Literaturland
Jean Villain
Damals in Allenwinden
Anfang des dritten Kapitels von Villains Erstlingsroman, in der DDR erschienen, drei Jahre später auch bei Huber in Frauenfeld verlegt. Der Verfasser, bürgerlicher Name Marcel Brun, Schüler der Kantonsschule Trogen, erzählt darin die Verhältnisse im Knabeninternat Allenwinden.
Nie hätte Jan sich träumen lassen, dass er einmal auf den Standort von Mülltonnen achten würde. Vorhin, zu Beginn des Dauerlaufes, hat er es getan. Sie stehen am Rand des Wendeplatzes bei der Haarnadelkurve, unweit des Tannendickichts, vor dem jeden Morgen an- und abgetreten wird und hinter dessen dichter grüner Wand nach den Mahlzeiten der Raucherklub der Mittleren tagt. Eine der Tonnen ist derart vollgestopft mit lappigen, zeichenblockgrossen Kabisblättern, dass ihr Deckel nicht mehr richtig schliesst. Jan registriert es mit Interesse. An die Tonnen heran käme man vom Steilhang her. Das fast bis zum Boden reichende Geäst der Tannen böte gute Deckung.
Ein Stück weiter, dort, wo der Zöglings-Zwanzigfüssler von Jans Frühturngruppe jeden Morgen vom geschotterten Fahrweg nach links abbiegt und in weitem Bogen an Muheims Kirschgarten vorbei zum Wäldchen federt, macht Jan die zweite wichtige Entdeckung des Tages. Am Wegrand wuchern ganze Plantagen saftiger kniehoher Kräuter mit weissen Dolden, die so aussehen, als würden Kaninchen sie mögen.
Jans Beine traben automatisch, und automatisch suchen sich seine Füsse die Stellen aus, die beim Abstoss zum nächsten Trabschritt sicheren Halt verheissen. Nichts bringt einen schneller aus dem Rhythmus als ein zu spät erkanntes Schlammloch oder ein federnder Ast.
Auch Luft hat Jan genug. Bis vier einatmen, ab fünf auspusten … sechs, sieben, acht … Ob Kaninchen Brot und Kartoffeln mögen? Zwei, drei, vier … mit Brot wäre es schwierig … sechs, sieben … was die einem neben den Frühstücksteller legen … zwei, drei, vier tüchtige Bisse, und nichts bleibt davon übrig. Dabei ist es die Tagesration. Beschiss auch bei der Butter und beim Fleisch, das ist bekannt … sechs, sieben, acht … Äpfelchen, die alte Hexe, mästet damit ihre Sippe, ist doch klar! … Zwei, drei, vier … Selbst vom Öl und von den Eiern zweigt sie in die eigene Tasche ab. Am meisten profitiert davon das Gürteltier … drei, vier … das jetzt den Zöglings-Zwanzigfüssler führt. Der ist ihr Liebling und ein ungeheurer Fresser vor dem Herrn … sieben, acht … Zum Zvieri schafft der einen Pfünder Weissbrot ganz allein und ohne was darauf. Mehr als eine ganze Ration. Aber soviel Brot … drei, vier …, dass man die Zöglinge jeden Tag bescheissen muss und für Tiere nichts mehr übrigbleibt, frisst doch selbst der nicht.
Sieben – acht oder erst sechs – sieben? Jan ist ausser Takt und ausser Puste, fällt aus dem Tritt. Seine Beine gehorchen nicht länger dem Rhythmus des Zwanzigfüsslers, suchen ihren eigenen Trott, der aber sofort zusätzlich Luft kostet und Jan zwingt, sich schleunigst auf den kürzeren Eins-zwei-drei- … vier-fünf-sechs-Rhythmus umzustellen. Anders wird er nicht durchhalten. Glücklicherweise ist man schon fast da. Nur noch der letzte kleine Anstieg bis hinauf zur Kurve. Dort sind die Atemübungen dran, danach kommt das Kommando «Abtreten!», das den Weg zu den Zimmern frei gibt.
Der Weg zu den Zimmern führt an der Baubaracke entlang. Achtlos stiebt der Trupp an ihr vorbei zur Kellertreppe und verschwindet im schwarzen Türloch. Jan streift die verwitterte Hütte mit besorgtem Blick. Um den längst fälligen neuen Karbolineum-Schutzanstrich betrogen, sind ihre Planken grau und rissig geworden und unten auch schon etwas angefault. In Ordnung ist eigentlich nur das mit schwarzer Teerpappe bezogene Dach und der mit groben Stiften von aussen zugenagelte Fensterladen aus Buchenbrettern. Wenigstens etwas! Aber noch immer weiss Jan nicht, ob Kaninchen Brot fressen, und wenn ja, wie solches zu beschaffen wäre.
Während der Freistunden am Nachmittag stellt sich heraus, dass sie Brot mögen. Das weisse Knäuel frisst fast die ganze Zuteilung. Es frisst Jan aus der Hand, was ihm die Sache leichter macht. Falls es zum Abendbrot Käse gibt, ist er angeschmiert. Dennoch lässt er das Tier so lange knabbern, bis nur noch ein bisschen Rinde übrigbleibt. An die lässt er es nicht heran. Die futtert er selber. Dabei streichelt er das Tier, spricht zu ihm, nimmt es in den Arm, drückt sein Gesicht in den weichen Pelz und ist gerührt und glücklich, weil es nichts dagegen hat. Später pirscht er zum Wäldchen hinüber. Die Stelle, wo die saftigen Kräuter wachsen, liegt günstig. Sie kann weder vom Weg noch von der Baggenstosserei eingesehen werden.
Ob zehn Stengel reichen? Nur Blätter oder auch Dolden? Die Dolden sind fast so weiss wie das Tier. Vielleicht benötigt es Weisses, um selber weiss zu bleiben?
Es macht sich nichts aus Weissem. Unlustig beschnuppert es die Gewächse und hoppelt enttäuscht davon. Vielleicht ist es noch satt vom Brot. Da Jan es jedoch nur vermuten kann, macht er sich noch einmal auf den Weg. Diesmal zu den Tonnen. Kabisblätter!
Das Kaninchen lohnt ihm die gute Absicht schlecht. Als er, die Blätter unterm Arm, zurückkommt, versucht es abzuhauen. Doch Jans Hand ist flinker, schiebt sich gerade noch im allerletzten Augenblick vor die Nase des Kaninchens und befördert es – zugegeben, ziemlich unsanft – wieder ins Hütteninnere zurück. Danach erst das grosse Erschrecken. Die Knie weich wie Pudding. Dann: Meuterei auch im Gedärm. Er muss raus und ins Gebüsch. Das darf nicht wieder vorkommen. Die Vorstellung, das Tierchen zu verlieren, ist Jan entsetzlich.
In einer Ecke liegen ausgediente Blumenkästen. Aus ihnen konstruiert er in fliegender Hast – gleich wird die verdammte Doppelglocke schellen – eine Art Gatter. Dafür, dass es binnen fünf Minuten steht, sieht es ziemlich überzeugend aus. Denkt er.
Das Kaninchen denkt anders. Kaum ist es in seine Grenzen verwiesen, setzt es sich vor Jans Augen über sie hinweg und verzieht sich hinter die Strohballen. Und natürlich schettert, genau in diesem Augenblick, die Schelle. Ihr rechthaberisches Schrillen zersägt ihn auf der Stelle in zwei Hälften. Die eine, bravere, aufs Parieren eingefuchste, liesse jetzt am liebsten alles stehen und liegen, um loszurennen, wenn auch mit Gewimmer. Doch die andere lässt sie nicht. Besteht darauf, dass jetzt das Tier den Vorrang habe. Jetzt oder nie … Erst das Kaninchengatter, dann die Disziplin. Kaninchenordnung geht vor Anstaltsordnung, wenigstens dies eine Mal. Schon morgen könnte es zu spät sein. Und dieweil die weniger brave Hälfte ohne Pause weiterräsoniert, harrt Jan aus und wuchtet wütend Bretter durch den finsteren Raum, so lange, bis die Blumenkistenbarrikade sicher scheint.
Oberster Gerichtsherr der miefdurchdrängten Unterwelt des Klassenzimmers ist Bömbeliböhm. Als Jan hereinstürzt, schaut der gelassen zur elektrischen Wanduhr, multipliziert die Fehlminuten mit fünf, verdammt den Pönitenten zur Verhundertfachung des Satzes: «Ich darf nicht zu spät zum Studium kommen» und wendet sich dann wieder seiner Zeitung zu.
Am nächsten Tag erweist es sich, dass alles für die Katz gewesen ist. Wieder begrüsst das Tier Jan dicht beim Türspalt. Aber diesmal ist Jan, der seinen Sperren selber nicht ganz traut, gewitzt und hält die Hand gleich auf Karnickelnasenhöhe. Höchste Zeit, an einen richtigen Stall zu denken!
Jan denkt tagelang an ihn. In einer Mathematikstunde strichelt er die ersten Skizzen. Die karierten Blätter seines Sudelheftes eignen sich sehr gut dazu. Barba steht vorn an der Tafel und erzählt mit vorgerecktem Bart von einem alten Griechen. Am Anfang ist es noch ganz interessant. Der Typ wühlt irgendwo an einem Inselstrand im Sand herum, wahrscheinlich hat er vorher gebadet und will sich nicht gleich wieder anziehen, wühlt also herum mit einem Stöcklein, zeichnet damit allerhand Kreise, und dabei fällt ihm plötzlich etwas ein, angeblich etwas ungeheuer Wichtiges, aber da kommen ein paar lateinische Soldaten daher und latschen ihm mitten in sein Abrakadabra hinein, der Typ wird ärgerlich und schreit die Militärköpfe an, sie sollen raus aus seinen Kreisen, die würden demnächst in das Lehrprogramm der schweizerischen Mittelschulen aufgenommen, doch die Soldaten halten offenbar nicht viel von Mittelschulen und wohl auch von diesem Typ nicht, den murksen sie kurzerhand ab, worüber sich Barba ziemlich aufregt, obwohl es doch schon lange her ist, und während er noch schimpft, kehrt Jan in der letzten Reihe wieder zu seiner Trägerkonstruktion zurück. Schön wird sie. Der ganze Stall wird schön, ein Ding mit Pfiff, und obendrauf ein kühnes Schrägdach, so!
Nur, wo wird er ihn hinbauen können? Jan hört auf zu zeichnen. Der massakrierte Typ ist abgemeldet. Das Sudelheft bleibt offen liegen. Falls Barba jetzt nach hinten käme, erginge es den Stallentwürfen kaum besser als den Kreisen jenes alten Griechen, aber Barba steht noch immer vor der Tafel und malt nun seinerseits.
Die verfluchte Bauplatzfrage! So weitläufig das baggenstossische Gelände ist, verborgene Stellen, gebüschverhangene Ecken, vor neugierigen Blicken abgeschirmte Winkel hat es nicht zu bieten. Sportgelände, Wiesen, Rosenbeete, Hinten-durch-Passage, alles grossflächig, geradlinig, überschaubar auf den ersten Blick. Das Innere der Baubaracke ausgenommen.
Und wenn er dort?
Quatsch! Die Baracke steht genau unter Äpfelchens Fenster, und Äpfelchen ist lärmempfindlich. Wenn einer nur ein bisschen hinterm Neubau johlt oder die Gummisohlen seiner Turnschuhe gegen die Kellerwand klatscht, weil das so herrlich knallt, tauchen oben schon die Schrumpelbäcklein mit der stahlgerahmten Brille auf und fangen an zu zetern. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn erst gehämmert würde und gesägt, so richtig zünftig, wie es sich gehört bei einem Stallbau!
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 158–161.
Erstpublikation: Jean Villain: Damals in Allenwinden. Roman. Berlin: Verlag der Nation, 1978. S. 46–50.