Literaturland


Fanny Rohner

O du mein Heimatland!

1914

Auf der Grenzwacht (im Jura)
(Weihnachten 1914)

Des Winters kalter Hauch auf Berg und Tal;
Doch wunderbar die fernen Firnen glänzen.
Ich grüsse dich, du hehrer Alpenkranz,
Dieweil ich wache an des Landes Grenzen.

Zu Füssen mir dehnt sich der Tannenwald,
So ruhevoll, so schön in Winterstille;
Doch ach! Von drüben beben durch die Luft
Des Krieges Schreckenstöne, schaurig, schrille.

Dort, wo Kanonendonner grimmig dröhnt,
Dort liegen Mensch und Mensch in wildem Streite,
Dort sinnt ein jedes Volk auf blut’gen Plan,
Wie es dem andern Untergang bereite.

Und nicht nur Menschenrache, Menschenzwist,
Sogar der Hölle Mächte eifrig schüren
Den grausen, jammervollen Länderbrand;
Die Lüge selbst will dreist den Feldzug führen.

Horch! Jetzt beginnt’s zu klingen ringsumher,
Dieweil das Sonnengold erstirbt im Westen.
Christabendglocken laden feierlich
Die Menschen zu den Weihnachtsfesten.

Sie läuten ihn, den alten frohen Gruss:
«Ehre sei Gott und Friede sei auf Erden!»
Ein tiefer Schmerz und heisses Hoffen zuckt
Zugleich durchs Herz mir: Wann wird Friede werden?

[…]


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben
von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 74.

Erstpublikation: Fanny Rohner: O du mein Heimatland! Zeitgedichte 1913–1915. Herisau: W. Schiess & Zwicki, 1915. S. 15–16.