Literaturland
Jakob Vetsch
Leiden und Freuden eines wandernden Mundartforschers
Dem bescheidenen Studenten, der in nichts weniger als bescheidener Weise sich aus einem appenzellischen ‹Schuellehrersbueb› entwickelt hatte, wurde vor etwa fünfzehn Jahren nahegelegt, dass es ihm ganz wesentlich zum Ruhme und der Wissenschaft zum Wohle gereiche, wenn er die Mundarten seines Ländchens für alle Zeiten verewige. Man darf schon die Mehrzahl brauchen, denn das lnnerrhodische und das Kurzenbergische unterscheiden sich stark vom übrigen Ausserrhodischen, und deutliche Unterschiede finden sich im ganzen Appenzellerland von Gemeinde zu Gemeinde. So bedurfte es monatelanger Wanderungen, um all die feinen Abweichungen in der Aussprache der Wörter und jedes einzelnen Lautes zu erforschen und den genauen Verlauf der Grenzlinien für all die vielen Unterschiede festzustellen.
Bei meinen ersten Aufnahmen in Ausserrhoden wurde mir vielbedeutend gesagt, ich solle nur warten, bis ich ins Innerrhodische komme, dort werde ich immer zuerst der Frage begegnen: «Wemm bischt?! Hescht Göld im Sack?!» Galt es doch, sich immer an die urchigsten Leute zu wenden, die seit Generationen am Orte ansässig waren und nicht durch Schulung und Reisen die Eigenart und Reinheit ihrer Mundart verloren hatten. Ich muss aber sagen, dass nachher die ‹Innerröödler› viel grössere Freude an mir hatten, als die ‹Osserröödler›, und ich daher auch an ihnen. Die richtigen Personen aufzufinden, war gar nicht überall so leicht; in Ausserrhoden wohnen nur etwa der vierte Teil sämtlicher Einwohner am Orte, wo sie geboren wurden, und sind auch Bürger dieser Gemeinde. Und noch schwieriger war es oft, mit den Leuten in die richtige Fühlung zu kommen. Da ich stets ein Köfferchen bei mir trug und eine Mappe unter dem Arm, meinten sie immer zuerst, es komme ein Geschäftsreisender. Einmal rief mir eine Frau hinter der verschlossenen Haustüre, die ein vergittertes Glasfenster hatte, die längste Zeit zu: «I bruuche nütz! I bruuche nütz!» Ein Bauer gestand mir nachher, er sei letzthin von einem Weinreisenden betrogen worden, und darum sei er jetzt so misstrauisch. In Innerrhoden hat gewiss mancher Bauer bei meinem Kommen gedacht, das sei natürlich auch wieder einer von den unappetitlichen «Herren», «wo de Schnoder in ’n Sack neend» (d. h. ein Taschentuch benutzen). Dafür war dann aber nachher auch die Freundlichkeit um so grösser, wenn sich der Irrtum herausstellte, und ich musste um so mehr Most trinken.
Ich konnte den Bauern natürlich nicht zur Einführung in langen Sätzen von Sprachwissenschaft und dem Wert der Mundartforschung reden. Am besten ging es immer, wenn ich mich beim Pfarrer des Ortes nach den passendsten Leuten erkundigt hatte und mich dann mit den Worten einführte: «De Herr Pfarrer lood i grüetze; i bi graad binem gsee ond doo hed er gsääd, i söll gad zo eu choo!» Darauf reichte man mir jeweilen vertrauensvoll die Hand und lud mich zum Sitzen ein. Nach einigen Worten über das Wetter und einem warmen Lobspruche über irgend etwas, was in der Stube war, eröffnete ich dann mein Anliegen, dass ich wegen der ‹Puuresprooch› gekommen sei. «Ahaa, de Thialekt!» riefen dann die Leute oft, stolz, ihre Bildung zu zeigen. […]
Oft dauerte es ziemlich lange, bis die Leute begriffen, was ich wollte. Ich musste mich darauf, gefasst machen, auf meine Frage nach der Aussprache eines Wortes, ob man so oder so sage, zuerst die ausweichende Antwort zu erhalten: «Joo, wie me ’s aagwanet ischt, seit me ’s de ringscht!» oder, wie ein Kurzenberger meinte: «wie ’s amm enaard z’seged is Muul kchoond.» Manche möchten denken, dass es für das Glück der Menschheit ziemlich einerlei sei, ob man so oder anders sage, z. B. den Laut ‹e› in einem Worte geschlossener oder offener ausspreche, und rechtfertigten sich dann mit der Behauptung: «s giid vill Wörter, wo uf der Woog stoond!» oder: «Joo, das ischt jetzt wider gaanz of em Stüeli!» d.h. wird bald so und bald anders ausgesprochen. Ich durfte daher in unsichern Fällen nicht nur darauf abstellen, wie ein Wort auf meine Frage für sich allein ausgesprochen wurde, sondern musste die Leute veranlassen, das Wort in einem Satze zu brauchen, was nicht immer leicht zu erreichen war. Ein Beleg dafür, dass dem Sprechenden seine Sprechweise oft gar nicht bewusst wird, ist die entrüstete Abfuhr, welche mir eine Kurzenbergerin auf meinen Vorhalt, sie habe vorhin ‹nei› ausgesprochen und nicht ‹naa›, zuteil werden liess mit den Worten: «Nei, ’s ist nöd ase, i sägen all naa!»
Mit grammatischen Bezeichnungen wie Geschlecht, Komparativ, Mehrzahl usw. konnte ich den Leuten natürlich nicht kommen, sonst passierten einmal über das andere Sachen wie z. B., als ich zu dem eben ausgesprochenen Worte ‹Sack› fragte, wie man in der Mehrzahl sage, und zur Antwort erhielt: «Joo, me bei zwee!» In guten Treuen und im Bewusstsein, sein Bestes zu leisten, gab mir einmal einer auf meine Frage nach der ‹Mehrzahl› von ‹Sau› zur Antwort: «Sauhond». Wenn ich die Leute dadurch zur Bildung eines Komparativs bringen wollte, dass ich sagte: Wenn man z. B. von spoot sagt spööter, wie sagt man dann von dem und dem Worte, so ging ihnen gewöhnlich schnell ein Licht auf, das sie denn auch sofort leuchten liessen, indem sie selbstbewusst ausriefen: «Ahaa, d Mehrzaal!!»
Interessant war oft, wie die Leute sprachliche Eigenheiten in Worten ausdrückten. So sagte einer von dem dicken ‹l› der Hinterländer, und zwar speziell von dessen sich unangenehm bemerkbar machenden Rollen beim Konzert eines Töchterchors: «’s hett fascht en Chnopf ggee i d Zunge!»
Da sich die Zunge dabei viel stärker empor- und zurückwölbt als bei der gewöhnlichen Aussprache des ‹l›, hatte er gar nicht so unrecht. Ein anderer erzählte von drei fremden Damen, die in einer Pension zur Kur waren, sie könnten die Appenzellermundart ganz ordentlich reden, «sie könnten alles andere sprechen, aber sie können nicht d Silbe böcke», sie sagten z.B. ‹e Chuuu› statt ‹e Chue› usw. Von einem, der beim Reden auffallend stark singt und in grossen Intervallen, sagt man, «er chönn i sibe Sprooche rede», und nennt ihn ‹de Sibesprööchler›.
Viel Spass machte es den Leuten, mir sämtliche alten Ausdrücke aufzutischen, deren sie sich noch von ihren Eltern oder Grosseltern her erinnerten und die der heutigen Jugend ganz fremd sind. Manches alte ‹Herkomme› wurde von mir als Redaktor des Schweizerischen Idiotikons notiert. Andere hatten eine besondere Freude, mich auf die ‹Kraftausdrücke› der Mundart aufmerksam zu machen und sie mit Witzen und Anekdoten zu belegen. In Hundwil erzählte man mir zu dem Worte ‹Gfräässt› (das mich wegen seines angehängten ‹t› interessierte), der Sohn vom Landammann Eugster habe, als er bei seinem Onkel (damals noch Pfarrer in Hundwil) auf Besuch gewesen und ein Braten ohne Sauce auf den Tisch gekommen sei, gesagt, «da sei jetz doch au e Gfräässt!» (Ob der Braten mit oder ohne Sauce mit der verschiedenen Parteizugehörigkeit unserer beiden hochverdienten Magistraten zusammenhängt, weiss ich nicht; auf jeden Fall wusste der Knabe eine solche Parteidisziplin nicht zu würdigen.) Mit Vorliebe wurden die zahlreichen Sprüche zum besten gegeben, mit denen in den Nachbargemeinden eine auffallende Verschiedenheit in der Aussprache von Lauten verspottet wird. So rufen z. B. die übrigen Vorderländer den Kurzenbergern zu: «I der aane Khuchi khochid s Khuttle!» (während sie selbst aussprechen: «I der ääne Chochi chochid s Chottle!») Und die Bewohner des Dorfes Appenzell lachten früher die Oberdorfer (die Bewohner von Brülisau usw.) mit dem Neckvers aus: «D Obedofe sönd mid ere Daase voll Mülch in e Doobel abi dööfled!» (d.h. die Oberdorfer sind mit einer Tanse voll Milch in ein Tobel hinuntergefallen). Weil die Oberdorfer in einzelnen Fällen wirklich ein d sprachen; wo man in Appenzell ein t sagte, sind hier zum Spotte sämtliche t durch d ersetzt.
Ein gutes Mittel, um mit den Leuten vertraut zu werden, war auch, dass ich in Dorfwirtshäusern, wo viele Bauern verkehrten, übernachtete und dann am Abend beim Jassen oder ‹Pröppere› einige Male verspielte – was mich gar keine besondere Anstrengung kostete, da mich der Vater das Jassen nicht gelehrt hatte; am folgenden Tage liessen sich die Bauern dann gern von mir ausbeuten. Im Wirtshaus selbst jemand abzufragen, war mir zu gefährlich, da unter ein paar Appenzellern sich immer ein Witzbold befindet, der mit etwas zu guter Beobachtungsgabe und zu grosser Schlagfertigkeit ausgerüstet ist. So passierte es mir einmal, dass in einem Wirtshaus einem der Anwesenden die Ähnlichkeit meines Kopfes mit einer ‹Rääbe› einfiel und dies natürlich zum besten gab, als ich nach der Aussprache dieses Wortes fragte. Glücklicherweise arbeitete ich damals gerade an dem Artikel ‹Rääbe› für das Schweizerische Idiotikon; ich notierte mir daher ganz ruhig den interessanten Beleg. Ein andermal beantwortete einer am andern Tische meine Frage, ob man ausspreche: «Er hed gsäät» (oder ‹gseit›) prompt mit dem Verse: «Er het gsäät, d Nase sei z bräät!»
Dafür machte ich dann auch meine Beobachtungen an den andern und notierte mir manches Kulturbildchen. In einem Wirtshaus, wo ich bei ‹Ritzlischlinneseepehanessehambischemeedl› und bei ‹Bogglisbeepesebedoniskalönisseefe› Aufnahmen machte, sass ein ‹Politiker› am Tisch und um ihn herum eine Anzahl Bauern. (Es hätte ein schönes Gemälde gegeben.) Der «Politiker» benützte seine Kenntnis der Tatsache, dass man am Meeresufer von einem herannahenden Schiff zuerst nur die Spitze des Mastes sieht, dafür, um den Bauern zu beweisen, dass das Wasser auch aufwärts gehen könne und dass man also ganz gut den Bodensee und den Seealpsee miteinander in Verbindung setzen könnte!!
Am günstigsten traf ich es auf meiner ersten Wanderung mitten im strengsten Winter – als ich auf dem ‹Leemestääg› fast im Schnee versank. Da hatten die Bauern Zeit und waren froh über jede Abwechslung, und auch die Frauen und Mädchen hielten aus Neugierde über den seltsamen Besuch gerne im Sticken etwas inne. Während dem Abfragen aber ruhte ihre Nadel nicht, denn mit Recht heisst es: «D Fraue ond d Saue erhaltid ganz Inneroode!» (Einer sagte mir zwar: «D Saue ond s Wiibervolch!»).Von einem, der durch Schweinezucht reich geworden ist, sagt man: «Er ischt a de Saue uufgschtande.»
Häufig hatte ich Gelegenheit, in der selben Stube Grossvater oder Grossmutter, Kind und Grosskind um mich geschart zu sehen und alle drei Altersstufen nebeneinander sprechen zu hören. Oft waren es der Kinder ein halbes Dutzend und darüber, alle nur etwa ein Jahr voneinander; der Innerrhoder sagt von einem so innigen Familienleben: «Doo goot’s wie am Wasser!» Im Kau traf ich in einer Familie ein, prächtiges Bild von acht solchen Kindern, alle mit roten Backen und schönen blauen oder schwarzen Augen, die Mädchen mit den blauen Augen des Vaters, die Knaben mit den schwarzen Augen der Mutter. Mit Stolz wies mir in der ‹Sandgrueb› ein alter, intelligenter Bauer seinen Stammbaum vor, der bis zur Reformation zurückreichte; immer folgte Sohn auf Vater im Besitze des Heimwesens, und die Frauen stammten aus der nächsten Umgebung. An einigen meiner Gewährsleute in Innerrhoden ging auch noch der Wunsch des alten Sennen in Scheffels Ekkehard buchstäblich in Erfüllung, «dass der hohe Säntis, so Gott wolle, noch auf Enkel und Urenkel herabschaue, ohne dass sie wissen, wie man Griffel und Feder handhabe». Allen bin ich zu grossem Dank verpflichtet, besonders aber dem Herrn Kantonsrat ‹Bogershansuechlisfranzeseeplisjoggelisbuebli›.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 437–440.
Erstpublikation: Jakob Vetsch: Leiden und Freuden eines wandernden Mundartforschers. In: Monatsblatt des Appenzellervereins Zürich 1917, 5 (Mai). S. 3–9.