Literaturland


Rainer Stöckli

Vättner Gedichte

1989

I
WEH tut, so
dass der Lebtag klotzt
(ein Wind oder werwas
verhält ihn),
weh tue
die saumselige Zeit.

Vom Calanda, Rainer,
das Sparen, das Sperren lernen.
[…]

 

II
Die STÜRZE! Unsereinen
sic transit schmettern sie
Holzzeichen requiescat Steinzeichen
vorüber.

Dem Berg aber
stehen sie an:
keiner wirft ihn zu Füssen.
Nicht lieben, nicht dienern.

Allein das Geröll lacht
(Nachruf schon, lauter, leiser).

 

IV
ZÄHNE zeigen
dem Schnitz Himmel,
der über uns Wetter zieht,
Wetter nimmt.

Zähne, septemberlicher Zeit
nicht zu verpflichten,
der frühen Einkunft des Winters
nicht unterjocht.

Schleift mich! Ich blecke!

Geifer des Kurzlebendigen,
während Jahr und Tag,
Abend und Winter gähnen.

 

VI
Die KLETTERER. Wagen
ziehn sie hinaus
(aus den Häusern), hinein
(in den Dorfbauch).
Ihnen geweihtes Wasser,
den Pferden Handvoll Heu.

Keiner mehr, darnach,
richtet etwas aus. Einer –

der Föhn, der die Steine peitscht.
Die Namen liest. Die Jahre schüttelt.

«Auf. Noch trotzen
die Wände. Auf.
Noch sitzen die Karabiner.
Noch Ein Mal ist es Zeit.»

 

IX
Die Liebenden. die Nackten, die Toten.
WAS FÜR EIN MUND sie kaue?

Von den Felsenbändern
fallen sie – uns zu, uns zurück –
und wir decken die Augen,
warten auf Schläge und Geröll,
atmen leichter, wenn’s nachrieselt,
der Schrei vergeht. Ruhe herrscht.
Herrscht.

Aus den Betten, andere,
stürzen sie – mit zu wenig Händen
für die Scham – und wir decken
die Augen und schaun:
die eine, die lose Brust
lacht, lockt, liebäugelt,
eine, die Mutter und Tod ist,
istwarist.

 

XIII
ZULETZT stolpern: Käfern zu,
in Walserarme und -schoss.
Novemberwärts schütten Lärchen
blind ihre Nadeln über dich.
Im Saft von Strünken vergehst du,
Pilze aus deinen Augen.

Totengebete steigen,
versiegen.
Licht aus dem Nachmittagshimmel
rinnt. Magermilch für den Schläfer.
[…]

 

XXI
Nachthimmel. Hundert Finger
und Fingerfinger.
Einfältiges Wunder:
das WETTERLEUCHTEN.

Uns zuckt es (den Niedrigen)
Spannweiten vor; es flackert
das himmlische Abdomen.

Vom Erleuchteten schüttert’s,
vom blauen Gewölb,
uns dumpf Wohnenden
Staub zu, zündet
uns Sesshaften
Staub zu.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 323–326.

Erstpublikation: Rainer Stöckli: Hiesig unter dem Berg. Vättner Gedichte. Zürich: Edition Howeg, 1989. Unpag. Ders.: Hahns Stunde. Gedichte bis 1993. Herisau: Schläpfer, 1994. S. 30–52.