Literaturland


Monika Slamanig

Nowhere is my land

2015

«Das Land, für das es keine Worte gibt. Das ist mein Land.» Monika Slamanig erzählt im Roman Durstland die Geschichte einer Reise durch Südafrika und Namibia.

Der Übergang ist gespenstisch in der Nacht. Schummriges Licht, ein paar Hütten, Männer in Armeeuniformen, Gewehre wie Säuglinge in ihren Armen. Vor einem vergitterten Fenster stauen sich die Buspassagiere. Ein Pitbull von Zöllner, schwarzes Gesicht, Sonnenbrille, ein Kiefer wie Idi Amin, blättert in deinem Pass, betrachtet jede der vollen Seiten, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Blättert vor und zurück, und findet, was er sucht.

Your visa is expired, you can’t leave the country, knurrt er.

It’s only two days, mister, sagst du. Where’s the problem?

Shut up.

Vioolsdrift-Noordoewer. Thou shall not cross the line.

Zutritt nur für Befugte.

Es geht nicht vorwärts, nicht zurück. Keine Berechtigung für kein Land, ausser für das Spielzeugland, aus dem du kommst.

The land where you were born was white, white as cotton, white as the misty desert just after sunrise.

Hier: Der Nebel vom Atlantik her dick wie Watte. Weiss. Die Wüste. Weiss. Du blind.
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Es war eine feierliche Stunde gewesen. Sonnenuntergang über dem Orange River, blutrot, der Fluss silberblau wie eine riesige glitzernde Schlange in einem Scharlachbeerenmeer. Im Bus herrschte einen Moment lang Stille, als hielten alle gleichzeitig den Atem an.

Vorher Party, big time, nachdem die ersten Stunden abgesessen, Abneigungen überwunden, Chipstüten leer geleckt, die ersten Filme über die Bildschirme geflimmert waren. Dann mochte man reden, lachen, Sprüche klopfen, man tauschte die Sitze, reichte Plastikflaschen mit cool drinks und Gin herum, Kaugummi und gebratene Hühnerkeulen, die Stimmen überschlugen sich, man wurde ausgelassen vor Erschöpfung.

One people, one world.

Wir sind allein auf diesem Planeten, we are friends, man, just now.

Vierundzwanzig Stunden dauert die Fahrt von Kapstadt nach Windhoek. Nach vier Stunden hattest du Ameisen in den Beinen, trieb es dich durch die Gänge, du wolltest raus, zu Fuss hinein ins offene Land.

Und nun steckt der Bus an der namibischen Grenze fest, in the middle of nowhere. Fünf Dutzend Menschen stehen sich die Beine in den Bauch, weil dein Südafrika-Visum vor zwei Tagen abgelaufen ist.

Was hast du hier zu suchen, pinky.

Sie sagen nichts, regen sich nicht auf, beschweren sich nur über das fehlende Klo. Und wenn alle kotzen und scheissen müssten, das Bus-WC bleibt zu. Geht hinter den Zaun.

Kein Scheisshäuschen, kein Visum.

There are lines that have to be drawn. Just a line to tell you what you fear.

Raef uoy tahw llet ot enil a tsuj.

Schnauze!

Der Pitbull fletscht die Zähne.

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Woher kommst du, wo ist dein Land?

Die Worte dringen aus der Dunkelheit bis zu dir. Ein Flüstern, keine Gestalt, kein Gesicht. Die Stimme ist alt. Du fürchtest sie nicht. Du fürchtest dich vor dieser Mauer, an der du abprallst wie ein Vogel an einer Glasfront. Der Pitbull, der aussieht wie Idi Amin, die körperlose Stimme, das gespenstische Licht. Und keine Toi-lette weit und breit, der Bus geschlossen, by order of. Der ganze Bus will aufs Klo.

Where is your land, sisi?

Eine Hand greift nach deiner, zieht dich hinunter.

Die Gestalt kauert neben dem Zollbüro, sie ist klein und gebeugt wie eine vom Steppenwind gekrümmte Schirmakazie, eine alte Frau mit vernarbtem Gesicht. Ihre Augen leuchten im Dunkeln.

Dass sie sisi sagt, rührt dich.

You know, mama.

Das Land, für das es keine Worte gibt. Karges, menschenleeres Land, in der Mitte entzweigeschnitten, zwischen den beiden Hirnhälften fliesst der Fluss wie blaues Blut.

Das ist mein Land.

How do you know?

I don’t. It’s my heart that’s telling me. It is beating in the rhythm of the land.

Ich bin aus Afrika gemacht, im Herzen bin ich Afrikanerin, it’s for all to see.

But the words are escaping me, always did.

Find them, sisi.

Hinter der Grenze löst sich die Strasse in der Wüste auf. Du erinnerst dich an den Fluss, er wird dich immer leiten, sein Blau leuchtet grell in dieser Landschaft von der Farbe von verbranntem Stein, von verwittertem Holz, von vergilbtem Papier. Der blendende Fluss, der dich anspringt wie ein wildes Tier. Hands up. Ergib dich. […]

___

Die Wüste und der blaue Fluss sind nur ein paar Atemzüge von diesem Grenzposten entfernt, unerreichbar. Du kennst den Weg, von früher, oder aus einem Traum, oder aus einer Zukunft, in der du wieder und wieder kommen wirst.

Zeiten und Räume, Identitäten und Gewissheiten werden in der Wüste zu Lichtspiegelungen; Vorstellungen, Geschichten, Erinnerungen zu Bildfetzen auf einer Filmrolle, die pausenlos zurück- und vorgespult, angehalten und wieder in Gang gesetzt wird. Keine Wegmarkierungen, keine Orientierungspunkte, der Schleudergang vorweggenommen. No cues. Stillstand. Und Wörter wie: Longing. Namaland. Sperrgebiet. The Gods. Kukummi. /Kaggen. /Xue. !Xun. Tsui’goab.

Nie war eine Nacht so lang. Kein Licht, kein Wasser, keine Toilette. Fröstelnd, hungrig, durstig. Die Mitreisenden sitzen im Sand, lehnen an Zäunen, Wänden, am verriegelten Bus. Wie oft standen sie schon stundenlang vor Uniformierten Schlange und wussten nicht, was mit ihnen geschehen würde.

Stimmen werden laut. Es reicht. Sie sind nicht zum Vergnügen unterwegs wie du mit deinem abgelaufenen Visum.

Please, mister, please.

Shut the fuck up!

Und wenn der Pitbull dir den Ausreisestempel verweigert, wenn der Bus ohne dich abfährt und du im Niemandsland verschwindest. A nobody, nowhere. Sie werden dich suchen lassen, Leute mit bestimmten Pässen werden immer gesucht, sie verschwinden nicht wie andere Leute mit bestimmten anderen oder gar keinen Pässen.

So viele namenlose Verschwundene.

Wie hoch ist der Suchwert pro Staatsangehörigkeit?

This is a free world, my country is a free country, I am a free person.

Ssh!, sagt die Frau, ssh!

Der Stempel liegt in Griffnähe, du könntest die Hand unter dem Gitter durchschieben und päng, weg wärst du.

Don’t.

I didn’t.

Dir hat stets die Kraft zur Ausführung gefehlt. Nicht zum Beginnen, aber zum Beenden. Ein Geburtsfehler.

Du existierst nicht ohne diesen Stempel. Du existierst nur in den Augen der Alten, spiegelst dich darin. Sie hält noch immer deine Hand. Mit der anderen berührt sie deine Lippen.

Smile, sisi.

Du lächelst. Lächelst pausenlos angestrengt um dich herum, durch die Gitterstäbe des Schalters, zu den anderen Passagieren, in die Richtung, in der du den Busfahrer vermutest, lächelst, bis dir die Mundwinkel einfrieren.

Dann vergeht es dir.

Wir müssen los, sagt der Fahrer. Wir können nicht länger warten. Sorry, miss. Er stellt deinen Rucksack auf die Strasse.

Morgen Abend kommt der nächste Bus.

Als der Motor warm läuft und alle eingestiegen sind, als du an den Fenstern die bestürzten Gesichter der Buspassagiere siehst, mit denen du vor wenigen Stunden noch gelacht und gebechert hast, als du den Pitbull nicht mehr fixierst, nicht mehr bettelst oder zurückknurrst, nur weinst, rührt sich die Gestalt am Boden. Sie zieht sich an deinem Arm hoch, eine müde alte Frau mit verkrüppelten Beinen, ihre Hand fest in deiner, die Finger der anderen Hand krallen sich um das Gitter vor dem Zollbüro.

Sie sagt etwas in einer Sprache, die du nicht verstehst.

Der Zöllner mit dem Kiefer von Idi Amin schaut auf. Nimmt die Sonnenbrille ab und starrt die Alte aus rot geäderten Augen an. Er sagt nur ein Wort. Seine Stimme zischt wie Luft aus einem Autoreifen. Dann lässt er den Stempel knallen und wirft dir den Pass vor die Füsse.

Du läufst auf die Strasse, reisst fast die Hand mit, die deine hält. Der Bus hat sich in Bewegung gesetzt, du rufst, winkst, brüllst. Schnappst dir den Rucksack und rennst. Siehst aufgerissene Augen und Münder, einige Passagiere sind aufgesprungen und fuchteln mit den Armen.

Bremsen quietschen. Die Tür geht auf.

Ein Satz, und du bist im Bus. Fällst dem Chauffeur fast in die Arme. Die Mitreisenden johlen und klatschen.

Die Tür geht zu.

Gerettet, mama.

Du wirst nie wissen, was sie zum Pitbull gesagt hat, du weisst nicht einmal, ob du ihr noch etwas zugerufen, ihr zum Abschied gewinkt hast.

I won’t forget you, hättest du gesagt. Never.

Du wirst in die Wüste fahren und den blauen Fluss sehen, du wirst Staub schlucken und um Atem und Worte ringen, deine Augen werden sich röten, deine Wattehaut wird braun werden, du wirst auf dem Kopf stehen, und die Erkenntnis wird dich treffen wie ein Blitz.

This is my land, mama. Nowhere.

Noch siebenhundert Kilometer bis Windhoek.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 115–120.

Erstpublikation: Monika Slamanig: Durstland. Eine Reise. St. Gallen: VGS Verlagsgesellschaft, 2015 (Edition Literatur Ostschweiz 1). S. 8–17.