Literaturland


Hans Konrad Sonderegger

Die Landsgemeinde

1927

Man hat es letzten Sonntag erleben können, wie stark die Tradition der Landsgemeinde bei uns verwurzelt ist. War schon von den Geschäften keines besonders zügig, um einen starken Aufmarsch zu bewirken, so tat das Wetter geradezu das Möglichste, um die Mannen vor dem Ausgehen abzuhalten. Es regnete ausgerechnet während der Verhandlungen mit einer infamen Leidenschaftlichkeit; es war kein ehrlicher grober Regen, der in währschaften Tropfen zur Erde fällt und gelegentlich innehält oder nachlässt; es war ein ganz gemeiner halbschräger Fadenregen von jener Feinheit und unermüdlichen Intensität, die schliesslich nichts mehr trocken lässt und zudem bald den ganzen Körper durchkältet. Trotzdem war der Platz besser gefüllt, als man unter solchen Umständen erwarten konnte. Es war keine grosse, wohl aber eine bewunderungswürdige Landsgemeinde, eine Landsgemeinde der Selbstzucht und des entschlossenen Widerstandes gegen den nassen Vereitlungsversuch, und wenn man sie als verbissenen Kampf zwischen dem Wettermacher Petrus und den Appenzeller Bürgern betrachtet, so hat der bärtige Himmelspförtner schmählich verspielt. Er erreichte das pure Gegenteil von einer Auflösung im Wasser; entschlossen übernahm ein jeder seinen Anteil an dieser meteorologischen Gleichheit. Der alte Landammann tropfte so gut wie der neue, die Regierungsräte tropften, der eine mehr nach hinten, der andere mehr seitlich, Ratschreiber und Weibel tropften, die Blätter der Landsgemeindebüchlein klebten zusammen, das ehrwürdige Landbuch mit der Eidesformel quoll auf und verzog sich unter dem nassen Segen, im Volke schüttete der Grosse den Inhalt seines Hutrandes in den Kragen des Kleinen: Man gab nicht nach, man stimmte, bis alles erledigt und in Ordnung war, man führte die Landsgemeinde durch, so wie es immer war und wie es Brauch und Recht ist. Das ist Disziplin; da steckt ein Wille drin, der die Bürgerpflicht unter allen Umständen erfüllen will. […]


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 519.

Erstpublikation: In: Säntis. Volksblatt für den Kanton Appenzell und dessen Umgebung 1927, 33 (26. April). S. 1.