Literaturland


Eugen Roth

Hans-Uelis Jugendjahre

1939

Die Nacherzählung von Kindheitserlebnissen verweist zurück in Jahrzehnte, da es «weder Fahrräder noch Autos» gab, kein «Telephon noch Radio» und wo Fuhrwerke die Landstrassen beherrschten, Mühlen an jedem Bachlauf in Betrieb standen.

Einmal an einer solchen Chilbi kaufte der Vater ein Kälblein, das erst einige Tage alt war. Nach etwa drei Wochen holte er dasselbe. Zur grossen Freude des Hans-Ueli durfte er mitgehen. Die Mutter gab noch die Sturmlaterne mit für den Fall, dass es etwa am Abend dunkel werde. Der Weg war weit und ging durch einen langen, finsteren Wald. Das Kalb aber wollte nicht mit seinem neuen Meister gehen, und so hatte der Vater alle Mühe, das Tier weiterzubringen. Alle Augenblicke musste er auf das störrische Tier warten, bis es ihm gefiel weiterzugehen. So war es schon Nacht, ehe der grosse Wald erreicht wurde. Als sie ein kleines Stück in demselben waren, lag das müde Tier ab, weil es wohl den Gedanken hatte, die Nacht sei zum Schlafen da. Der Vater wollte das Tier nicht extra drängen und wartete geduldig, bis plötzlich die Laterne auslöschte. Das war nun eine ganz böse Geschichte. Der Hans-Ueli musste mit der leeren Laterne nach Hause, um sie mit Petroleum zu füllen. Es war für den gut sechsjährigen Jungen keine Kleinigkeit, allein in dunkler Nacht, auf unbekanntem Wege, durch den langen Wald zu gehen, aber was blieb übrig. So stapfte er, während sein Vater bei dem Kalbe Wache hielt, tapfer durch den Wald, stolperte da und dort über eine Wurzel, jedesmal mit der grossen Angst, er könnte die Laterne zerschlagen. Dann heulten die Nachtvögel und die Füchse. Er hörte die Tiere davonfliehen und sein Herz schlug bis zum Hals hinauf. Mit innerer Freude aber dachte er daran, wie schön der Rückweg sei, mit der brennenden Laterne. Aber o weh, als er gegen Mitternacht zur Mutter kam, allein, und ihr alles erzählt hatte und die Laterne gefüllt wurde, stellte es sich heraus, dass nicht mehr genug Petroleum vorhanden war. Mit nur halbgefüllter Lampe musste der Hans-Ueli wieder im Dunkeln durch den Wald zurück. Das war wohl das erstemal, dass er gelernt hatte, den Weg betend zu gehen, denn bei dem immerwährenden Geheul der Nachtvögel und der Tiere und dem Rauschen des Waldes war es ihm ganz unheimlich zumute. Der Empfang beim Vater war auch kein freundlicher, weil er ja viel länger hatte warten müssen. Die Hauptsache war aber, dass der Vater, Kalb und Hans-Ueli dann doch noch gut nach Hause kamen.

Am anderen Tag aber wurde er zum Krämer nach dem Hagen geschickt, um die nötige Petrol-Reserve zu holen. Dieser Krämer auf dem Hagen und seine Frau waren gute Leute. Den Hannes und seine Kinder mochten sie besonders gut leiden, will sie immer so höflich und anständig waren. Einmal musste der Hans-Ueli mit seinem jüngeren Bruder Paul, der noch ein kleiner Kerl war, dort Brote holen, und erlebte dabei ein ganz arges Missgeschick. Mit dem letzten Gelde, das die Mutter besass, sollte er drei Fünfpfünder holen, und zwar in einer Kränze, statt wie er es sonst gewohnt war, in einem Rucksack. Es waren aber keine Rucksäcke, wie man sie heute besitzt. Es waren Säcke von ganz gewöhnlichem, farbigem Baumwollstoff, viereckige Stücke Stoff einfach zusammengenäht, und oben mit einer Schnur im Saum, zum Durchziehen. Hätte der Hans-Ueli diesen Sack bei sich gehabt, so wäre ihm nichts passiert. Aber derselbe war zu klein für die drei Fünfpfünder-Brote. Der Weg vom Hagen geht teilweise an einer langen, steilen Wiesenhalde vorbei. Oben, etwa dreihundert Meter, ist Weideland und unten ist ein langer Wald, der wohl mehr als hundert Meter weit hinuntergeht. Der Hans-Ueli führte den kleinen Bruder an der Hand. Auf einmal stolperte er über einen Stein und die Brote leerten aus, flogen in grossen Sätzen über die Weise hinunter und verschwanden im Walde. Wie versteinert schaute der Hans-Ueli den Broten nach, wie sie Sätze nahmen, und der Schrecken fuhr in seine Glieder. Was war zu machen? Er liess den kleinen Bruder stehen und rannte den Broten nach, aber alles Suchen war vergeblich; von den Broten war keine Spur zu entdecken. In seinem Schrecken eilte er heim zur Mutter, um zu beichten. Auch sie kam nun um zu suchen, aber die Brote liessen sich nicht mehr finden. Als der Vater es erfuhr, suchte auch er, und obwohl er dem Hans-Ueli noch den Riemen fühlen liess, waren die Brote dahin. Dem Hans-Ueli war das Schrecklichste an der Sache, dass seine liebe Mutter für die Brote das letzte Geld ausgegeben hatte. Der Vater ging nun selber zu dem Bäcker und erzählte die Geschichte, worauf er die drei Brote gratis bekam. Der Hans-Ueli aber hat später nie mehr in einer Kränze Brot geholt.

So hatten sich die mancherlei Träume und Luftschlösser im Hagentobel nicht erfüllt. Wohl gab es immer genug Milch, Butter, Eier und Holz, aber mit den fetten Schweinen und den saftigen Schinken im Kamin, wie die Kinder sich es träumten, ist es nichts geworden. Waren die Schweine fett und dick, dass man sie schlachten konnte, musste der Vater sie verkaufen, damit er für Nötigeres Geld bekam. Besonders die Schuhe waren für so eine grosse Familie ein gar teurer Artikel. Der Vater hielt sehr darauf, dass die ganze Familie immer gutes Schuhwerk hatte. Es brauchten keine feinen und modernen Schuhe sein, aber gute Sohlen mussten sie haben. Die Nägel schlug er selbst hinein. Nie durften sie getragen werden, bevor er sie eine Woche lang mit Leinöl behandelt hatte. Das war für die Kinder sehr wertvoll, aber trotzdem hätten sie ganz gerne einmal Schinken gegessen.

Einmal wäre dies ihnen beinahe geglückt, aber die Sache ging wieder am Mund vorbei. Der Vater hatte in Altstätten drei nette Glücks-Schweinchen gekauft, als sie noch ganz klein waren. Sie mussten zuerst mit der Milchflasche gefüttert werden. Er trug sie alle in einer Kränze nach Hause. Jenes Mal hofften die Kinder bestimmt, wenigstens eines der drei Schweinchen selbst vertilgen zu können. Aber als sie bald fett genug waren, kam wieder die chronische ‹Fünflibertröchni›. Ein Bäckermeister im Hauptorte, wo sie früher wohnten, bot einen guten Preis. Doch er wollte alle drei Schweine haben.

An einem Dezembermorgen, es hatte über Nacht etwas geschneit und feine Flocken fielen immer noch vom Himmel, sagte der Vater: «So Hans-Ueli, du chascht mit-mer uf Troge, mer wend am Ruckstuel d’Saue bringe.» Natürlich konnte man sie nicht mehr in der ‹Chränze› tragen, sie mussten auf der Strasse getrieben werden. Diesmal aber bestimmten das Tempo die Schweine und die schnüffelten zu gerne in jedem Strassengraben herum. Bis zum Hagen war der Weg steil und schmal, und die Tiere mussten ganz behutsam getrieben werden. Bis zum halben Wege ging auch alles ganz gut. Auf der schönen breiten Landstrasse aber glaubten die Viecher, dass dieselbe immer im Zickzack gemessen werden müsse. Feiner, leichter Polarschnee fiel gleichmässig herab, aber auch die Kälte nahm überhand. So wurden die Schweine unwillig und der Vater und Hans-Ueli nicht weniger. Letzterer musste vorausgehen und immer rufen: «Chom Hess, Hess, chom Hess, Hess»; aber leider hatte der Lockruf nicht die erhoffte Wirkung. Der Vater wollte, dass er den Tieren immer die Hand entgegenstrecken sollte, als wollte er ihnen etwas zu fressen geben. Weil er aber weder Bohnen noch Eicheln noch irgend eine andere Schweineleckerei geben konnte, wurden die Schweine den Schwindel bald gewahr und gaben wenig auf die entgegengestreckte Hand. So lag es dann wieder beim Vater, dieselben anzutreiben; sie aber wollten gar nicht verstehen, dass die Sache so eilig sei. Der Schnee wurde immer höher und das Gehen immer schwieriger, und die Atmosphäre war eine sehr gespannte. Dem Hans-Ueli waren Ohren und Finger gefroren, und es stach ihn ganz empfindlich an der Nase. Abwechselnd steckte er seine Hände in den Hosensack, und der Vater zog seine lange Zipfelkappe tief über die Ohren. Das ‹chom Hess, Hess› klang nach und nach ganz kläglich, und die Schweine hatten wohl selbst bald Erbarmen mit dem Hans-Ueli, denn auf einmal kamen sie in ein schnelleres Tempo. Hans-Ueli war glücklich, als das Dorf in Sicht kam und auch der Vater atmete auf. Nach fünf Stunden langten sie am Bestimmungsorte an. Der Bäcker Ruckstuhl war mit den Tieren zufrieden. Er gab dem Vater über den abgemachten Preis hinaus und der Hans-Ueli bekam noch einen Franken Treiberlohn. Dies entschädigte ihn hinlänglich für seine steifgefrorenen Finger und Ohren. Die Frau spendete dann ein gutes Mittagessen und packte noch allerlei gute Sachen ein für die Mutter und die Kinder.

Zufrieden traten sie den Heimweg an; es ging an der alten Heimat vorbei. Mit wehen Gefühlen schaute Hans-Ueli zum Häuschen hinüber. Bei der Wirtschaft ‹zur Linde› kehrten sie ein. Der Vater wollte sich erkundigen, was sich in der Nähe des Häuschens alles zugetragen hätte. Natürlich musste er auch etwas trinken. So bestellte er einen halben Liter Wein. Auch der Hans-Ueli bekam etwas davon. Der Vater meinte, es wäre gut für den kalten Heimweg, wenn er etwas erwärmt würde. Er entschloss sich dann, noch den früheren Nachbarn Egger zu besuchen. Gegenüber der Linde hatte der eine kleine Stickerei. Das Lokal war zur ebenen Erde, einige Tritte abwärts. Dort musste man zwischen zwei Maschinen durch, deren Rohre etwa einen Meter auseinander waren. Hans-Ueli spürte, dass er wohl ein wenig das Gleichgewicht verloren hatte. Er zielte so gut es ging, zwischen den Maschinen durchzukommen. Aber bei dem einen Schritt schlug er den Kopf auf der einen Seite an die eiserne Röhre und beim nächsten Schritt auf der anderen Seite. Bis er glücklich auf der andern Seite angelangt war, hatte er den Kopf voller Beulen. Dies waren seine ersten Belehrungen über die Alkoholfrage. Wohl hatte er früher hie und da einen gesehen, der ‹angestochen› war, oder wie man sagt, die ‹Beine verwechselt› hatte, und sich darüber lustig gemacht. Nun aber merkte er selber, wie schwierig das ist, wenn man nicht mehr weiss, mit welchem Bein man zuerst gehen soll. Sobald er aber an der frischen, kalten Winterluft draussen war und nicht mehr zu zielen brauchte, stapfte er ganz munter neben dem Vater her, und der Wein tat auch seine gute Wirkung. Lustig und froh hatten sie beide das Hagentobel erreicht. Ausser seiner Mutter hat niemand etwas erfahren von seinen Beulen. Von ihr wusste er, dass sie es nicht ausschwatzen würde. […]

Noch etwa ein Jahr ging dann die Arbeit im Hagentobel im alten Geleise weiter. Es wurde Holz gefällt und auf den Berg getragen. Eine mühevolle Arbeit über alle Kräfte des Hannes und seiner Kinder. Einmal lag der Hans-Ueli lange Zeit unter einer schweren Last Holz begraben, weil er über eine Wurzel gestolpert war und nicht mehr aufzustehen vermochte. Dort betete er, Gott möge ihn doch jetzt sterben lassen. Die tägliche Arbeit des Holztragens ging über seine Kraft, dabei die Unzufriedenheit des Vaters und die nie endenden Sorgen der Mutter, die noch mehr als alles andere sein Herz bedrückten, liessen ihn am Leben verzweifeln. Der Vater fand ihn dann unter der Last Holz begraben am Boden liegen. Da er auch verletzt war, ging es ohne Strafe ab, und er durfte für diesmal zu seiner Mutter nach Hause gehen.

Um so mehr aber hat sich der Vater aufgeladen, bis vor Überanstrengung und von den zu schweren Lasten auch seine grosse Kraft gebrochen war. Damit aber hatte endlich auch er genug. Es gab keine andere Lösung mehr, als dem Herrn Zöpfli zu erklären, dass es nicht mehr so weiter gehen könne. Was dann noch alles passierte und die Eltern mit ihm erlebten, gäbe eine ganz unrühmliche Geschichte. Der Vater aber war für immer geheilt von Viehzucht und Älplerleben, besonders aber vom Menschenvertrauen. Wie glücklich war er nun, in sein altes Häuschen am sonnigen Rain einziehen zu können.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 171–174.

Erstpublikation: Eugen Roth: Hans-Uelis Jugendjahre. Eine wahre Appenzellergeschichte für jung und alt. Mit Zeichnungen von Eugen Verling. St. Gallen: Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft St. Gallen, 1939. S. 40–48.