Literaturland


Stefan Sonderegger

Das Vaterunser auf appenzellisch

1973

Es gibt keine appenzellische Bibeltradition. Sie wäre erst noch zu begründen. Warum nicht eine Bibel auf Appenzellerdeutsch schaffen? Die Mundart steht der Kirche im eigenen Land leider fern, allzu fern, glauben wir sagen zu müssen. Vielleicht war es die ehrfurchtsvolle Distanziertheit, die den Appenzeller durch Jahrhunderte davon hat Abstand nehmen lassen, seine eigene volkssprachliche Bibel zu verfassen. Aber das schönste, heiligste und in seiner Verdeutschung aus St. Gallen um 790 auch älteste deutsche Gebet, es soll auch einmal appenzellisch nachvollzogen sein. Wir wagen es um des Gebetes willen:

Vatter vo üüs ale im Himmel,
heilig seg üüs Din Name.
Dis Riich söll zo-n-üüs here choo.
Din Wile söll gelte im Himmel ond of de Welt.
Geb üüs hüt för dè Taag s Broot.
Vergeb üüs, wo mer gfäält hend,
so wie meer dene vergend, wo gegen üüs gfäält hend.
Loo üüs nüd versuecht see,
nää, lös üüs vom Bööse.
Denn Deer ghöört d Gwalt ond d Herrschaft ond
d Herrlechkeit
öber ali Zite.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 443.

Erstpublikation: Stefan Sonderegger: Das Vaterunser auf appenzellisch. In: Appenzeller Sein und Bleiben. Zur Wesensbestimmung des appenzellischen Menschen. Sechzig Impressionen. St. Gallen: Fehr’sche Buchhandlung, 1973, S. 110.