Literaturland


Georg Thürer

Der brave Bläss

1957

Die Erstveröffentlichung im Appenzeller Kalender 1957 gibt vor, es handle sich um eine wahre Begebenheit aus der holländischen Wassernot im Jahre 1953.

Wer ist der bekannteste Appenzeller? Wenn man von der Landsgemeinde heimkommt, denkt man der Herr Landammann sei es. Zehntausend Mann sehen ihn und hören auf ihn. Gewiss, aber es gibt doch einen Appenzeller, den man noch weiter herum kennt. Das ist der Bläss, der Appenzeller Sennenhund. Er ist stolz darauf, ein Appenzeller zu sein. Darum trägt er sein Leben lang die Appenzeller Standesfarben Weiss und Schwarz, und wenn noch ein Streiflein Braun dazu kommt, so ist das wie ein Schimmerlein der holzbraunen Schindelhüttchen, wo er am liebsten wacht. Aber auch ennet der Grenzen, ja sogar auf Inseln im Meer ist er ein gar treuer Diener.

Davon kann ein holländischer Bürgermeister erzählen. Jonkheer A. van Citters hat in seinem Leben zwei grosse Überschwemmungen seiner Heimat erlebt. Einmal brausten Heere machtgieriger Menschen über die Niederlande hinweg, das andere Mal die Wogen des Meeres.

Als die Truppen Hitlers im Mai 1940 das friedliche Holland überrannten und dann besetzt hielten, leistete er Widerstand. Dafür bestrafte ihn der Eindringling. Der wackere Holländer wurde in ein Gefangenenlager gesteckt. War das am Ende eine Wartestätte für die Hinrichtung? Er wusste es nicht, aber er sann Tag und Nacht auf Flucht. Endlich glückte sie ihm. Wie atmete er auf, als er auf freiem Schweizerboden stand! Dort oben in Wildhaus hatte er mit seiner Familie wenige Jahre zuvor schöne Ferienwochen verbracht, und dort fand er wiederum gute Aufnahme. O du schönes Toggenburg mit den grünen Weiden, den braunen Bauernhäusern und den munter bellenden Blässlein!

Jahre gingen, Jahre kamen. Die Deutschen wichen, die Befreier nahten. Weder Hitlers Wall längs der atlantischen Küste, noch seine Truppen konnten den Einmarsch der Engländer und Amerikaner hindern. Die Niederlande waren wiederum frei, und unser Holländer konnte heimkehren. Allein, schon im nächsten Jahr war er wiederum unter den Säntisfelsen, wo einst auch seine Königin (1) gerne geweilt hatte, und als die Stunde des Scheidens kam, wollte er ein bleibendes, lebendiges Andenken an die Schweiz mitnehmen. Seine Wahl fiel auf einen Bläss aus Brülisau, und in Oberegg kaufte er noch einen dazu. Es war ein hübsches Paar, das nun im Dorfe Burgh auf der Insel Schouwen Einzug hielt. Die Leute rühmten denn auch das Hundepaar des Bürgermeisters, und als es eines Tages hiess, es sei ein ganzer Wurf junger Blässli zur Welt gekommen, fehlte es nicht an Abnehmern, denn es sprach sich bald herum, dass die Hunde aus der Schweiz nicht nur schön, sondern sehr zuverlässig seien. Mit jedem Wurf weitete sich der Kreis. Auch Bauern von andern Inseln und vom Festlande hätten fürs Leben gern einen Bläss gehabt. So spiegelte sich denn mit der Zeit da und dort ein Blässli an einem der Mündungsarme des Rheins im Wasser, das von den Bündner und Berner Firnen, aber auch vom Weissen und Blauen Schnee niederrinnt in die Sitter, mit der Thur in den Rhein kommt und am Strande des Meeres allmählich salzig wird.

Die Niederlande sagen es in ihrem Namen, dass sie tief unten liegen. Ihr höchster Berg liegt nicht einmal so hoch über dem Meere als der Gäbris über dem Trogener Landsgemeindeplatz. Ja, es gibt viele Landesteile, welche gar unter dem Meeresspiegel liegen. Dämme, die man dort Deiche nennt, halten das Meerwasser fern. So sehen manche Inseln mit ihren erhöhten Rändern aus wie riesige Teller. Auch Schouwen gehört zu diesen Inseln, wo die Bauern hinter Dämmen leben. Wehe aber, wenn diese Deiche eines Tages brechen!

Dieses Unheil widerfuhr dem holländischen Volke anfangs Februar 1953 wie noch nie seit Menschengedenken. Wild wütete der Sturm und peitschte die Wogen des Meeres. Mit unheimlicher Wucht prallte eine Springflut an die Deiche, welche solchem Angriff nicht gewachsen waren. Das Menschenwerk zerbarst und das Verhängnis nahm seinen Lauf. Das Meer flutete ins Land hinein. Bis an die Knöchel, bis zu den Knien und bald bis zum Gurt standen die Männer, die wehren wollten, im Wasser. Dann wichen sie dem brausenden Element. Der eine rannte heim, um die Kinder im obern Stock zu bergen oder gar aufs Dach zu flüchten, denn unheimlich stieg das Wasser. Ein anderer belud sein Schiff mit der notwendigsten Habe, und ein dritter watete in den Stall, um die Türen aufzusperren und das Vieh loszubinden, damit es nicht an den Ketten elendiglich umkomme. Man hörte Zurufe und Angstschreie durch die Nacht und auch bellende Hunde. So etwas hatte noch kein Appenzeller Bläss erlebt.

Das Dorf Burgh, wo unser Holländer Bürgermeister war, liegt etwas höher als die Umgebung. Darum kamen aus weiter Runde Bauern herbei, so dass das Dorf ein Zufluchtsort wurde. Auch ein Bauer aus Scharendijke war dorthin gekommen und sein Blässli hatte ihn begleitet. Wir wissen nicht, ob es im Getümmel der Nacht seine Mutter wiederum sah. Es war alles in Dunkel gehüllt und von schwerster Sorge beschattet.

Endlich graute der Morgen des 2. Februar und gab den Blick auf die wallende Wasserwüste frei. Der Bauer mit seinem Blässli machte sich auf, um zu schauen, ob noch etwas von seinem Hof und seinen Kühen übrig geblieben sei. Mühsam ritt er auf dem Damm dahin. Sein Blässli folgte ihm, bald schwimmend, bald wieder abstehend. Nichts war zu sehen. Sollte die Flut Hab und Gut samt und sonders weggeschwemmt haben? Der Bauer wagte gar nicht, den Schaden zu ermessen. Er stand still und streichelte seinen treuen Bläss, der sich das kalte Wasser aus dem Pelz schüttelte, dass es nur so stob. Lang standen die beiden auf einem Stein. Es wurde lichter und lichter. Mit einem Male bellte der Hund kurz. Unverwandt blickte er in der Richtung des Heimgutes. «Ja, dort!», sagte der Bauer. Richtig dort standen seine schweren Kühe und auch die Kühe zweier Nachbarn im tiefen Wasser. Der Bauer rief, die Kühe muhten, der Bläss aber bellte und schwamm dann flink, als wäre er ein Seehund, zu den Kühen hin. Die Freude, zu treiben, stak ihm im Blut. Daran sollte ihn auch das Wasser nicht hindern. Aber die Kühe wichen nicht vom Fleck. Wütend umkreiste sie unser Bläss, hob die Schnauze, um zu bellen, und als alles nichts helfen wollte, begann er zu beissen. Das wirkte. Nun trotteten die Kühe durch die eiskalte Flut auf den Dammweg zu. Als die erste oben stand und die nächsten sahen, dass dort das Wasser merklich niedriger war, folgten sie allmählich. Noch aber waren die Kälblein zu retten, welche wie verloren kaum noch den Kopf aus dem Wasser zu heben vermochten. Die Angst starrte ihnen aus den grossen Augen. Unser Blässli hatte sie besonders lieb. Man durfte sie nicht preisgeben. Er schwamm wie besessen hinter ihnen her. Die armen Tiere verfingen sich immer wieder in den Zaunwinkeln. Der Bläss wusste aber, wo die Lücken der überschwemmten Zäune waren. So pustete und stiess und bellte er, bis die ganze grosse Herde auf dem rettenden Damme stand. Es waren 45 Haupt Vieh, so viel als daheim im Appenzellerland in einem halben Dutzend Hämetli weiden. Aber nicht genug! Tags darauf baten andere Bauern Blässens Herrn um den Hund. Und wiederum gab dieser sein Bestes her, um noch manche Kühe zu retten.

Seither steht der Appenzeller Bläss weit und breit in hohen Ehren, und wir glauben, dass die glücklichen Besitzer von der ersten Wurst, die sie beim Zurückgehen des Wassers assen, unserm Bläss ein zünftiges Zipfeli abschnitten.

Der wackere Bürgermeister schrieb uns, er habe seinem Bläss beim nächsten Besuch in Wildhaus ein schönes Halsband gekauft. Als eines Tages gar die Königin Juliana in seine Gemeinde kam, unterliess er es nicht, ihr auch den braven Bläss aus dem Appenzellerland vorzustellen.

1 Königin Wilhelmina und Prinzessin Juliana von Holland machten 1934 und 1935 Winterferien in Unterwasser. (Red.)


penzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 542–544.

Erstpublikation: Georg Thürer: Der brave Bläss. Eine wahre Begebenheit aus der holländischen Wassernot im Jahre 1953. In: Appenzeller Kalender 236 (1957). Unpag. Leicht gekürzt nochmals abgedruckt in: Schweizerischer Republikanischer Kalender 1966. S. 82–83.