Literaturland


Walter Rotach

Ist’s bei uns wirklich so schön?

1927

Ein Sehnen nach der weiten Ferne, eine ungezügelte Reiselust lockt mich und raunt mir zu: In Paris bist du noch nie gewesen; Neapel wartet schon lange auf dich; ach, dass du einmal Ägyptens Wunder und Indiens Pracht schauen könntest! Und nun – wer hätte das gedacht! – kommt einer, der die ganze Welt gesehen hat, und spricht: Sachte, du Appenzellermannli, sieh, ich will dir den Star stechen. Merkst du wirklich nicht, dass du ja Tag für Tag mitten drin stehst im Schönsten, was die Erde bietet?

Es ist Norbert Jacques, der sich als feinsinniger Reiseschriftsteller einen Namen gemacht hat. Er plaudert in einem hübschen Wanderbüchlein, betitelt: Am Bodensee, von besonders schönen Aussichtspunkten, die in den Reisehandbüchern mit einem Sternchen ausgezeichnet sind, und behauptet dann, drei Aussichten in der Schweiz zu kennen, die diese Ehre nicht geniessen, ja im Baedecker nicht einmal erwähnt sind und die er nun einmal öffentlich preisen wolle. Und nun erzählt er:

«Ich bin über die schwarzen Berge geritten. Ich habe auf einem Hausboot die Schluchten des oberen Jangtsekiangtals besiegt und den Tibet gesehen. Ich kenne Rio de Janeiro, Hongkong und Sidney, die drei schönsten Städte der Erde. Ich war in der Serra do Mar in Brasilien, bin in Peru die Oroyabahn hinaufgefahren und habe die Anden unter dem Aconcagua durchquert. Im Innern von Sumatra habe ich das Tobameer gesehen. Meine drei schweizerischen Aussichten haben Teil an dieser Weltengrösse.»

Und dann schildert er als erste Aussicht die Stelle, wo der Zug von Bern nach Genf den Blick auf den Genfersee eröffnet. Als dritte und schönste Aussicht nennt er einen Punkt der Mittelthurgaubahn. Aber wo soll denn die zweite Stelle sein? Pass auf, Appenzeller, mit deiner in die Ferne schweifenden Begierde!

«Die zweite Stelle», so steht’s zu lesen, «liegt an der Bodensee-Toggenburgbahn. Hinter Herisau. Aus dem auf der Höhe fahrenden Zug übersieht man eine hochgebaute Weite. Berglinie um Berglinie schmilzt dahin, eine hinter die andere gestaffelt, in einer süssen, wohligen Regelmässigkeit, wie von einer göttlichen Pflugschar aus dem Mittelgebirge aufgefurcht. Wälder versinken dazwischen wie dunkle Sagen. Dörfer leuchten. Eine grosse Stadt bettet sich reich und hell hinein. Seidig gespannte Weite hält die Welt westwärts offen ins Unendliche hinein. Es ist ein Ozean des Erdbodens, der unter einem Sonnensturm mild auf einmal seine Bewegung anhält und Woge um Woge erblauend starr stehen lässt.»

Ich musste mir an den Kopf greifen. Solche Wunder sollten vor unsern Augen, daheim, ausgebreitet liegen? Dann bin ich hingegangen, um mir dieses Stück Erdenschönheit anzusehen. Und ich habe mich geschämt, dass ein Ausländer mir zuerst die Nase hat daraufstossen müssen, bis ich dessen besonderen Reiz erkannte.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 30–31.

Erstpublikation: Walter Rotach: Ist’s bei uns wirklich so schön? In: Heimatbuch für junge Appenzeller. Zusammengestellt von Walter Rotach, hrsg. von der Landesschulkommission von Appenzell A. Rh. Herisau: Schläpfer, 1927. S. 79–80.