Literaturland
Eva Roth
Blanko
Der Roman berichtet langhin über eine Mutter-Tochter-Geschichte, die Zeittranchen wechseln, sind montiert wie Gesteinsschichten in unseren Alpen. Dann begibt sich die Tochter auf Vatersuche, die Richtung weist auf Schwarzafrika.
1998
Obere Meeresmolasse
Morgen war Samstag, die Mutter würde arbeiten, und gleich nach dem Aufstehen würde Ayleen die Zündholzschachtel aus der Schublade unter ihrem Kindertisch nehmen: Sie hatte Watte aus der Packung im Bad gezupft und den Bergkristall darauf gebettet, sie würde ihn zu Ruth und Rolf mitnehmen und ihnen zeigen, dass sie darauf aufpassen konnte; sie wusste bereits, was ein Quarz war, schön sah er aus, wie er in der Schachtel lag, ihr Schatz.
1994
Untere Süsswassermolasse
Silvia hatte gemeint, Eveline würde immer da sein.
Der Schaukelsitz mit Ayleen flog von ihr weg und wieder zu ihr hin. Sobald er langsamer wurde, wandte sich die Kleine um und rief: «Mehr!» Dann schubste Silvia wieder an. Ausser ihnen war nur noch eine Oma mit Kopftuch und deren Enkel, der gerade seine ersten Schritte machte, auf dem Spielplatz an der Bleicherwiese.
Eveline hatte es versprochen. Eveline, ihre einzige Freundin, ihre Arbeitskollegin, ihre Gefährtin, die sie – ohne je darüber gesprochen zu haben – durch das Leben lotste, in dem Silvia nur zur Hälfte existierte.
«Ich werde immer für dich und das Kind da sein, wenn du mich brauchst», hatte Eveline zu Silvia gesagt, als diese von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte, «ist doch schön, ein Kind, jetzt müssen wir Frauen zusammenhalten. Wer Liebe macht, geht ein Risiko ein, das ist die Biologie, hundertprozentige Sicherheit kannst du vergessen, die gibt es nirgends.»
Sie hatte Silvia auf den Bauch getippt und gelacht:
«Ohne Vater ist es sowieso lustiger. Du bist freier!»
Silvia stellte sich neben die Schaukel und betrachtete, wie ihre Tochter hin und her flog.
«Man muss das Leben packen, aus dem Vollen schöpfen, nicht zaudern», war Evelines Grundsatz, «wenn ein Kind kommt, soll es so sein, Kinder kommen nie passend, sie suchen sich ihre Zeit selbst aus, sie suchen sich ihre Eltern aus.»
Silvia schubste wieder an.
Vor.
«Wenn es sein soll, soll es sein», hatte Eveline beharrt.
Und zurück.
Silvia hatte genickt.
Sie hatte sich vorgestellt, ihre Freundin würde immer da sein.
In der ersten Zeit nach der Geburt hatte Eveline Silvia und Ayleen fast täglich besucht und bei der Suche nach einem Krippenplatz geholfen. Sobald sie das Baby sah, gurrte und schäkerte sie, hob es auf und erklärte ihm in hoher Tonlage die Welt. Nach einigen Wochen hatte Silvia ihre Arbeit bei Fleischwaren Müller wieder aufgenommen, und Eveline stimmte ihre Arbeitstage mit Silvia ab, damit an den Samstagen immer eine von beiden für Ayleen da sein konnte.
An Frühlingssonntagen waren die zwei jungen Frauen trotzig und stolz auf einer Parkbank am Seeufer gesessen, das Baby mal in Silvias Armen, mal an Evelines Schulter. Eveline hatte ihren Spass dabei gehabt, die Blicke der Leute in Worte zu fassen, als ob Sprechblasen über ihnen schwebten:
«Zu welcher gehört denn nun das Kleine, das keiner gleicht?» «Ob die zwei wohl lesbisch sind, so, wie die sich drapieren?» «Sieht aus wie ein Familienbild, nur mit zwei Frauen halt.» «Und das Kleine ist dunkel, Milchkaffeezimtcaramel, mit grossen schwarzen Kirschaugen!» «Wo ist denn da der Mann am Sonntagnachmittag, wo, wo, wo?» «Wo, wo, wo, wo!» «Pfui jetzt, Bello!» «Scharfe junge Mütter!» «Lassen sich mit einem Südländer ein, der sich nicht kümmert, und dann?» «Schleppen das arme Kind überallhin mit!» «Und wer bezahlt das alles?» «Sind das nicht die Wurstverkäuferinnen? Die mit der besten Terrine bei Fleischwaren Müller?»
Eveline hatte herausfordernd geblickt, sie hatten sich bescheinen lassen und gelacht, zwischendurch hatte Ayleen ein Fläschchen oder eine frische Windel bekommen, einen Fingervers oder ein Lied, vor ihnen waren die Leute auf und ab spaziert.
Als der Sommer kam, hatte Eveline öfter keine Zeit mehr gehabt. Sie hatte Benno kennengelernt, und in den nächsten Monaten waren die beiden diagonal zu Silvias Zeit durch die Stadt getrudelt. Manchmal hatte Silvia sich vorgestellt, wie die zwei Verliebten in Evelines stickiger Dachwohnung in verdrehten Laken lagen, in Nestern, wie auf ihrem Gasherd nachts um drei Spiegeleier brutzelten, denn davon hatte Eveline mit glänzenden Wangen erzählt, und wie sich das Fenster rosa verfärbte, wenn sie endlich einschliefen, das Flöten der Morgenvögel im Ohr. An lauen Abenden hatte sich Silvia mit ihrem Kind zu ihnen gesellt, zum Picknick am Fluss, doch alle hatten nach diesen gemeinsamen Kurzzeitzonen rasch wieder Einstieg in das Leben genommen, das nach ihnen verlangte: Das Schaumbad nach Eveline und Benno, das Kind nach Silvia, nach Fürsorge, nach dem Schlaf, den seine Mutter hütete.
Ayleen war gewachsen, hatte sitzen, essen, laufen gelernt.
Manchmal hatte Eveline Silvias Baby ausgeliehen und mit Benno Vatermutterkind gespielt. Wie einige Monate zuvor mit Silvia, sass sie nun mit Benno auf der Parkbank, fischte die Gedanken der Leute aus der Sommerluft und unterhielt sich prächtig dabei.
«Mehr», jauchzte Ayleen, als Silvia die Schaukel erneut anstiess.
Vor einem Monat war Maxim zur Welt gekommen, der Sohn von Eveline und Benno.
Silvias Freundin konnte sonntags nicht mehr auf Bänken herumsitzen. Nicht jeden Sonntag. Silvia schaukelte ihre Tochter heute alleine auf dem Spielplatz an der Bleicherwiese: eine Frau und ein Kind, kleine Figuren auf planierter Erde unter einem bewölkten Spätsommerhimmel. […]
1995
Untere Süsswassermolasse
Das Kind war in Weiss gehüllt.
Es steckte in weissen Rüschen mit Lochmustern, die Haare waren zu abstehenden Zöpfen geflochten, Eveline hatte das gemacht, während Maxim den Küchenboden mit Bauklötzen übersät hatte. Silvia sass mit einer Tasse Tee am Tisch, stolz und erfüllt, das Bild ihrer dreijährigen Tochter festhaltend, damit es ihr nicht entgleite, dieses Bild nicht. Das weisse Geburtstagskind strahlte.
Nichts aus der Schatulle hat das Kind berührt, dachte Silvia, Ayleen ist hier, sie ist unangetastet, unverletzt, und ich bin hier, um sie in dieser Reinheit zu bewahren. Sie drückte ihr Mädchen an sich, alles, alles für dieses Kind, die ganze Zukunft, alles Glück.
Die drei Kerzen flackerten.
Was fehlen könnte, war schon lange weit weg, hinter ihr.
Die Vergangenheit war zur Leerstelle geworden.
Da.
War nichts.
Die Geschichte hatte vor drei, vier Jahren begonnen.
1992
Untere Süsswassermolasse
Silvia hielt ihr neugeborenes Kind fürsorglich, sie betrachtete, wie es schlief, wie vollkommen es war, ein Stück Weiss, gänzlich unbeschrieben, es war da, es war neu, ein Stück Nichtwissen.
Nicht wissen, dachte Silvia, nicht einmal ahnen, was in der Juninacht geschah, als das Feuer ausbrach, und in der Augustnacht, als dieser Anruf kam, und wie der Balken in der Tennwand lag, und wie in jenem Januar jemand durch den Schnee stapfte, wie der Atem abgeschnitten wurde vor Kälte – alles vereint, verschlingt, verknäuelt sich in diesem Kind, alles soll es mitschleifen, alles was schon geschehen ist, ein Gewicht, das ihm in die Wiege gelegt werden soll, bevor es selbst –
Nein.
Nie würde Silvia ihr Kind mit Vergangenheit beladen. Sie würde ihre Tochter immer in Weiss lassen, unbeschrieben, im schützenden Nichtwissen.
Ihre Tochter würde selbst –
irgendwann –
dachte Silvia.
Und gib mir die Kraft,
dachte sie.
[…]
Vierte Tiefbohrung
2006
Obere Süsswassermolasse
Eine beschneite Hügellandschaft war Ayleens Bettdecke, eine Schlucht, eine Hochebene. Weisse Bergrücken zogen sich wie die Vorboten des Juras im Mittelland über die Matratze. Ayleen strich mit dem Unterarm eine grosse Arena glatt, rundherum erhoben sich weisse Wülste. Eine weisse Wüste. Dann hob sie zwischen Zeigefinger und Daumen eine winzige Rundhütte aus einer bunt gemusterten Kartonschachtel, sie gab acht, dass die tönernen Wände und das Dach aus Stroh nicht bröselten, und setzte sie an den Rand des Gebirges auf die Ebene.
«Fagmersa: Haus», murmelte sie.
Das Dorf wuchs, Ayleen stellte um drei Häuser herum einen Zaun aus zerbrochenen Streichhölzern auf, die sie dicht auf ein Schürzenband geklebt hatte. Innerhalb des Zauns sprangen zwei Ziegen herum: Fellreste auf Draht.
«Enufagmersa: Bauernhof. Rigule’n: Ziegen. Sieh die Ziegen hinter dem Haus: Gomé rigule’n fag’n fagmersa. Gomé rigule’n fag’n fagmersa. Gomé rigule’n fag’n fagmersa.»
Die Ziegen sprangen im Rhythmus dieses Satzes um die drei Hütten her-
um, Ayleen gab ihrer Stimme einen kehligen Klang, sie gefiel sich damit, und die Sprache mit den vielen Schlucklauten bekam eine Melodie.
Sie verschob zwei Höfe ein wenig, damit der mächtige Affenbrotbaum in der Mitte Platz hatte. Darunter eine braun bemalte Bank aus Altkarton. Dann schichtete Ayleen kleine Ästchen, die sie unter der Thujahecke vor dem Haus gesammelt hatte, zu einer pyramidenförmigen Feuerstelle auf.
Ayleen hatte eine Vatersprache erfunden: Lodemengo. Bis jetzt umfasste sie über siebzig Wörter, einige mit Konjugations- und Mehrzahlformen. Die Lodemengosprache entwickelte sich allabends weiter, wenn Ayleen nicht einschlafen konnte. Das lief immer nach dem gleichen Muster ab: Sie dachte sich einen Ausdruck auf Deutsch und schnappte sich dann das fremde Wort, welches ihr zuerst einfiel. Das erste musste das Richtige sein.
Die Gegenstände aus der Lodemengosprache baute Ayleen in Miniaturgrösse nach, die Schachtel, in der sie aufbewahrt wurden, bemalte sie innen und aussen mit Ornamenten. Kulissen entstanden, ihre Vaterwelt wuchs. Manchmal war Mitternacht vorbei, wenn Ayleen ihrem afrikanischen Schuhschachtel-
universum wieder den Deckel aufsetzte und es im Pult hinter den Matheordnern aus der sechsten und siebten Klasse verstaute.
«Dur a djeg get’anér Lakango. Dua anér Ayleen: Mein Vater heisst Lakango. Ich heisse Ayleen.»
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 162–166.
Erstpublikation: Eva Roth: Blanko. Roman. Zürich: edition 8, 2015. S. 26–29, 34–35, 37–38.