine war. «Die Papiermühle?»
«War es eine Papiermühle?»
«Ja, die wurde 1604 gebaut. Später war es eine Kartonfabrik.»
Woher Vater das wusste? Dann fiel Angelina ein, dass Vater sich schon immer für Historisches interessiert hatte. Hätte er nicht gerne Geschichte studiert? Aber Grossvater war der Meinung gewesen, dass er einen Hof übernehmen sollte. Mit Arbeit und Fleiss war alles zu erreichen, da brauchte es kein Studium.
Angelina hatte keine Erinnerung an Grossvater als alten Mann. Sie hatten den Vater von Vater selten besucht. Und eines Tages war er nicht mehr da gewesen. Ab dann gab es nur noch den Grabstein auf dem Friedhof mit seinem Namen.
Sie dachte an Rosa. Einsam war sie ihr erschienen und trotzdem nicht traurig.
«Ich habe Rosa getroffen vor der Mühle. Sie wohnt dort.»
«Rosa?»
«Rosa Bertoni. Mutters Freundin.»
«Ah, die.»
«Magst du sie nicht?»
«Doch, doch. Ich habe ihr damals Mutters Sachen gegeben.»
«Mutters Sachen? Welche Sachen?»
«Sie hat den Schrank geräumt. Was sollte ich mit all den Kleidern.»
Rosa lief in Mutters Kleidern rum? «Sonst noch was?»
«Von euch hat sich damals ja niemand interessiert. Beerdigung und am nächsten Tag warst du weg.»
«Aber Mutters Sachen.»
«Was sollte ich mit ihnen.»
Angelina stand auf, ging in die Küche und öffnete den Schrank. «Möchtest du auch ein Glas Wasser? Oder soll ich dir einen Tee machen?»
«Es hat Orangensaft. Der ist gesund. Steht unter dem Küchentisch.»
Angelina nahm zwei Gläser, die Flasche mit dem Saft und stellte alles auf den Tisch. Dann holte sie einen Krug und füllte ihn mit Wasser. «Saft oder Wasser?»
«Orangensaft ist gut.»
Angelina schenkte Saft ein, trank einen Schluck und stellte ihr Glas sorgfältig auf den Tisch zurück. «Wie geht es dir?»
Vater schaute auf, sagte aber nichts.
«Du siehst müde aus.»
«Der Hausarzt meinte, ich solle ins Spital.»
«Und?»


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 184–189.

Erstpublikation: Anita Obendrauf: Sonntagsgeschirr, hin und wieder. Daktyloskript 2015, red. 2016. S. 27–31.